Referendum: Wahlanalyse

Die Hierarchie der Europabegeisterung

d'Lëtzebuerger Land vom 14.07.2005

Das Ergebnis des Referendums über den europäischen Verfassungsvertrag zeigt keinen neuen Riss durch die Gesellschaft, wie manchmal behauptet, sondern nur die alten gesellschaftlichen Unterschiede. Doch während ihre Existenz sonst meist einfach geleugnet wird, treten sie durch die Arithmetik des Referendums unverhofft zu Tage: zwei oder drei Prozent Stimmenunterschied, die bei Parlamentswahlen als übliche Schwankungen kaum zur Kenntnis genommen werden, ziehen beim Referendum die Trennlinie zwischen Befürwortern und Gegnern. Auch wenn das Gesetz für ein Referendum, ähnlich wie für die Europawahlen, einen einzigen Wahlbezirk vorschreibt, so unterscheidet sich doch das Wählerverhalten in den zwölf Kantonen und vier Parlamentswahlbezirken.

Mit Ja stimmten in Luxemburg                62,65 %     Zentrum Mersch                       61,94 %     Zentrum Vianden                     61,71 %     Norden Grevenmacher           60,07 %     Osten Remich                      59,65 %     Osten Echternach                59,29 %      Osten Diekirch                    59,00 %      Norden Capellen                    58,51 %      Süden Clerf                          56,48 %      Norden Wiltz                         55,49 %      Norden Redingen                  55,06 %      Norden Esch-Alzette             49,42 %      Süden.

Diese Staffelung spiegelt sich auch in den Jastimmen der vier traditionellen Wahlbezirke wider: Zentrum 61,94 Prozent, Osten 59,65 Prozent, Norden 57,14 Prozent, Süden 51,50 Prozent. Es gibt also weniger ein Nordsüdgefälle, als eine Hierarchie der Europabegeisterung, die mit dem Zentrum beginnt, gefolgt vom Osten, danach kommt der Norden und am Ende der Süden. Es ist die alte Landkarte der Einkommen und, davon abhängig, der politischen Gesinnung.

Die Angestellten Die Angestellten sind eine sehr uneinheitliche Gruppe, da die Lebensverhältnisse kleiner Angestellten im Handel mit denjenigen der Arbeiter identisch ist und nichts gemein hat mit denjenigen leitender Bankangestellter. Entsprechend wurde vor allem in den Mittelschichtengemeinden mit hohen Immobilienpreisen rund um die Hauptstadt, wo über 40 Prozent Angestellte wohnen, viel für den Verfassungsvertrag gestimmt, etwa in Strassen, Bartringen, Mamer, Kopstal und Hesperingen. In Südgemeinden mit ebenfalls vielen Angestellten, wie Niederkerschen, Sassenheim und Küntzig wurde dagegen überdurchschnittlich viel mit Nein gestimmt.

Die CSV Durch das Engagement von Premier Jean-Claude Juncker wurde keine andere Partei so mit dem Ja für den Verfassungsvertrag identifiziert wie die CSV. Und es sind auch einige CSV-Hochburgen, wo letztes Jahr über 40 Prozent CSV und diesmal beim Referendum über 60 Prozent mit Ja gestimmt wurde: Bech, Wellenstein, Weiswampach und Mamer. Aber auch in einigen Gemeinden, wo die CSV besonders schwach ist, wurde viel mit Ja gestimmt, wie in Schieren, Steinsel und Lorentzweiler. Eindeutiger aber ist, dass in keiner Gemeinde, wo besonders stark CSV gewählt wurde, viel mit Nein gestimmt wurde.

Die Beamten Die Beamten und öffentlichen Angestellten haben einen unverhältnismäßig großen Einfluss bei Wahlen, weil sie alle über das Wahlrecht verfügen, während ein großer Teil der Arbeiter und Angestellten als Immigranten vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Manche empfinden die europäische Integration inzwischen als Bedrohung für den öffentlichen Dienst und ihr Be¬rufsstatut. In einigen Gemeinden, in denen mehr als 20 Prozent Beamte und öffentliche Angestellte wohnen, wie Erpeldingen, Fouhren und Leudelingen, stimmten die Bewohner überdurchschnittlich für den Verfassungsvertrag. Und in jenen Gemeinden, wo der Beamtenanteil landesweit am niedrigsten – und der Arbeiteranteil am höchsten – ist, wurde am häufigsten mit Nein gestimmt, wie in Differdingen, Esch-Alzette, Consthum, Beaufort, Petingen und Esch-Sauer.

