Volksbefragung am 10. Juli

Noch eine Meinungsumfrage

d'Lëtzebuerger Land vom 24.02.2005

Als der Staatsminister am 22. Februar dem Staatsrat den Gesetzentwurf über die Organisation eines Referendums mit der Bitte um baldige Stellungnahme zugestellt hatte, lasen die Räte den kurzen Text durch und begannen ihr Gutachtens erst einmal mit einem Zweifel: "À première vue, on est tenté de penser qu'un problème aussi complexe et aussi ardu [...] échappe à la compétence des masses populaires." Dabei war es der 22. Februar 1919, und das Volks sollte lediglich befragt werden, ob es lieber eine Wirtschaftsunion mit Frankreich oder mit Belgien wollte. Der Gesetzentwurf 5542 portant approbation du Traité établissant une Constitution pour l'Europe, des Protocoles annexés au Traité établissant une Constitution pour l'Europe, des Annexes I et Il et de l'Acte final, signés à Rome, le 29 octobre 2004, über den es im Jahr 2005 befinden soll, ist dagegen ein juristisch vertrackter Text von 539 Seiten. Selbst der LSAP-Präsident und Anwalt Alex Bodry gestand freimütig ein, dass er den Verfassungsvertrag nicht ganz gelesen hat. Dass am 10. Juli die Wahlberechtigten für oder gegen einen Text entscheiden sollen, den nicht einmal ein Prozent ganz gelesen haben wird, gehört zu den Merkwürdigkeiten dieses Referendums, das Gefahr läuft, zu einer langen Serie von Fehlleistungen zu werden. Erst versprachen Regierung und Opposition fast unisono, die EU-Ausländer an der Volksbefragung zu beteiligen, doch das Gegenteil wird der Fall sein. Dann blamierte sich der Großherzog mit seiner Ankündigung, seine Stimme abzugeben, was er nicht tun wird. Und auch der zur Organisation des Referendums notwendige Gesetzentwurf, den die Regierung am 28. Januar verabschiedete, droht, zu einer weiteren Fehlleistung zu werden - so als würden Regierung und Parlament nur nach außen das Referendum begrüßen, in ihrem Unterbewussten aber alles tun, um es zu vereiteln und so keinen Zipfel ihrer Macht an den Volkssouverän abtreten zu müssen. Auf den ersten Blick regelt der Gesetzentwurf in wenigen Zeilen die Volksbefragung nach denselben Prinzipien wie die Referenden von 1919 und 1937. Nur dass erstmals die Stimmzettel nicht bloß zwei-, sondern dreisprachig sein sollen, eine Folge des Sprachengesetzes von 1984. Die Frage, die den Wählern unterbreitet werden soll, lautet: „Êtes-vous pour le Traité établissant une Constitution pour l'Europe, signé à Rome le 29 octobre 2004 ? Stëmmt Dir fir den Traité iwwert eng Konstitutioun fir Europa, ënnerschriwwen zu Roum, den 29. Oktober 2004? Stimmen Sie für den Vertrag über eine Verfassung für Europa, unterzeichnet in Rom, am 29. Oktober 2004?" Dass die Sätze etwas holprig klingen, die aus dem Französischen übernommenen Partizipwendungen im Luxemburgischen und Deutschen unüblich sind, und "Êtes-vous pour..." auf Deutsch nicht "Stimmen Sie für den Vertrag", sondern "Stimmen Sie dem Vertrag zu" bedeutet, unterscheidet den Text nicht von anderen Gesetzen. Ähnliches gilt dafür, dass der erste Artikel kommentierend statt normend und der vierte Artikel sich auf Artikel 89 des Wahlgesetzes über den Wahlzwang beruft und dann tautologisch den Wahlzwang dekretiert. Erstaunlicher ist es schon, dass es den Autoren des 24 Zeilen kurzen Textes nicht einmal gelingt, das zum Gesetz gehörende Modell des Stimmzettels fehlerfrei aus dem vor vier Wochen vom Parlament verabschiedeten Gesetz