Lesungen

Mehr Lit.!

d'Lëtzebuerger Land du 17.02.2012

Das Dschungelcamp war wieder nur ein kurzer Spaß. Dirk Bachs Glamoursuits hängen schlaff im Schrank bis nächstes Jahr und was die sogenannten „Kandidaten“ im sogenannten „wirklichen Leben“ alles anstellen, um von Klatschzeitungen beachtet zu werden, interessiert längst niemanden mehr. Tschüs, Brigitte! Fernsehen ist also wieder langweiliger geworden. Serienweise werden Morde untersucht, Talente ins Wettrennen geschickt und fremde Häuser/ Familien/ Hunde/ Kinder verschlimmbessert. Der Zuschauer lernt dabei in der Regel nichts und wird außerdem nicht gut unterhalten. So etwas sollte sich der Zuschauer aber nicht antun.

Ein Glück, dass es mehr Möglichkeiten zur passiven Abendunterhaltung gibt, als man wahrnehmen kann! Einige sind beliebt, zum Beispiel Thea[-]ter, Konzerte, Vernissagen oder Kino. Einige sind eher unbeliebt, zum Beispiel literarische Lesungen. Warum eigentlich? Die literarische Lesung vereint, so muss es einem doch vorkommen, alle positiven Eigenschaften anderer kultureller Plattformen: Man sitzt bequem, Getränke gibt es spätestens danach und oft muss man nicht einmal Eintritt zahlen. Richtig voll wird es aber gewöhnlich selbst bei Gruppenlesungen selten, obwohl der Veranstalter vor allem bei luxemburgischen Autoren normalerweise damit rechnen kann, dass sie eine eigene Entourage mitbringen. Wie kann das sein? Ist Literatur vielleicht einfach nicht sexy genug?

Seit Januar 2009 organisiert Maggy Schlungs, Leiterin der hauptstädtischen Stadtbibliothek, ungefähr zweimal im Monat einen Mardi littéraire. Am 24. Januar las die in Wien lebende Luxemburger Schriftstellerin Michèle Thoma im Auditorium Henri Beck vor vollen Rängen. Gewöhnlich kämen dreißig bis vierzig Zuhörer, von denen ein knappes Dutzend Stammhörer seien, so Maggy Schlungs. Diesmal war die Veranstaltung sogar noch besser besucht. Pluspunkte: hervorragende Akustik, Eintritt und Sekt gratis, aufmerksames Publikum, eine gut gelaunte, wenn auch etwas unvorbereitet wirkende Autorin. Dank pünktlichem Beginn um halb sieben und trotz musikalischer Unterbrechungen blieb vor der Heimfahrt sogar noch Zeit für Abendessen und Dschungelcamp. Minuspunkte: Da die meisten der über fünfzig Zuhörer Damen über Fünfzig waren, vermischte sich der süßliche Geruch von Angel unheilvoll mit anderen olfaktorischen Zumutungen in der Luft, die Autorin wirkte etwas unvorbereitet, wenn auch gut gelaunt, und der Textvortrag musste sich alle paar Minuten mit musikalischen Interludien abwechseln, die in keinerlei Beziehung zu den vorgetragenen Texten standen.

Fast eine Art Gegenprogramm zu den Mardis littéraires bietet die von Francis Kirps, Claudine Muno und Christian Happ veranstaltete Lesebühne, die ungefähr alle zwei Monate stattfindet. Außer den Veranstaltern lesen oder singen dort wechselnde Gäste; ein Schwerpunkt liegt auf Slam Poetry. Am 8. Februar waren der Marburger Slampoet Marvin Ruppert und der in Luxemburg lebende maltesische Lyriker und Übersetzer Antoine Cassar. Das Setting: Die erste Etage des Café Rocas gegenüber der Badanstalt. Da sitzt man nicht mehr in bequemen Kinosesseln, sondern auf alten Holzstühlen und trinkt erst einmal ein Bier. Beides bekommt man nicht umsonst.

Von den circa zwei Dutzend Stühlen ist zunächst nur etwa die Hälfte besetzt, auch scheint niemand zu erwarten, dass es pünktlich anfängt. Ein Mann in der Vorderreihe kaut seelenruhig an seinem Käsebrot. Da es bei Lesungen keine Trailer gibt und der Raum ziemlich stark abgedunkelt ist, kann man sich die Zeit höchstens mit mehr Bier und Handygefummel vertreiben. Pluspunkte: ihre Routine zwar herunterspielende, aber in Wahrheit ausgezeichnet vorbereitete Autoren, die stets darauf bedacht sind, ihr Publikum zu unterhalten, musikalische Beiträge, die Teil der Lesung sind, statt sie zu unterbrechen. Minuspunkte: Die Lesung beginnt mit reichlich Verspätung; zur Pause ist es bereits halb zehn Uhr. Wer auf öffentliche Transportmittel angewiesen ist oder am nächsten Tag früh aufstehen muss, wird sich womöglich zweimal überlegen, ob er sich nicht doch lieber vor der Glotze mit irgendwelchen Haus-, Kinder- oder Autosanierungen herumschlägt.

Bei allen Erfolgen, die diese Veranstaltungen verbuchen können, braucht man sich nichts vorzumachen: Diese Lesungen ziehen weit weniger Publikum an als Kino oder Theater. Der Fernseher hat die Bequemlichkeit für sich, aber das ist nicht alles. Warum literarische Lesungen selbst bei bildungsbeflissenem Publikum weniger Fans aufweisen können als zum Beispiel Dirk Bach mit eingeklemmter Kinnfalte und Paradiesvogelkostüm, scheint also mehrere Gründe zu haben. Ein Grund ist sicher, dass Dirk Bach ein Profi ist, der genau weiß, wie er auftreten und wie er seinen Text vorbringen muss, damit sich der Fernsehzuschauer vor Vergnügen ganz kringelig lacht.

Wie sie dem Zuhörer ihren Text möglichst wirkungsvoll vermitteln sollen, wissen viele Schriftsteller aber nicht. Wer nicht übt, darf natürlich nicht darüber klagen, dass niemand zuhören will. Ein weiterer Vorzug von Dirk Bach ist, dass er immer pünktlich auf der Mattscheibe erscheint. Man kann sich nach ihm richten. Er hört auch immer pünktlich auf. Allerdings müssten die Werbeunterbrechungen genau so wenig sein wie die musikalischen Unterbrechungen, die sich als erwartbares Begleitprogramm bei literarischen Lesungen eingebürgert haben.

Keinen Einfluss hat Dirk Bach darauf, wer den Fernseher einschaltet, um sich das Dschungelcamp anzuschauen. Offenbar ist dabei der Wille des Zuschauers im Spiel. Erstaunlich! Dabei weiß doch jeder, dass das Dschungelcamp wirklich der größte Mist ist, der im Fernsehen läuft! Literatur hingegen gehört anerkanntermaßen zu den höchsten Kulturgütern, zu denen die Menschheit fähig ist. So ähnlich heißt es auf jeden Fall in den letzten Wochen immer wieder in den Medien, wenn es um die Reform des Unterrichtswesens geht. Wie seltsam. Besuchten mehr von den Literaturfreunden, die sich so erbost über den staatlich angeordneten Untergang des Erbes von Goethe und Schiller äußern, etwas regelmäßiger literarische Veranstaltungen, müsste man vielleicht allgemein weniger um den gesellschaftlichen Stellenwert der Literatur fürchten.

Elise Schmit
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