Referendum im Norden

Stolz aufs Nein

d'Lëtzebuerger Land vom 14.07.2005

Ein früher Nachmittag in Esch an der Sauer. Die Sommersonne lastet auf dem Städtchen mit den kleinen Häusern an den steil ansteigenden Gassen. Kinder spielen, Touristen schälen sich aus Fahrzeugen mit belgischen und holländischen Kennzeichen und steuern Cafés anstelle der oben auf dem Berg thronenden Burgruine an. Die Sauer fließt träge durchs Grün, an ihrem Ufer hat ein (vermutliches) Ehepaar es sich auf einer Bank bequem gemacht. Einheimische. Wie sie wohl votiert haben mögen beim Referendum am Sonntag? Denn das hier ist die Gemeinde mit den meisten Nein-Stimmen zum EU-Verfasssungsvertrag.

"Wir waren dagegen", sagen beide, und es klingt irgendwie stolz. Warum? "Kommen Sie mal mit." Keine 100 Meter flussaufwärts wird die Sauer, vom Ausfluss der Turbinen in der Staumauer her kommend, in mehrere durch Schleusentore abgetrennte Stufen auf Normalniveau herab geführt. In den Schleusen steht das Wasser grün und brackig. "So bleibt es manchmal eine Ewigkeit ", erzählt der Mann. "Eigentlich müssen die Tore sich regelmäßig ein Stück öffnen, damit Wasser abfließt. Elektronisch gesteuert. Das klappt aber nicht immer, und dann stinkt's. Eine Sauerei."

Was das mit dem Verfassungsvertrag zu tun hat? "Ehe die Centrale hydroélectrique privatisiert wurde, war es besser", sind sich die beiden Escher sicher, obwohl das zugegebenermaßen schon eine Weile her ist. "Die Verfassung aber ist für noch mehr Liberalisierung, und das heißt ja Privatisierung. Wir wollen das nicht." Andere Gründe, mit Nein zu stimmen, habe es für sie noch gegeben, aber die seien "weniger wichtig".

Ein die Straße überquerender Passant hat ebenfalls sein Nein abgegeben, will jedoch nicht sagen, weshalb. "Fragen Sie doch mal unseren Bürgermeister", empfiehlt er mit leichtem Grinsen. Der Bürgermeister ist anzutreffen in dem Hotel-Restaurant, das ihm gehört. "Das viele Nein ... Ich denke, das hat zu tun mit den Asylbewerbern aus Ex-Jugoslawien, die hier untergebracht wurden. Hätte die Stadt Luxemburg so viele wie wir, hätte sie 30 000 Einwohner mehr. Man hätte die Asylbewerber viel stärker verteilen müssen, aber niemand wollte sie. Erinnern Sie sich noch an diese unmögliche Diskussion in Bartringen? Dann kamen sie zu uns, in zwei Hotels, die nicht mehr wirtschaftlich waren. Da hätte investiert werden müssen, in einem sogar das Dach repariert werden müssen. Die Besitzer wollten das nicht. Da hat der Staat die Flüchtlinge dort einquartiert und bezahlt die Hotelbesitzer gut."

Dass Astrid Lulling von der CSV den Sauer-Eschern am Sonntagabend im Fernsehen "latenten Rassismus" unterstellt hatte, findet der Bürgermeister "eine Frechheit". "Bei uns wohnen viele Ausländer. Aus Uruguay, aus Südafrika, das ist ganz normal. Aber wenn so viele Asylbewerber auf engem Raum beieinander wohnen, ist es klar, dass es Probleme gibt. Die haben wir nicht immer, aber manchmal. Drogenhandel, Prügeleien. Dabei sind wir doch ein Touristenort."

Und um das Gastronomiegewerbe, auch sein eigenes, fürchtet der Bürgermeister. "Wenn wir das nicht hätten, wär' die Gemeinde ökonomisch tot. Nur bei der Sebes gibt es noch 40 Arbeitsplätze. Traditionell ist Esch ein Arbeiterstädtchen. Ich frag’ mich, was werden wird, falls man die Sebes privatisiert. Oder wenn Goodyear Stellen abbaut. Handwerker gibt es bei uns auch kaum noch. Aber jetzt haben wir die EU-Osterweiterung. Nichts gegen Osteuropa, ich bin in einem Verein, der Hilfsgüter nach Rumänien bringt, und fahre oft dorthin. Aber so, wie die Osterweiterung verläuft, das gibt Lohndumping, da gehen die Betriebe in den Osten. Und wissen Sie was? Das merken wir auch. Als in Belgien vor ein paar Jahren dieses große Renault-Werk massiv Leute entlassen hat, kamen gleich weniger belgische Touristen zu uns. In Zukunft werden es noch weniger sein. Die werden nach Polen fahren, weil es dort billiger ist als hier."

