Öffentliche Bibliotheken

Das Paradies als Bibliothek

d'Lëtzebuerger Land vom 13.12.2001

"Und ich stellte mir das Paradies als eine Bibliothek vor"

(Jorge Luis Borges)

Die Stadtbibliothek von Esch/Alzette (Bibliothèque de la Ville) ist die älteste hiesige noch bestehende öffentliche Bibliothek unter kommunaler Trägerschaft und trägt diesen Titel seit 1919. Sie hat im Laufe ihrer langen Geschichte bereits mehrmals eine Vorreiterfunktion übernommen. Sie war die erste Bibliothek Luxemburgs, die Anfang der Sechzigerjahre eine Diskothek aufbaute; später die erste Bibliothek mit einem Audio-CD- sowie CD-Rom-Bestand. Esch unterhielt auch als erste Bibliothek seit Ende der Achtzigerjahre einen separaten Kinder- und Jugendbereich (man bedenke, dass Jugendliche unter 14 Jahren lange Zeit nicht als Benutzer zugelassen waren).

 

Schaffung einer Volksbibliothek

 

Es war im Jahre 1892, als das Unterrichtsministerium dem Ort Esch/Alzette eine Sammlung von insgesamt 43 Bänden unter dem Titel Des Landmannes Winterabende zur Verfügung stellte, die, für die Knaben der Oberprimärschule bestimmt, dort selbst untergebracht wurde. Als die Oberprimärschule dann 1901 in der Industrie- und Handelsschule aufging, nahm sich ihrer der Lehrer J.P. Theisen an. Theisen, die Schaffung einer Volksbibliothek vor Augen, war seinerseits bemüht, den Bestand von mittlerweise 158 Bänden um weitere lehrreiche und sogleich unterhaltende Literatur aufzustocken. Dieser Grundstock sollte fortan auch den Eltern der Schüler zur Verfügung gestellt werden. Dank weiterer Spenden war der Bestand im Jahre 1909 auf etwa 800 Bände angewachsen und zählte bereits 339 eingeschriebene Personen zu seiner Leserschaft. 1905 war Theisen erstmals ein jährliches Subsidium von der Gemeindeverwaltung zur Verfügung gestellt worden (mit Ausnahme von 1915 bis 1917), und 1911 erschien der erste Catalog der Volksbibliothek von Esch/Alz. 1918 sprach sich der Gemeinderat für die Ernennung einer Kommission zur Beschaffung von Fachliteratur aus, die sich aus nicht weniger als neun Vertretern zusammensetzte; nämlich Volksbildungsverein, sozialistischer Verein, Freidenkerbund, Handwerker- und Geschäftsverband, katholischer Arbeiterverband, Metall- und Bergarbeiterverband, Hüttengesellschaften, Beamte und dem Bibliothekar. Damit war die Bibliothek offiziell als Stadtbibliothek anerkannt.

Als besonders erwähnenswert im Zusammenhang mit dem Entwicklungsbeginn sowie dem weiteren Ausbau der Escher Stadtbibliothek gelten die Bemühungen, die von Seiten des Escher Volksbildungsvereins (gegr. 1909) hervorgebracht wurden. Der Volksbildungsverein unterhielt neben der Organisierung von Vortragsreihen auch eine eigene Bibliothek, die er jedoch weniger als Konkurrenz denn als notwendige Ergänzung der Bildungsstätte Bibliothek verstand.

Theisen, der sich anfangs in seiner eigentlichen Funktion als Lehrer nur nebenamtlich mit der Verwaltung der Bibliothek befasst hatte, stand seit seiner Demission im Jahre 1919 den Lesern nun während 32 Stunden pro Woche zur Verfügung. Mit den Zwanzigerjahren begann für die Bibliothek eine ungeahnte Blütezeit, die sich im Einklang mit dem beständigen Anwachsen des Bestandes an einem ebensolchen Ansteigen der Leserschaft sowie der ausgeliehenen Werke bemerkbar machte. Die Benutzung der Bibliothek war zunächst kostenfrei (Ausländer mussten hingegen eine Kaution zahlen). Nebst französischer und englischer Literatur wurden 1925 auf Wunsch der italienischen Bevölkerung auch die ersten Bände in italienischer Sprache angeschafft. Dieser Aufwärtstrend, was die Leser- und Ausleihzahlen anbelangt, wurde erst mit der Sichtung und Neuordnung des Bestandes während der deutschen Besatzung in Luxemburg gebrochen. Diese Säuberung hatte zu einem großen Bestandsverlust und einem enormen Benutzerschwund geführt; dies obwohl im August 1940 die Bibliothek des Volksbildungsvereins (mit etwa 13 000 Bänden), in der Hoffnung den Klauen der Nazis zu entkommen, der Stadtbibliothek geschenkt worden war. 