über landesweite Volksbefragungen zu kopieren. Denn dort sieht nämlich Artikel 28 vor, dass die Ja-Kreuzchen rechts, die Nein-Kreuzchen links von der Frage gemalt werden sollen - im Gesetzentwurf für den 10. Juli stehen sie umgekehrt... Auffallend am Gesetzentwurf der Regierung ist aber vor allem, dass er den wichtigsten Aspekt des Referendums nicht klärt und nicht einmal erwähnt: Welche Rechtskraft wird sein Ergebnis haben? Dürfen die Wähler entscheiden oder dürfen sie bloß das Parlament beraten? Justizminister Luc Frieden hatte bei der Debatte des Gesetzentwurfs über landesweite Volksbefragungen am 20. Januar vor dem Parlament gemeint, dass Referenden dieser Art für die Regierung nur beratenden Charakter haben könnten, weil die Verfassung die Gesetzgebung zum Monopol von Parlament und Großherzog mache. Aber gleichzeitig musste er einräumen, dass andere Redner  "die Doktrin für nicht ganz eindeutig hielten", es gäbe "eine ganze Reihe Verfassungsrechtler, die in dieser Frage keine klare Meinung" hätten. Und im Gegensatz zur aktuellen Regierung und Parlamentsmehrheit nannten die Väter von Verfassungsartikel 52 - die parlamentarische Zentralsektion in ihrem Gutachten zum Wirtschaftsreferendum von 1919 - Volksbefragungen ein Mittel der "direkten Gesetzgebung durch die Wählerschaft", sie schienen also deutlich etwas anderes als beratende Umfragen beabsichtigt zu haben. Die verfassungsrechtliche Lage ist also weniger eindeutig, als die Regierung sie darstellen möchte. Und es kann nun einmal ziemlich lächerlich aussehen, wenn einerseits Wahlzwang zu einer Stimmabgabe herrscht, deren Rechtskraft aber andererseits nicht diejenige einer der zahllosen ILReS-Meinungsumfragen übersteigt. Da auch das am 20. Januar gestimmte, aber noch nicht in Kraft getretene Gesetz über Volksbefragungen die Schlüsselfrage nach ihrer Rechtskraft diskret ausspart und Verfassungsartikel 52 unverbindlich von "se prononcer" schreibt, hätte man zumindest erwarten können, dass der Gesetzentwurf zum 10. Juli nicht nur bekräftigt, dass Wahlzwang herrscht, sondern auch klarstellt, wie bindend das Ergebnis der Volksbefragung sein wird. Es sei denn, zu diesem Konzept der Demokratie mit gebremstem Schaum gehörte, dass Verfassung, Volksbefragungsgesetz und der Gesetzentwurf zum 10. Juli die Verbindlichkeit der Abstimmung offen ließen, damit die Regierung nachträglich darüber entscheiden kann, je nachdem, wie das Ergebnis ausgefallen ist. Aus diesem Grund ist die vorgesehene Prozedur, auf die sich CSV und LSAP im Laufe der Koalitionsverhandlungen geeinigt hatten, leicht unübersichtlich: Zuerst soll das Parlament im Frühling über den Vertrag abstimmen. Zu diesem Zweck verabschiedete die Regierung am 28. Januar zeitgleich mit dem Gesetz über das Referendum den Gesetzentwurf 5442 zur Ratifizierung des Vertrags. Nach der Abstimmung über den Vertragsentwurf in erster Lesung soll das Parlament eine Entschließung annehmen, laut der es das Ergebnis des Referendums zu beachten verspricht. Ehe es den Gesetzentwurf dann nach drei Monaten in zweiter Lesung stimmt, sollen sich die Wahlberechtigten dann am 10. Juli in einem Referendum über den Verfassungsvertrag aussprechen, politisch gewichtig, aber nicht rechtskräftig. Befürwortet eine Wählermehrheit den Verfassungsvertrag, tritt er in Kraft, wenn er im Herbst in zweiter Lesung vom Parlament angenommen, vom Großherzog unterschrieben und im Memorial