Das Tageblatt hatte nach dem Referendum auf seiner Titelseite in einer Grafik die Stimmenprozente für Ja und Nein pro Gemeinde in Zehn-Prozent-Margen veröffentlicht. Man sieht dort, dass im Nordwesten, zwischen Wiltz und Redange/Attert, innerhalb einer ganzen Region die Grenzen zwischen Ja und Nein sehr eng verliefen. Da hier viele Gemeinden sehr klein sind, gaben wenige Stimmen den Ausschlag. In Esch/Sauer waren es 23. Vielleicht gibt es soziale Ängste überall im Kanton Wiltz, dessen Bevölkerung sich zu 40 Prozent aus Arbeitern zusammensetzt, und wo laut Statistikamt Statec die Arbeitslosenquote die landesweit höchste ist.

Früher Abend in einem Café in einer Stauseegemeinde 15 Kilometer westlich von Esch. Eng ist es hier, aber gemütlich. Die Wände voller Fotos und Bilder, ein altes Kanapee gegenüber dem Tresen. Neben dem Kanapee steht auf einer Kindermaltafel "Vive la révolution!" geschrieben.

"Von mir ist das nicht", sagt die Wirtin, "keine Ahnung, wer das gemacht hat. Cola wollen Sie? Geht auch Rosporter, da muss ich nicht erst in den Keller runter." Rosporter ist in Ordnung. "Merci. Ich kann nicht mehr gut laufen. Ich bin auch über das Wahlpflichtalter hinaus und hab am Sonntag nicht mitgestimmt. Hätte ich gemusst, hätte ich mit Nein gestimmt. Weiß nicht wieso, hab einfach ein schlechtes Gefühl."

Die Wirtin setzt sich langsam aufs Kanapee. "Sie hätten sehen sollen, was hier los war vor dem Referendum. Hoch her ging’s. Am Wochenende haben die Leute schon nachmittags um zwei Uhr zu diskutieren angefangen und erst nach Mitternacht aufgehört. Das Geld, die Arbeitsplätze, den houere Juncker. In Esch/Sauer waren viele dagegen. Bestimmt wegen den Jugos. Ich weiß nicht, ob die Leute hier in der Gegend was gegen Ausländer haben. Manchmal glaub ich’s. Vor kurzem kam einer rein mit seiner Frau, sie ist eine Schwarze. Die beiden wohnen im Nachbardorf, sind sympathische Leute, ich kenn’ sie. Als sie hier rein kamen, haben sie sich gleich in die hinterste Ecke gesetzt und unter den Männern am Tresen kam eine ganz komische Stimmung auf. Ich hab die Männer gefragt: Ist was? Sie sagten: Nein, nein! Aber es wurde erst wieder anders, als die beiden gegangen waren. Ich finde das schade, aber was will man machen?"

Eine Weile später stehen am Tresen vier Herren vor ihrem Feierabend-Drink: Rosé, Bier, Wasser. Mit Bürstenschnitt und pfiffiger Miene der eine, mürrisch dreinblickend der zweite, der dritte mit gewinnend lachendem Mund unter der Knollennase, und der vierte, der vermutlich Jüngste, ist der Ruhigste im Bunde. Ihre Getränke haben sie sich selber eingeschenkt, damit die Wirtin auf dem Kanapee sitzen bleiben kann.

"Wie habt ihr gestern gestimmt?", ruft sie ihnen zu. Keine Reaktion. "Sagt doch mal!"

"Wie schon?", antwortet der Bürstenschnitt über die Schulter hinweg. "Die Leute im Norden sind klarer im Kopf wegen der guten Luft hier!"

"Die meisten haben aber Ja gesagt. Du etwa auch?"

"Ich hab mit Nein gestimmt", entrüstet sich der Bürstenschnitt. "Aber schau dir die Endergebnisse an, wie knapp sie sind. 50 Prozent plus. Im ganzen Land waren es auch nur 56 Prozent, und das bei Wahlpflicht! Hätten die Franzosen Wahlpflicht, hätten dort noch mehr Leute Nein gesagt, glaub mir das."

Der Bürstenschnitt beginnt zu referieren. "In der Luxemburger Verfassung steht, das Privateigentum ist geschützt. Als ich noch selbstständiger Bauhandwerker war, hab ich mal für die Straßenbauverwaltung gearbeitet. Da hat ein Cantonnier behauptet, ich hätte den Auftrag nicht korrekt ausgeführt und mir zwei Drittel vom Honorar nicht geben wollen. Da bin ich mit der Verfassung in der Hand zu ihm hin und hab gesagt: Dieser Angriff auf mein Privateigentum ist verfassungswidrig! Ganz schnell hat er den Abzug rückgängig gemacht."

