Referendum und Innenpolitik

Baustelle Regierungspolitik

d'Lëtzebuerger Land vom 09.06.2005

Zur Beruhigung misstrauischer Wähler verabschiedete das Parlament am Mittwoch einstimmig einen Entschließungsantrag, in dem es sich verpflichtete, den Verfassungsvertrag nicht zu ratifizieren, wenn die Wähler ihn beim Referendum am 10. Juli ablehnen. Die Abgeordneten nutzten die Gelegenheit, um sich einmal kurz selbst Angst zu machen: Was geschähe, wenn der Verfassungsvertrag tatsächlich abgelehnt würde - Regierungskrise, Rücktritte, Neuwahlen? Premierminister Jean-Claude Juncker hatte bereits letzte Woche tapfer das Seine zur allgemeinen Verwirrung beigetragen. Trotz überfüllten Terminkalenders des Ratsvorsitzes hatte er zwei Tage lang dem heimischen Publikum angestrengt zu erklären versuchte, was er an der Spitze der Regierung tun oder lassen würde, wenn der Vertrag scheiterte. Die Wähler dürften vor allem zurückbehalten haben, dass sie nicht als einzige  ziemlich verwirrt sind. Nach den Referenden in Frankreich und den Niederlagen liegen bei allen Politikern, die ihr Schicksal an dasjenige des Verfassungsvertrags geknüpft haben, die Nerven blank. Und die gestern – laut Wahlgesetz letzter zulässiger Termin vor dem Wahlgang – veröffentlichte Meinungsumfrage von ILReS für RTL trägt nichts dazu bei, sie zu beruhigen. Trotzdem sieht es noch immer so aus, als ob eine, wenn auch immer knappere, Mehrheit der Wähler den Verfassungsvertrag gutheißen werden. Und der Terminplan für die Zeit danach steht bereits fest – wenn der Vertrag, wie vorgesehen, gestimmt wird. Nach eigenen Aussagen hatte der Staatsminister seine Minister vor 14 Tagen angewiesen, sich die Woche vom 10. bis 15. Juli frei zu halten. Denn dann soll sich die Regierung auf Schloss Senningen zurückziehen, um „Bilanz zu ziehen“ und ihre Politik „der nächsten zwei, drei Jahre“ festzulegen. Dann sind die Eingewöhnungsphase nach der Regierungsbildung, der europäische Ratsvorsitz und das Referendum vorüber, dann können endlich die Weichen gestellt werden, wie ab Oktober regiert werden soll. Übergeordnetes Ziel ist die Senkung der Produktionskosten der Betriebe zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts. Nach dem Scheitern der im März 2000 beschlossenen Lissabon-Agenda wurden im März dieses Jahres die Ziele zurückgesteckt und vor allem auf die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit konzentriert. Um die einzelnen Staaten zu mobilisieren, muss jeder ein nationales Reformprogramm für drei Jahre beschließen. Der Luxemburger Plan soll bis Oktober aufgestellt sein und dann spätestens im November nach Brüssel geschickt werden. Um die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit dieser Ziele zu überzeugen und die Sozialpartner in Bewegung zu setzen, hatte die Regierung auf die seit Gérard Calot und Jean Gandois bewährte Wunderwaffe des ausländischen Experten zurückzugreifen versucht. Der Bericht von Lionel Fontagné sorgte zwar vorübergehend für eine angeregte Diskussion und schriftliche Stellungnahmen verschiedener Tripartitepartner, aber die erhoffte Initialzündung scheint schon wieder zu verpuffen. Deshalb will Premier Juncker nach dem Referendum nächsten Monat Unternehmer und vor allem Gewerkschafter einzeln ins Gebet nehmen, um sie zu Zugeständnissen in Richtung eines Tripartitekompromisses zu drängen. Die Regierung versucht, sich dabei politisch bequem in der Mitte einzurichten: zwischen Unternehmern, die laut Juncker angesichts der wirtschaftlichen Lage Panik schürten, und Gewerkschaftern, die alle Probleme leugneten. Aber auch in der Koalition selbst muss ein Lissabon-Kompromiss gefunden werden und sogar innerhalb der Regierungsparteien – wo die Meinungen beispielsweise von