Der Referendumszirkus des Parlaments gastierte einen Abend lang in Diekirch

Ohne Begeisterung, ohne Leidenschaft

d'Lëtzebuerger Land du 22.05.2015

Aufgeregt springt eine kleine Frau vor dem Eingang des Kulturzentrums hin und her. Man solle sich bloß gut informieren, ruft sie. Den Leuten, die im Halbdunkel zum Parkplatz eilen, versucht sie, kleine Flugblätter in die Hand zu drücken. „Es wurde noch längst nicht alles gesagt!“, wirbt sie mit verschwörerischem Unterton für ihre Zettel. Doch nach zweieinhalb Stunden Diskussionen war den meisten zu viel gesagt worden. Sie wollen bloß noch nach Hause. „Nee zum Auslännerwahlrecht“ steht auf den lila Zetteln von ­Nee2015.lu.

Auch die Abgeordneten sind müde. Für manche war es die zweite oder dritte Podiumsdiskussion binnen weniger Tage. Sie haben noch eine lange Heimfahrt vor sich aus der nördlichsten der sechs Städte, in denen das Parlament Versammlungen zum Referendum organisiert. Außer LSAP-Vertreter ­Claude Haagen, dem lokalen Bürgermeister, stammt niemand von ihnen aus Diekirch. Sie tauschen noch rasch einige Eindrücke aus: Die Atmosphäre im Saal war doch gesittet, es waren mehr Leute gekommen als in Grevenmacher, was meinte der Kollege, als er sagte... Dann verabschieden sie sich. Manche überschwänglich, was den Umherstehenden nicht entgeht. Wusste das Volk doch schon immer, dass „die da oben“ sich öffentlich beschimpfen und privat zusammenhalten.

Und zu einer, wie es offiziell heißt, „Informa­tionsversammlung des Parlaments“ über das bevorstehende Referendum kommen vor allem die Skeptischen, die Miss­trauischen. Nicht nur die jungen Frauen, die wissbegierig zuhören, die Jugendlichen, die das ungewohnte Spektakel belustigt verfolgen. Auch die mürrischen Männer mit Haarkranz, Brille und Wohlstandsbauch. Sie haben sich zu Hause ihr Weltbild zusammengereimt und wollen es nun bestätigt bekommen.

Skepsis und Misstrauen sind auch angebracht. Denn das Koalitionsabkommen von DP, LSAP und Grünen hatte versprochen: „Au courant de l’année 2014 les partis de la coalition organiseront des forums-citoyens en vue d’un large débat sur les défis et les objectifs des changements et en vue d’une adhésion de la majorité des citoyens à la nouvelle Constitution.“ Nun wurden aus den Bürgerforen Informationsversammlungen, wo das Volk nicht debattieren, sondern sich belehren lassen soll.

So sitzen sich die Politiker und das Volk in der unwirtlich großen Industriehalle der alten Seeërei wieder einmal unversöhnlich gegenüber, die Abgeordneten leicht überhöht auf einer Bühne, die über 150 Zuhörer einen halben Meter tiefer als kompakter Block in sicherem Abstand. Dazwischen ein breites Niemandsland. Die Abendsonne dringt durch die zwei Reihen Fenster, die mit ihren romanischen Rundbögen eine Kirchenatmosphäre schaffen.

Die Älteren im Saal kennen den Verantwortlichen für Öffentlichkeitsarbeit des Parlaments, Maurice Molitor, noch als Fernsehstar der Neunzigerjahre. Im freundlich routiniertem Fernsehton begrüßt er das Publikum und erteilt den Abgeordneten das Wort. Sieben Minuten für jeden, wie bei den staatlich vorgeschriebenen Wahlkampfsendungen von RTL. Auch wenn bei dieser falschen Ausgewogenheit vier Redner für das Ja und zwei für das Nein werben. Weil die Regierungsmehrheit für das Ja und die Opposition für das Nein ist, hat das Parlament die Volksbefragung gekapert, um statt Bürgerforen Wahlkampf zu spielen.