"Das hat doch nichts mit der EU-Verfassung zu tun", sagt der Mürrische, "die hast du doch gar nicht gelesen!"

"Doch, von hinten!" Der Bürstenschnitt lacht am lautesten über seinen Witz. "Ich muss sie nicht lesen, um zu wissen, dass die Osterweiterung Mist ist. Die wird mit unserem Geld bezahlt und kostet uns anschließend Arbeitsplätze. Juncker hat selber gesagt, dass er die Leute verstehen kann, die sich Sorgen darüber machen. Na, also! Er hat aber nicht gesagt, was man dagegen tun will. Juncker ist ein Volksverdummer ..."

"Ich denk' das nicht."

"... und einer von den Dicken. Die Dicken wollen die Dicken bleiben, und Juncker will einer von den Dicken bleiben. Deshalb ging es beim Referendum nur um ihn. Nur um ihn! ... Wie hast du gestimmt?", ruft der Bürstenschnitt einem Lockenkopf zu, der soeben das Lokal betreten hat und sich ein Bier zapft, während die Wirtin ein Schinkenbrot zu sich nimmt.

"Ich hab keine Einberufung bekommen, also bin ich nicht hingegangen."

"Das ist nicht gut", sagt der Knollennasige, der dem Zapfhahn am nächsten sitzt. "Du hättest hingehen müssen. Man muss eine Meinung haben."

"Ich hab den ganzen Sonntag Pétanque gespielt, man muss Prioritäten setzen!" Der Lockenkopf verschwindet mit seinem Bier nach draußen zur Terrasse.

"Juncker hat gesagt, alles wird besser", ruft der Bürstenschnitt. "Ich würde es glauben, wenn heute das Benzin billiger geworden wäre. Aber was war? Nichts! Europa ist nur was für die Reichen, und die kleinen Leute haben immer weniger Geld."

"Das ist wahr", sagt der Mürrische. "Irgendwann kriegen wir eine Diktatur in Europa!"

Der Mürrische bläst Luft aus dem Mund. "Diktatur ..."

"Gut wird’s nur noch denen gehen, die viel Geld haben. Ist das keine Diktatur? Na? Hast du mit Nein gestimmt?", fragt der Bürstenschnitt.

"Ich hab einen leeren Zettel abgegeben."

"Das ist nicht gut", unterbricht der Knollennasige sein Gespräch mit dem Ruhigen. "Man muss eine Meinung haben. Ja oder Nein."

"Ich hab ja eine Meinung", sagt der Mürrische. "Wie wir gestimmt haben, ändert doch nichts. Frankreich zählt, Holland auch, vor allem das Nein der Franzosen. Wie viele Einwohner hat die ganze EU? Und wir? Siehst du! Schau ins Europaparlament, wie viele Franzosen, Italiener, Spanier und was weiß ich da sitzen, und wie viele Luxemburger. Da weißt du Bescheid über unsere Bedeutung. Die Verfassung ist tot, das hat der Maître Vogel im Fernsehen ganz deutlich gesagt."

"Man muss trotzdem Ja oder Nein sagen", beharrt der Knollennasige. "Es ist doch prima gelaufen. Es gab genügend viel Nein, damit die da oben sich jetzt Gedanken machen müssen." Der Knollennasige reibt sich die Hände. "Deshalb musste man eine Meinung haben."

"Wie habt ihr beide denn gestimmt?", will der Mürrische vom Knollennasigen und dem Ruhigen wissen, der sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet hat. "Ihr seid doch Bauern, ihr kriegt Geld aus Brüssel."

"Ich war früher Bauer", sagt der Knollennasige, und dann lebt er auf: "Die Agrarpolitik ist totaler Scheißdreck! Die haben doch damit die Preise kaputt gemacht. Vor 50 Jahren hast du für einen Ballen Weizen 400 oder 500 Franken bekommen, aber da hat die Arbeitsstunde 45 Franken gekostet. Heute kriegst du, wenn du Glück hast, 80 Euro für den Ballen, aber was kannst du dir dafür kaufen? Nein, wegen der Agrarpolitik darf man nicht für die Verfassung sein. Ich hab auch Nein gestimmt."

"Man ist als Bauer kein Unternehmer mehr", sagt der Ruhige. "Alles wird kontrolliert, alles ist vorgeschrieben ..."