veröffentlicht wird - sowie auch von all den anderen EU-Staaten in einer mehrjährigen Prozedur ratifiziert wird. Übergangsbestimmungen verfügen darüber hinaus, dass die neue Stimmengewichtung erst 2009 und die neue Zusammensetzung der Kommission erst 2014 wirksam werden. Die Ablehnung in einem einzigen Mitgliedstaat genügt, um das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags zu verhindern. Spricht sich hierzulande wider Erwarten eine Wählermehrheit gegen den Verfassungsvertrag aus, haben CSV und LSAP bereits eine Regierungskrise, möglicherweise sogar vorgezogene Parlamentswahlen in Aussicht gestellt. Dass erst die Kammer und dann das Volk befragt wird, ist offiziell darauf zurückzuführen, dass die Verfassung dem Parlament und nicht dem Volkssouverän die Gesetzgebung und die Ratifizierung internationaler Abkommen einschließlich der zeitweiligen Abtretung von Hoheitsrechten überantwortet. Inoffiziell soll durch diese Verfahrensweise das ADR gezwungen werden, bereits vor der Volksbefragung im Parlament Farbe zu bekennen, damit es ihm schwerer fällt, nationalistische Stimmung gegen den Verfassungsvertrag zu machen. Aus ganz anderen und doch gleichen Ursachen fand auch das Maulkorbreferendum 1937 erst statt, nachdem die Kammer das Gesetz zur Verbietung der Kommunistischen Partei mit 34 gegen 19 Stimmen angenommen hatte. Artikel drei des Gesetzentwurfs verfügt, dass nur die in den Wählerlisten eingetragenen Luxemburger stimmberechtigt sind, Landesbewohner mit anderen Pässen also ausgeschlossen bleiben. Trotz anders lautender Versprechen hatte die Regierung dies bekanntlich mit Hilfe eines Gutachtens des Staatsrats erst vor einem Monat herausgefunden, als es zu spät schien, um andere Wählerlisten heranzuziehen. Wie bei den Europawahlen soll das ganze Land aus einem einzigen Wahlbezirk mit dem Bezirkshauptort Luxemburg und dem Hauptwahlbüro der Stadt Luxemburg als Hauptwahlbüro bestehen. Die Wähler müssen bis zum 5. Juli ein Einberufungsschreiben ihrer Gemeinde erhalten mit den notwendigen Angaben, in welchem Büro und zu welchen Uhrzeiten sie wählen müssen. Bis zum 25. Juni müssen die Gemeinden ihren Einwohnern mitgeteilt haben, wo und zu welchen Uhrzeiten sie den vollständigen Text des Verfassungsvertrags einsehen können. Regierung und Parlament beabsichtigen lediglich, eine mehrsprachige Zusammenfassung  des Textes an alle Haushalte zu verteilen, doch skeptische Wähler dürften befürchten, dass kritische Punkte in dieser Zusammenfassung vergessen werden. Zum Referendum herrscht Wahlzwang nach den Artikeln 89 und 90 des Wahlgesetzes von 2003. Das heißt, dass der Wahlzwang bis 75 Jahre gilt und seine Missachtung mit Geldbußen bis 250 Euro beziehungsweise 1000 Euro im Wiederholungsfall geahndet werden kann. Wie bei den Parlamentswahlen ist die Briefwahl zulässig, sie muss zwischen dem 1. Mai und dem 10. Juni beantragt werden. Um die Termine der Briefwahl zu respektieren, muss das Parlament die beiden Gesetzentwürfe über den Verfassungsvertrag und die Volksbefragung also möglicherweise früher verabschieden, als ursprünglich geplant. So dass Staatsrat, Kammer und Berufskammern bestenfalls neun Wochen bleiben, um den riesigen Vertragstext seiner Wichtigkeit angemessen zu begutachten. Ein Unterfangen, das bereits bei der Ratifizierung des Maastrichter Vertrags gründlich gescheitert war.

Romain Hilgert
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