Die Parteien haben nicht ihre Spitzenleute geschickt, nicht die bekannten Gesichter aus den Abendnachrichten, die erfahrenen Verfassungsrechtler, die geschickten Redner, die eine Atmosphäre im Saal schaffen können. Hätte die CSV nicht wegen des regionalen Proporzes die Norddeputierte Martine Hansen abkommandiert, säße wieder eine reine Männerrunde auf der Bühne. Lustlos spulen die meisten Redner die immer gleichen, nicht immer kohärenten Argumente ihrer Parteien zu den drei Referendumsfragen herunter. Sie erwähnen das Wahlalter und die Mandatsbegrenzung der Minister, aber sie wissen, dass es immer nur um das Ausländerwahlrecht geht.

LSAP-Präsident Claude Haagen will die Leute weniger mit ansteckender Begeisterung vom Ausländerwahlrecht überzeugen, als sie beruhigen: Er zählt die Einschränkungen bei der Gewährung des Rechts auf und verspricht, dass auf absehbare Zeit die qualifizierte Mehrheit im Parlament fehlen wird, um das passive Wahlrecht nachzuschießen. Die Parteikollegen im Publikum verschlafen ihren Einsatz, niemand applaudiert dem Bürgermeister am Tischende beim Heimspiel.

Auch DP-Generalsekretär Gilles Baum zählt die „drei Einschränkungen“ zum Ausländerwahlrecht auf, Aufenthaltsdauer, Beteiligung an Europa- oder Gemeindewahlen und Eintragung in die Wählerlisten. Für die DP sei es wichtig, das Bekenntnis zur Luxemburger Staatsbürgerschaft zu belohnen, deshalb seien deren Kriterien weniger streng als beim Wahlrecht. Er will den Ausländern das Wahlrecht zugestehen, weil sie, „was für mich ganz wichtig ist, zu unserem Wohlstand beitragen“.

Der grüne Abgeordnete Claude Adam rechnet vor, dass das Durchschnittsalter der Bevölkerung bei 39 Jahren, dasjenige der Wähler aber bei 52 Jahren liege. Derzeit sei ein Drittel der Wählerschaft älter als 60 Jahre und nur die Hälfte sei berufstätig, eine Änderung des Wahlsystems sei also unumgänglich. Stumm hören im Publikum mehr Rentner über 60 als Jugendliche zu.

Keiner der Vertreter der Regierungsmehrheit will die Leute im Saal dafür begeistern, dass die beim Referendum vorgeschlagenen Reformen das Tollste seit Menschengedenken sein werden. Sie wollen sie bloß beruhigen, dass es keinen Grund gibt, sich zu fürchten. Die unterschwellige Botschaft lautet parteiübergreifend: Auch am 8. Juni wird, Ausländerwahlrecht hin oder her, die Kirche im Dorf bleiben.

Serge Urbany von déi Lénk ist der Oppositionsabgeordnete, der auf der Seite der liberalen Regierungsmehrheit steht. Auch er beruhigt: Ein Teil der Leute, die hier lebten und arbeiteten, sollten ein politisches Recht erhalten, niemand soll eines weggenommen bekommen. Durch das Ausländerwahlrecht fänden die Lohnabhängigen der Privatwirtschaft wieder mehr Gehör bei Wahlen. Man müsse aufhören, Nation und demokratische Rechte ständig zu vermischen; es sei auch illusorisch, das demokratische Defizit durch massenweise Naturalisierungen beseitigen zu wollen.

Die rechten Abgeordneten Martine Hansen und Fernand Kartheiser sind mit ihrem Nein zu den Referendumsfragen in der Minderheit am Rednertisch. Aber sie schöpfen das nötige Selbstbevertrauen aus der heimlichen Überzeugung, dass die Mehrheit der Zuhörer im Saal auf ihrer Seite sei. Die ehemalige CSV-Ministerin führt noch einmal die Verrenkungen ihrer Partei vor, die in der Regierung die Naturalisierung erschwert hatte. Zum Ausländerwahlrecht werde „eine ganz gefährliche Frage“ gestellt, weil sie reduzierend sei, warnt Martine Hansen. Die CSV habe deshalb einen Gesetzesvorschlag zur Vereinfachung der Naturalisierung gemacht.