"Genau", ruft der Knollennasige. "Dem Bauern sollte keiner in das reinreden, was er auf seinem Feld macht. So war’s früher. Heute musst du Papiere ausfüllen, wenn du mal eine Stunde Freizeit hast, und füllst du sie nicht aus, gibt es kein Geld vom Staat oder aus Brüssel. Das ist doch Scheiße!"

Der Knollennasige und der Ruhige verabschieden sich. Der Bürstenschnitt zieht aus seiner Tasche selbst gemachte Visitenkarten. Seit er kein Bauhandwerker mehr ist, handelt er mit heilsamen Naturprodukten auf Aloe-Vera-Basis. Mit der Wirtin, die nicht mehr gut laufen kann, entspinnt sich ein längeres Gespräch über Gliederschmerzen und ihre Linderung.

In der Stadt Wiltz wurde prozentual ungefähr so oft Ja zum Verfassungsvertragsentwurf gesagt, wie im ganzen Land. Zum "Oberzentrum" soll die Stadt sich entwickeln, versprechen die Richtlinien zur Landesplanung, und das heißt auch: wirtschaftlich wachsen. Aber vorerst erhob eines jener deutschen Expertenbüros, das auch am schon viel diskutierten IVL-Konzept mitarbeitete, in einer Studie über die Stadt Wiltz vor drei Jahren, dass es hier "verhältnismäßig viele Arbeitslose gibt". Der Ausländeranteil in Wiltz liegt mit 38 Prozent im Landesschnitt. Die größten Gemeinschaften stellen Portugiesen und frühere Bewohner Jugoslawiens zu je einem Drittel. In der Vergangenheit war immer wieder mal die Rede von Feindseligkeiten gegenüber den Ex-Jugoslawen in Wiltz.

Für die drei Herren, die gegen 21 Uhr in einem Café in Niederwiltz sitzen, war ihr Nein zum "Traité" ein Zeichen gegenüber denen "da oben". Da oben, das ist "Brüssel", die Regierung, aber auch die Wiltzer Oberstadt. "Da sitzen die mit Anzug und Krawatte", sagt einer, der aussieht wie Sean Connery, nur dicker. "Wir hier unten in Niederwiltz sagen, was wirklich los ist." Und los sei gar nichts mehr.

"So eine schöne Stadt und so tot. Dabei wurde hier De Rénert geschrieben, große Literatur." Ein Hüne mit eisgrauen Haaren schüttelt den Kopf und beginnt die Namen von Betrieben aufzuzählen, die hier mal ansässig waren. "Fast nichts ist geblieben. Wenn Eurosol weggeht, kannst du alles vergessen."

"Die geht bestimmt bald weg", glaubt "Sean Connery".

"Ja, und die Circuitfoil ..."

"Die auch."

Die da oben müssten endlich was tun. Die in der Regierung und die in der Oberstadt. "Die haben doch alle keine Ahnung", sagt der Hüne, "die hören doch nicht auf die kleinen Leute."

"Keiner macht was für den Norden, keiner", meldet sich der dritte. "Da gibt’s die Nordstad, aber was bringt uns das denn, was gehen uns Ettelbrück und Diekirch an? In der Minette haben sie Industriebrachen. Wir haben auch Brachen. Aber da passiert nichts. Stattdessen bauen sie den Süden wieder auf und stecken da auch das Geld rein, das wir erarbeitet haben."

"Und das Schönste ist", sagt "Sean Connery" und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, "dass sie im Süden dann mit Nein stimmen. Erst kriegen sie das Geld nur so in den Arsch geschoben, auch unser Geld, und dann stimmen die mit Nein! Das ist nicht zu glauben."

Die drei lachen düster. "Dabei sind wir ruhige Leute, wir drei", sagt der Hüne. "Da gibt’s ganz andere, die sind nicht so ruhig." Die würden bald richtig laut werden, glaubt "Sean Connery".

In seinem Lokal, sagt der Wirt, habe kein Mensch sich um den Verfassungsvertrag geschert. "Den Leuten geht’s nur um ihr Leben hier. Ich hab mich gewundert, dass in Wiltz nicht so abgestimmt wurde wie in Esch/Sauer. Es gibt immer wieder Krach wegen der Jugoslawen. Ich hab die Verfassung gelesen. Ganz aufmerksam, weil hier so dick getönt wurde, aber keiner sie kannte. Ich hab den Leuten gesagt, dass man gegen den Vertrag sein kann, wenn man ihn gelesen hat. Es hat keinen interessiert. Aber eins muss ich sagen: Ich bin froh, dass Juncker Premier bleibt. Seinen Kronprinz, den Frieden, möchte ich lieber nicht an der Macht sehen."

Peter Feist
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