Nach der Wiedereröffnung am 18.09.1946 und der Entfernung nationalsozialistischer Propagandaliteratur versuchte man, die verlorengegangene Zeit wieder wettzumachen, und bereits 1950 schien der Vorkriegsleserstand wieder erreicht. Weitere Neuerungen waren ab 1953 ein jährlicher Katalog der Neuanschaffungen und ab 1954 der Aufbau eines Zettelkatalogs.

Die Stadtbibliothek befindet sich seit 1946 in den Räumlichkeiten der ehemaligen Villa Deitz (rue Emile Mayrisch), welche 1961 von der Stadtverwaltung erworben wurde und noch im selben Jahr eine bauliche Vergrößerung und Modernisierung erfuhr. Zuvor hatte die Bibliothek lediglich das Erdgeschoss für sich in Anspruch nehmen können. 

Erwähnenswert und für damalige Verhältnisse keineswegs unüblich ist die Tatsache, dass Esch bis zum Jahre 1980 eine so genannte Schalterbibliothek war, d.h. lediglich die Periodika und die nicht ausleihbaren Nachschlagewerke im gesonderten Lesesaal waren für die Benutzer direkt zugänglich. Die Auswahl der Bücher erfolgte also fast ausschließlich über den sich ebenfalls im Lesesaal befindlichen Zettelkatalog.

In den Bibliotheken und Archiven dieser Welt haben in den letzten Jahrzehnten stille, aber tiefgreifende Veränderungen stattgefunden. Spätestens aber seit dem Aufkommen immer neuerer Medienformen und mit dem Anbruch des Computerzeitalters sahen viele die weitere Existenz von Büchern (und damit auch der Bibliotheken) als gefährdet. Heute weiß man, dass genau das Gegenteil eingetroffen ist. Es werden weltweit mehr Bücher gedruckt und verkauft als jemals zuvor, was aber nicht unbedingt gleichzeitigzu einer Qualitätssteigerung dieser klassischen Medienverbreitungsform geführt hat, denn die dahinter stehenden Interessen sind als vor allem marktwirtschaftlicher Natur anzusehen. Daneben gibt es heute eine Anzahl neuerer Publikations- und Verbreitungsformen (Internet, CD-Rom, Hörbücher...), die ebenfalls in den letzten Jahren eine beständig wachsende Verbreitung erfahren haben. Diese nie zuvor gekannte Informationsflut macht dem Durchschnittsverbraucher eine kritische Auseinandersetzung und Verarbeitung nahezu unmöglich; vor allem wenn es sich, wie am Beispiel Internet, um sehr kurzlebige Informationen handelt, deren Inhalte dem Interessenten zudem meist völlig unfiltriert entgegengebracht werden und deshalb häufig von einer sehr zweifelhaften Qualität sind. Das Medium Buch genießt als Wissensvermittler und Kulturanbieter in unserer Gesellschaft immer noch ein primäres Ansehen, auch wenn die momentane Marktentwicklung ein verstärktes Nebeneinander zwischen Buch und Elektronik (gemeint sind etwa CD-Roms und Internet) und damit neue Tendenzen erkennen lassen.

 

Angebot und Nachfrage

 

Aus den anfänglichen Befürchtungen gegenüber der Computerentwicklung wurde ein nicht mehrwegzudenkendes Arbeitsinstrument auch innerhalb der Bibliotheken. Statt die Bücher zu verdrängen, bietet der Computer den Benutzern einen weiteren und in vieler Hinsicht leichteren und schnelleren Zugriff, etwa von zuhause zu den Bibliotheken dieser Welt und den dort vorhandenen Medien, und wurde sogar selbst Gegenstand unzähliger Bücher und Zeitschriften.