So ist der sechsstimmige Vortrag von zwei Meinungen nicht einmal eine Podiumsdiskussion. Die Abgeordneten ignorieren sich eher manierlich, als dass sie untereinander diskutierten. Der ADR-Abgeordnete Fernand Kartheiser ist der einzige Redner, der auf gefühlsselig macht. Sollte das Ausländerwahlrecht eingeführt werden, fragt er sich, wer bestimmen werde, was die Luxemburger Nation in Zukunft sein werde. Luxemburg habe kein demokratisches Defizit, denn Ausländer könnten hierzulande an Gemeinde-, Sozial- und Europa- sowie in ihren Herkunftsländern an Legislativwahlen teilnehmen. Die anderen Abgeordneten schütteln den Kopf oder lächeln säuerlich, aber niemand widerspricht ihm.

Aber auch Fernand Kartheiser gelingt es nicht, den Saal auf seine Seite zu ziehen. Die Zuhörer bleiben zurückhaltend. Nur ein Dutzend meldet sich zu Wort, nicht um Fragen zu stellen, wie von den Veranstaltern vorgesehen, sondern um Antworten zu geben. Darunter auch einige incognito im Saal verteilte Parteimilitanten.

Einige Redner aus dem Publikum haben, wie die Abgeordneten auf der Bühne, ihre Stellungnahmen vorbereitet und lesen sie mit zitternden Händen vor. Viele können sich nicht vorstellen, dass das legislative Wahlrecht von der Nation, der Identität, der Heimat, der Sprache gelöst werden kann. Während ein Mann mit einem Funkmikrofon an eine Säule gelehnt steht und die Debatte auf Französisch dolmetscht. Die drahtlosen Kopfhörer stehen ungenutzt auf dem Tisch.

Statt vom Wahlrecht geht gleich von der Nation und dann von der Sprache die Rede. Ein Gemeindebeamter erzählt, dass auch Luxemburger Eltern bei der Schulbehörde anriefen, um zu fragen, wo ihre Kinder in der Grundschule Englisch lernen könnten. Ein Arzt erzählt, wie oft im Krankenhaus ein Dolmetscher beansprucht werden muss.

Dagegen schlägt eine junge Frau pragmatisch vor, man solle doch jene wählen lassen, die Interesse daran haben. Eine andere, mit einer Sonnenbrille im Haar, radebrecht auf Luxemburgisch, dass sie als Amerikanerin seit zwei Jahren in Luxemburg lebe, es ihr großartig gefalle und sie ganz gut ohne Wahlrecht auskomme.

Ein Mann erinnert schlau daran, dass das Panaschieren von der Rechtspartei zu ihrem eigenen Vorteil eingeführt worden sei. Ein Studienrat beschwichtigt, dass für einen Sechzehnjährigen seinen späteren Beruf auszuwählen, eine weit schwierigere und folgenreichere Entscheidung sei als einige Abgeordnete zu wählen.

Nur ein Mann in einer Sportweste lässt sich von einem der jungen Parlamentsbeamten ein Mikrofon reichen, um sich zu ereifern, dass die Einführung des Ausländerwahlrechts für ihn Verrat sei, Verrat am Luxemburger Volk, an jenen, die im Krieg ihr Leben für die Freiheit geopfert hätten, Verrat, Verrat! Doch niemand applaudiert den stramm rechten Tönen, eine Frau kichert über den peinlichen Augenblick hinweg.

Die Angstmacher, die prophezeit hatten, dass eine Diskussion über das Ausländerwahlrecht die Gesellschaft spalten und in Tumulten ausarten würde, hatten sich getäuscht. Die Befürworter sind ohne Begeisterung, die Gegner ohne Leidenschaft.

Romain Hilgert
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