Die DP Einige liberale Hochburgen, wie Schieren, Wormeldingen, Bartringen und Strassen, in denen mehr als 25 Prozent der Wähler DP stimmen, gehören zu jenen Gemeinden, die zu 65 Prozent und mehr für den Verfassungsvertrag stimmten. Und es sind jene Südstädte, wo die DP landesweit am wenigsten Einfluss hat, die am meisten dagegen stimmten. Aber es gibt auch starke DP-Gemeinden, die viel mit Nein stimmten, wie Neunhausen, Mertzig, Préizerdaul und Wahl.

Die Grünen Die Grünen gehörten zu den ersten Parteien, die eine Kampagne für das Ja begonnen hatten. Trotzdem stimmten in den grünen Hochburgen die Wähler nicht überdurchschnittlich für den Verfassungsvertrag. Die Korrelation ist eher negativ: In den Ge¬meinden, wo die Grünen am schwächsten sind, war die Verfassungsbegeisterung geringer, wie in Consthum. Rümelingen, Petingen, Kayl und Neunhausen.

Der Escher Kanton Von den zwölf Kantonen lehnte ein einziger den Verfassungsvertrag ab, der Escher Kanton mit 50,58 Prozent Neinstimmen. Aber er zählt allein fast ein Drittel aller Wähler des Landes, mehr als beispielsweise die acht Kantone des Nord- und Ostbezirks zusammen und auch mehr als der ganze Zentrumsbezirk einschließlich der Hauptstadt. Während die ländlicheren Gemeinden des Escher Kantons mit Ja stimmten, gaben die größeren Industriestädte den Ausschlag mit ihrem Nein: Rümelingen, Differdingen, Esch-Alzette, Pe¬tingen, Kayl, Sassenheim und Schifflingen.

Die Arbeiter Die Arbeiter erwarten sich offensichtlich nicht viel Gutes von dem Verfassungsvertrag. Es sind die großen Städte des Escher Kantons, wo über 45 Prozent der Einwohner Arbeiter sind, die mehrheitlich mit Nein stimmten, wie Differdingen, Esch-Alzette, Rü¬me¬lingen und Petingen. Und die Ge¬meinden, wo der Arbeiteranteil unter 15 Prozent liegt und so landesweit am niedrigsten ist, wie Niederanven, Kops¬tal, Strassen, die zu den Spitzenreitern der Jasager zählen. Obwohl in kleineren Arbeitergemein¬den außerhalb des Escher Kantons die Tradition der organisierten Arbeiterbewegung oft weniger stark ist, wurde auch dort überdurchschnittlich viel mit Nein gestimmt, wie in Colmar-Berg und Mertzig. Esch-Sau¬er, die einzige Gemeinde im Norden, die den Vertrag – wohl auch aus Überfremdungsängsten – mehrheitlich ablehnte, zählt über 40 Prozent Arbeiter, die von einer Privatisierung der Stauanlagen eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen befürchten. Auch in Beaufort, die einzige Gemeinde im Osten, die Nein sagte, wohnen über 40 Prozent Arbeiter. Da ein Großteil der Immigranten Arbeiter sind, wäre das Ergebnis des Referendums möglicherweise noch knapper ausgefallen, wenn sie zur Ab¬stimmung zugelassen worden wären. Die große Skepsis der Arbeiter desavouiert auch die Gewerkschaften, die, teilweise trotz interner Meinungsverschiedenheiten, aus Staatsräson zum Ja aufgerufen hatten, wie der OGB-L, oder sogar eine Kampagne dafür geführt hatten, wie der LCGB.

Das Maulkorbgesetz Auffällig ist, dass jene Gemeinden, die 2005 den Verfassungsvertrag ablehnten, auch jene waren, die – mit Ausnahme von Esch-Sauer – am vehementesten das Maulkorbgesetz ablehnten: Schifflingen (1937: 76,64 %), Differdingen (72,26 %), Esch-Alzette (71,64 %), Rümelingen (70,56 %), Sassenheim (70,42 %), Kayl (65,54 %), Petingen (64,26 %)…, Und es sind genau jene Berg- und Stahlarbeitergemeinden, in denen Jahrzehnte lang Kommunisten in die Gemeinde- und Schöffenräte gewählt wurden. Beaufort, das ebenfalls den Verfassungsvertrag ablehnte, war 1937 die einzige Ge¬meinde im Echternacher Kanton, wo eine Mehrheit von 61,03 Prozent der Wähler gegen das Maulkorbgesetz stimmte.