Der einzelne Benutzer wird dabei, anders als früher, in seinen individuellen Lesebedürfnissen und Vorlieben längst nicht mehr bevormundet, sondern als Kunde ernstgenommen. Er ist sozusagen mündig geworden. Er trifft seine Auswahl direkt am Regal oder am Computer zuhause oder in der Bibliothek; er darf Anschaffungsvorschläge machen und diktiert in nicht geringer Weise die Anschaffungspolitik und das beständige Angebot der Bibliothek mit. Der Bibliotheksangestellte ist dabei bemüht, seinen Literaturwünschen zu entsprechen oder einer verstärkten Nachfrage nachzukommen oder aber ihn bei einer weiterführenden Recherche zumindest zu beraten und weiterzuvermitteln. Dabei wird es für eine Bibliothek in Anbetracht der sich ständig steigenden Informations- und Publikationsmasse, einer möglichst sinnvollen Anschaffungs- und Bestandspolitik und mit Rücksicht auf die jährlichen Ressourcen immer schwieriger, die richtige Auswahl zu treffen. Viele Bibliotheken sind dabei einem ständigen inneren Konflikt ausgesetzt zwischen dem, was momentan gefragt ist, und dem, was man als öffentliche Bibliothek unbedingt in seinem Bestand im Angebot haben sollte.

 

Aufbruchstimmung

 

Die Bibliotheken sind bei diesen vielfachen Bemühungen natürlich nicht allein; so gibt es hierzulande etwa einen uneigennützigen Leseförderverein mit Namen Freed um Liesen, der sich aktiv um Veranstaltungen bemüht, die in Verbindung mit Leseförderung stehen; etwa durch Mitwirkung am weltweiten Tag des Buches. Aber auch anderswo lassen sich Bemühungen erkennen. Das Syndicat d'Initiative in Esch/Alzette hatte in diesem Jahr erstmalig zu einem Lies- a Bicherfestival aufgerufen, an dem sich auch die Stadtbibliothek beteiligt hatte. Gerade die öffentliche Bibliothek übernimmt in diesem Zusammenhang nach wie vor eine ebenso wichtige wie ernstzunehmende gesellschaftliche Funktion, die leider, was das allgemeine politische wie öffentliche Interesse hierzulande anbelangt, allzu oft übersehen wird. 

In Esch/Alzette ist man seit einiger Zeit bemüht, die verschieden Kulturangebote und bestehenden Kulturinstitutionen der Stadt, wie etwa die Stadtbibliothek (!), das Théâtre municipal, das Conservatoire de musique sowie die Kulturfabrik stärker aneinander zu binden. Dies unterstrich etwa der Wunsch der Kulturkommission beim diesjährigen Festival culturel der Stadt, auch die Stadtbibliothek in das kulturelle Angebot während dieses Festivals mit zu integrieren. Derselbe Gedanke steckt auch hinter der gemeinsamen Realisierung einer Kulturagenda, wobei erstmals sämtliche bestehende Kulturinstitutionen nebeneinander gestellt werden und somit eine engere Zusammenarbeit möglich gemacht wird.

Die Escher Stadtbibliothek arbeitet bereits seit Jahren mit der Escher Schulkommission zusammen, was die Organisation von Lesungen für Schulklassen in Zusammenhang mit einer kleinen Bibliotheksführung betrifft. Natürlich steht die Bibliothek dabei auch Klassen des Préscolaire und Primaire anderer Gemeinden auf Anfrage zur Verfügung. Darüber hinaus organisiert die Stadtbibliothek in Zusammenarbeit mit der Commission Culturelle, der Commission de Surveillance der Bibliothek sowie dem Lëtzebuerger Schrëftstellerverband (LSV) wieder eine Serie von Leseabenden luxemburgischer Autoren in der Bibliothek. Auch gibt es seit kurzem wieder ein gegenseitig bekundetes Interesse an einer engeren Zusammenarbeit mit anderen öffentlichen Bibliotheken unter kommunaler Trägerschaft, etwa mit den Stadtbibliothen in Differdingen und Düdelingen (auch anderweitige Modelle sind möglich).

Bibliotheken können auch weiterhin erheblich zur Persönlichkeits- und Meinungsbildung eines Menschen sowie dem momentan vielerorts in den Medien geäußerten Bedürfnis nach mehr Allgemeinbildung beitragen und gleichzeitig dem allgemein beklagten gesellschaftlichen Problem der Halbbildung entgegenwirken. Ihnen kommt außerdem eine starke soziale sowie integrierende Funktion sämtlicher Altersklassen und Bildungsstufen zu, die in Zukunft noch stärker ausgebaut werden sollte; etwa durch das Angebot kultureller (nicht nur literarischer) Veranstaltungen oder in Form eines literarischen Cafés oder eines Internettreffs. Leider hat man bisher gerade die letztgenannte Möglichkeit bei der bisherigen Gestaltung von E-Lëtzebuerg völlig übersehen, als man sich dazu entschloss, innerhalb der Gemeinden mit staatlicher Unterstützung Internetstuffen zu errichten, die man ebenso gut in bestehenden bibliothekarischen Einrichtungen hätte integrieren können.

