Referendum

Jean-Claude Juncker hat Recht

d'Lëtzebuerger Land vom 30.06.2005

Je länger man die Debatten und Ereignisse um die europäische Verfassung verfolgt, umso mehr drängt sich einem der Eindruck auf, dass sich die Europäer und damit auch die Luxemburger auf Grund einer Reihe von Mißverständnissen in eine Pattsituation hineinmanövrieren werden, die sich negativ für alle EU-Staaten auswirken wird.  Viele Staatenlenker haben die Befürchtungen und die Unreife der Menschen falsch eingeschätzt; sei es aus einem naiven Optimismus oder einer Arroganz der Macht heraus. Viele Bürger  nutzen die Gelegenheit eines Referendums, um andere Aspekte in den Vordergrund zu spielen, die nichts mit der europäischen Verfassung zu tun haben, wie etwa ihre Ängste vor der Arbeitslosigkeit oder ihr Bedrohtheitsgefühl gegenüber anderen Kulturen. Der Verfassungstext selbst erscheint zwar allein schon wegen seines Umfangs und seiner komplexen Form recht unverdaulich, deshalb aber auf einen ablehnenswerten Inhalt zu schließen, bedeutet ganz einfach die tatsächlichen Fortschritte, die er im Vergleich zu den bisherigen EU-Verträgen enthält, zu verkennen. Paradoxerweise enthält die Verfassung gerade auf den Gebieten Verbesserungen, die von den Verfassungsgegnern beanstandet werden, wie etwa die zu geringe demokratische Legitimität und die damit verbundene fehlende Transparenz bei den europäischen Institutionen. Dabei bekommen das Europäische Parlament sowie die nationalen Parlamente mehr Befugnisse. Die Bürger Europas erhalten auch die Möglichkeit über das Initiativrecht direkter als bisher am Gesetzgebungsprozess mitzuwirken. Es sind ebenfalls bis dahin noch nie so weitgehende Formulierungen in den Bereichen "soziale Sicherheit" oder "Umweltschutz" in einem europäischen Vertragstext festgehalten worden wie in dieser Verfassung. Offensichtlich wird vielfach übersehen, dass die Annnahme einer europäischen Verfassung dem politischen Europa ein starkes Gewicht verleihen würde. Diese starke Position ist in der so genannten globalisierten Welt sowohl in wirtschaftlicher, wie in militärischer als auch in außenpolitischer Hinsicht von größter Bedeutung. Diese europäische Verfassung enthält eine Grundlage für das so genannte europäische Sozialmodell, das den Menschen in Europa viel mehr Sicherheit bietet als anderswo in der Welt. Mit Hilfe der Verfassung gäbe es eine einheitliche europäische Stimme in der Welt (europäischer Präsident, europäischer Außenminister), was eine desolate Vorstellung wie anläßlich des Irakkrieges verhindern würde. Auch wenn Junckers Rücktrittsankündigung im Falle eines „Nein“ wie eine Erpressung wirkt, so ist sie letzten Endes nur logisch. Wegen seiner politischen Überzeugungen will der Mann aus seinem Herzen keine Mördergrube machen, seine politische und menschliche Geradlinigkeit zwingt ihn geradezu zu diesem Schritt und auch zu dieser Ankündigung: die Entscheidungsbedingungen sollten offen liegen. Ein eventueller, nichtangekündigter Rücktritt würde viel negativer ausgelegt werden. Der unvermeidliche Mißbrauch des Schengener Abkommens durch kriminelle Elemente wird von manchen Bürgern als Argument gegen die Verfassung benutzt. Dabei kann eine Ablehnung den  Vertrag, dem vor kurzem die Schweizer erst beigetreten sind, diesen juristischen Meilenstein nicht aushebeln. Mit oder ohne Europäische Verfassung wird es grenz- und völkerüberschreitende Kriminalität geben, die ein zusammenwachsendes Europa besser bekämpfen kann, als ein auseinander treibendes. Dass die Konstruktion eines gemeinsamen Hauses Europa immer auf Kompromissen beruht, haben offensichtlich diejenigen vergessen, die jetzt weiter gehende Forderungen  z.B. im sozialen Bereich stellen. Sie lassen völlig außer Acht, dass die Lobbyisten eines wirtschaftsliberalen Europa sich sowieso schon gegängelt fühlen und deshalb den Verfassungstext ablehnen. Manche denken zu Unrecht in einer neuen Verhandlungsrunde käme also automatisch ein besserer Text zustande, leider besteht auch die Möglichkeit einer Verschlimmbesserung. Die Politiker begingen also den Fehler, einen zu komplexen Text der ganzen Bevölkerung zur Abstimmung vorzulegen, was die Möglichkeit von Mißverständnissen sowie den Aktionsbereich von Demagogen aller Schattierungen enorm vergrößert. Manche Volksvertreter begehen zudem allzu oft den Fehler, eine latent antieuropäische Stimmung zu erzeugen, indem sie die Verantwortung für ihr Versagen auf die angeblich so ominöse Brüsseler Bürokratie  abwälzen. Dabei setzen diese Beamten nur um, was vorher von den jeweiligen Fachministern beschlossen wurde. Wissentlich oder unwissentlich tragen auch manche Pressevertreter zur antieuropäischen Stimmung bei, indem sie alte Mythen und Vorurteile gebetsmühlenartig unters Volk streuen, wie etwa in Deutschland die Mär vom "größten Nettozahler". Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl ist Luxemburg der größte EU-Nettozahler und nicht Deutschland. Genauso kursiert stets die Horrorvorstellung vom aufgeblähten EU-Beamtenapparat, der in Wirklichkeit nicht einmal so viele Stellen aufweist wie ein einziges deutsches Bundesministerium.Ohne Zweifel gibt es eine europäische Schieflage, die aber mehr auf Mißverständnissen, die ihrerseits auf Kommunikationsfehler zurückgehen, beruht als auf tatsächlichen Fakten. Wenn die Mehrheit der Luxemburger sich daraufhin eher von Demagogen, als von Menschen wie Jean-Claude Juncker oder Gilbert Trausch überzeugen lässt, dann hat das Land sein Rendez-vous mit der Geschichte verpasst.

Der Autor unterrichtet Deutsch und Sozialkunde im Lycée Joseph Bech, Grevenmacher.

 

 

Nico Wirth
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