dem sehr liberalen LSAP-Wirtschaftsminister Jeannot Krecké bis zum LSAP-Abgeordneten und ehemaligen Gewerkschaftspräsidenten John Castegnaro reichen. Deshalb dürften sich die Parteien bemühen, ihren Wählern keine falsche Signale vor den Gemeindewahlen am 9. Oktober zu senden. Schließlich soll es nicht so aussehen, als ob unter dem Deckmantel der Wettbewerbsfähigkeit Umverteilung und Sozialabbau geplant würden. Und dies um so mehr, als die Arbeitslosigkeit trotz Konjunkturaufschwungs nicht zurückgegangen ist. Sicherheitshalber hatte Lionel Fontagné bereits seine Betrachtungen über Reizthemen wie automatische Indexanpassung und gesetzlichen Mindestlohn relativiert. Zudem soll laut Beschluss des Rententischs bis Ende des Jahres auch eine aktuarielle Studie vorgelegt werden, die überprüfen soll, ob die am Rententisch abgemachten Verbesserungen weiterhin zu finanzieren sind. Sollte sich herausstellen, dass die immer wieder angedrohte Rentenmauer näher rückt, müssten Einsparungen beschlossen werden, da Beitragserhöhungen Tabu sind. Eng im Zusammenhang mit den Diskussionen über die Wettbewerbsfähigkeit stehen auch die Aussichten für die Staatsfinanzen. Nach der im August letzten Jahres vom Parlament abgeänderten Haushaltsprozedur wird der Entwurf des Staatshaushalts für das nächste Jahr nicht mehr vor den Sommerferien verabschiedet und im September deponiert. Auch wenn der Budgetentwurf für 2006 bereits auf Verwaltungsebene vorbereitet wird, soll der Entwurf erst in der dritten Oktoberwoche vorgelegt werden. Als die Unternehmensberaterfirma KPMG ihre jährliche Aufstellung über die Entwicklung der Unternehmenssteuersätze in 88 Staaten veröffentlicht hatte, war Wirtschaftsminister Jeannot Krecké Mitte letzten Monats überraschend vorgeprescht und hatte eine weitere Senkung der Unternehmenssteuern ins Gespräch gebracht. Diese werde notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts Luxemburg abzusichern, meinte er unter dem Eindruck seiner jüngsten Prospektionsreisen, wo ausländische Investoren die Luxemburger Steuersätze kritisch begutachtet hätten. Vor den Wahlen hatte es geheißen, dass nach den massiven Steuersenkungen von 2001 und 2002 an keine Steuersenkungen während der neuen Legislaturperiode mehr zu denken sei. Doch Premier Jean-Claude Juncker hatte dann vor einem Jahr in seiner Regierungserklärung angekündigt, dass „die Steuerlast der Betriebe leicht abgesenkt werden kann, damit wir auf der europäischen Steuerskala wettbewerbsfähig bleiben“. Bei den Koalitionsverhandlungen war die Gründung eines dem Finanzministerium untergeordneten Groupe d’analyse fiscale mit hohen Steuerbeamten und Vertretern von Privatbetrieben beschlossen worden, um die Schachzüge der Konkurrenz im europäischen Steuerdumping zu  verfolgen. Auch wenn die durch eine Tarifsenkung verursachten Ausfälle teilweise durch eine Ausweitung der Bemessungsgrundlage kompensiert würden, würden die Staatsfinanzen doch zu einem Zeitpunkt zusätzlich belastet, an dem die Investitionsfonds bald leer sind. Haushaltspolitik dürfte immer mehr auf Sparpolitik hinauslaufen. Ob Lissabon-Beschlüsse über die Wettbewerbsfähigkeit oder Haushaltsentwurf für 2006, nach den Gemeindewahlen im Oktober kommt nach mehr als einem halben Jahr innenpolitischer Pause wegen Europapolitk alles zusammen. Premier Jean-Claude Juncker hatte seine  für letzten Monat vorgesehene Erklärung zur Lage der Nation wegen Arbeitsüberlastung im Zusammengang mit dem europäischen Ratsvorsitz auf Oktober verlegt. Das dürfte der willkommene Anlass sein, um die Regierungspolitik in Sachen Wettbewerbsfähigkeit,  Lissabon-Agenda, Steuern und Staatsausgaben zu erklären.

 

Romain Hilgert
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