 

Marketingansatz

 

Natürlich fordern all diese Ideen und Ansätze ein sowohl kurz- als auch längerfristig verstärktes, persönliches Engagement aller Beteiligten, die oftmals im Gegensatz zu der vorhandenen Personalsituation in den Bibliotheken steht. Dazu kommt eine ernsthaft betriebene Öffentlichkeitsarbeit. Auch die Stadtbibliothek in Esch betreibt eine solche und verfügt seit kurzem über ein speziell dafür vorgesehenes Budget. So erscheinen etwa in regelmäßigen Abständen Werbeanzeigen in verschiedenen Zeitungen und Literaturbeilagen. Dazu kommen die Einführung eines neuen Bibliothekssigels, die Herstellung von Plakaten, Benutzerprospekten sowie die Versendung von Einladungen zu den verschiedenen Veranstaltungen in eigener Sache. Diese Überlegungen beinhalten ganz klar Ansätze eines Marketingkonzepts und lassen zudem erkennen, dass heutzutage auch öffentliche Bibliotheken sich zuvor über ihre Corporate Identity im Klaren sein sollten.

Die Verzeichnung eines anderweitig positiven Ansatzes ist der Beginn vieler Bibliotheken unabhängig ihrer Größe und ihrer primären Funktion, etwa Schulbibliotheken nebst öffentlicher Bibliotheken unter kommunaler Trägerschaft, durch ein gemeinsam genutztes Katalogsystem (nationaler Katalog, der auf gemeinsamer Katalogiesierungsgrundlage basiert) enger zusammenzuwachsen.

Ein Problem ganz anderer Art könnte sich in naher Zukunft durch eine verschärfte Anwendung des neuen Urhebergesetzes (droit d'auteur) für die Bibliotheken stellen. Dieses spricht den Autoren von Urheberwerken das Exklusivrecht bei der Weitervermietung oder dem Verleih ihrer Werke zu und wurde bisher mit Rücksicht auf die allgemeine Zugänglichkeit der Informationen oder als Kompromisslösung gegenüber öffentlich zugänglichen Bibliotheken nicht auf den zeitlich begrenzten Verleih in letzteren ausgeweitet.

 

Ausblick

 

Trotz vieler als positiv zu wertenden Ansätzen ist man hierzulande aber noch meilenweit von idealen Verhältnissen entfernt. Dies zeigt sich nicht zuletzt sehr deutlich in der bereits seit Jahren geführten Diskussion um die Weiterentwicklung der Nationalbibliothek oder in einem direkten Vergleich mit dem benachbarten Ausland. Die nationale Bibliotheksentwicklung wird auch weiterhin auf die volle moralische, professionelle sowie finanzielle Unterstützung ihrer meist öffentlichen Träger angewiesen sein und eine längerfristige gegenseitige Dialogbereitschaft zwischen Verantwortungs- und Entscheidungsträgern erfordern um etwas an eben diesen Verhältnissen ändern zu können. 

Der Unterhalt einer öffentlichen Bibliothek stellt dabei heute ohne Zweifel eine nicht geringe finanzielle Herausforderung dar, die vor allem kleinere sich mit dem Gedanken einer Bibliotheksgründung befassende Gemeinden, in Anbetracht eines immer breiteren Aufgabenfeldes und den damit in Verbindung stehenden Anforderungen, völlig überfordern könnte. Der Verantwortung der Weiterentwicklung und des Ausbaus öffentlich zugänglicher Bibliotheken sollten sich deshalb keineswegs nur kommunale Träger stellen dürfen. Vorstellbar wäre in diesem Zusammenhang etwa die Schaffung einer staatlich organisierten Büchereistelle (nach deutschem Modell) mit Beratungs- und Unterstützungsfunktion, die sowohl beim Aufbau als auch beim Ausbau bereits vorhandener Strukturen behilflich sein könnte. Ein erster aber entscheidender Schritt auf diesem Weg wird die Erhebung einer Bestandsaufnahme der bestehenden Bibliotheken sowie die Erstellung eines nationalen Positionspapiers für öffentliche Bibliotheken sein, der bereits von Mitgliedern des nationalen Berufsverbandes Albad (Association luxembourgeoise des bibliothécaires, archivistes et documentalistes) in Angriff genommen wurde.

 

 

 

Henri Lutgen
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