Die LSAP Trotz ihrer gleich drei Außen- und Außenhandelsminister wurde keine andere Partei von den eigenen Wählern so desavouiert wie die LSAP. In sechs ihrer zehn landesweiten Hochburgen wurde der Verfassungsvertrag abgelehnt: in Rümelingen, Kayl, Schifflingen, Petingen, Differdigen und Esch-Alzette. Lediglich in Düdelingen und Bettemburg, wo der Arbeiteranteil niedriger ist und die Arbeiterbewegung weniger radikalisiert war, wurde er überhaupt angenommen. Manche Gemeinden, wo die LSAP landesweit am schwächsten ist, stimmten besonders viel mit Ja, wie Weiswampach, Wormeldingen, Wellenstein und Bech.

Die Landwirte Insgesamt wurde in Gemeinden mit über fünf Prozent Landwirten oft mit Ja gestimmt, wie in Wellenstein, Weiswampach, Fouhren und Wormeldingen. Aber hier scheinen oft rechtsliberale Winzer im Ostbezirk mehr Symapthie für den Verfassungsvertrag zu haben als konservative Bauern im Ösling, da Bauerndörfer wie Wahl, Consthum und Grosbous überdurchschnittlich mit Nein stimmten.

Das ADR Es ist dem ADR nicht gelungen, sich bei seinen Wählern eindeutig zu positionieren: Viel für den Verfassungsvertrag wurde in manchen Mittelschichtengemeinden rund um die Hauptstadt gestimmt, wo das ADR landesweit am schwächsten ist, wie Bartringen, Kopstal, Strassen, Lorentzweiler, Steinsel, Hesperingen und Niederanven. Gegen den Vertrag wurde in den großen Südgemeinden gestimmt, wo das ADR ebenfalls unterdurchschnittlich  vertreten ist. Lediglich einige isolierte ADR-Hochburgen im Norden und Osten, wie Consthum, Grosbous, Wahl, Préizerdaul und Esch-Sauer, fielen durch eine größere Anzahl Neinstimmen auf.

Die Ausländer In der Gemeinde mit dem höchsten Ausländeranteil – 61,50 Prozent in Fels – stimmte das wahlberechtigte Drittel der Einwohner zu 55,28 Prozent mit Ja, also haarscharf am Landesdurchschnitt vorbei. Von den 39 Gemeinden im Land, in denen mehr als ein Drittel der Einwohner Ausländer sind, lag in 30 der Anteil der Vertragsbefürworter über dem Landesdurchschnitt. Auch wenn es – wie in Esch-Sauer – zu einem lokalen Protestvotum gegen die Unterbringung von Asylsuchenden gekommen sein mag, ist kaum ein direkter Zusammenhang zwischen einer großen Ausländerbevölkerung und einer überdurchschnittlichen Ablehnung des Verfassungsvertrags durch die Inländer festzustellen.

Die weißen und ungültigen Stimmzettel Von den eingeschriebenen Wählern, waren 9,56 Prozent am Wahltag nicht erschienen, ein Teil davon, weil sie die Altersgrenze für die Wahlpflicht überschritten haben. Bei den Parlaments- und Europawahlen letztes Jahr lag der Anteil mit 8,77 Prozent etwas niedriger, aber diesmal war der Anteil der Briefwähler um 0,3 Prozentpunkte höher. Bei der Auszählung der Stimmzettel wurden die weißen und die ungültigen Stimmzettel nicht getrennt gezählt. Es ist also nicht möglich, einen Unterschied zwischen jenen Wählern zu machen, die bewusst ihre Stimme verweigerten, und jenen, die durch eine Ungeschicklichkeit ihren Stimmzettel ungültig machten. Die weißen und ungültigen Stimmzettel machten 2,99 Prozent aus, deutlich weniger als bei den Parlamentswahlen (5,60 %) und den Europawahlen (8,36 %). Das Risiko, unfreiwillig einen ungültigen Stimm¬zettel abzugeben, ist bei einem Referendum geringer als bei Parlamentswahlen mit ihrem komplizierteren System von Panaschieren und Listenstimmen. Im Vergleich zu den Parlaments- und Europawahlen lassen also, trotz des angeblich komplexen Themas, weder die Wahlbeteiligung noch der Anteil der weißen und ungültigen Stimmzettel darauf schließen, dass ein größerer Teil der Wahlberechtigten keine Stimme abgeben wollte. Der Anteil war auch nicht besonders hoch oder niedrig in Gemeinden, wo es besonders viele Befürworter oder Gegner des Verfassungsvertrags gab. Beim Referendum über das Maulkorbgesetz 1937 war, wohl als Ausdruck einer Stimmverweigerung, die Zahl der weißen Stimmzettel dagegen dreimal so hoch wie bei den Parlamentswahlen.

 

 

Romain Hilgert
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