Wie Politik und Literatur das Zukünftige zu fassen versuchen

Das Rotweißblaue vom Himmel versprechen

d'Lëtzebuerger Land du 01.06.2018

„And there were future reflections on the face and the hands.“ (MGMT)

Jeder kennt sie, diese drögen Sommer-Interviews, in denen Politiker penetrant leger ausgefragt werden, als seien sie Kandidaten bei einer Verkupplungsshow mit Kai Pflaume. Eine dieser Fragen lautet: was die politische Kaste denn so lese, wenn sie in ihren Bungalows und Hotelzimmern, Fincas, Kajüten und Holzhütten sitze?

Jean Schoos übt sich (2017) in seiner Antwort, ganz ADR-ler, in biblischer Symbolapokalyptik. Er gibt an, Bretonische Flut von Jean-Luc Bannalec und Sintflut von Adam Tooze zu lesen. Dagegen nimmt sich die Antwort von Christian Kmiotek von Déi Gréng geradezu sympathisch aus. Er ist so ehrlich zu antworten: „Keines.“ Andere hingegen decken sich stapelweise ein: Claude Wiseler (CSV) etwa geht auch in Buchbelangen äußerst ambitioniert vor. Er möchte sieben Bücher, von Coelho bis Clinton, in der Urlaubszeit lesen – Gesamtpensum: 2 604 Seiten. Eine bemerkenswerte Ausdauer ist auch Alex Bodry (LSAP) eigen, der seine schnarchige Lektüre, „Sachbücher zum Verfassungsrecht“, mit dem Label „echt spannend!“ versieht. Guy Arendt (DP) ist übrigens einer der Wenigen, die ein Buch aus dem hiesigen Betrieb einpacken: Er lese den mit dem Prix Servais gekürten Erzählband Larven von Nora Wagener. Und David Wagner (Déi Lénk) sprach mal über die Sci-Fi-­Romane von H. G. Wells und George Orwell, um sie am Ende in Bezug zu setzen zu seiner Tätigkeit als Politiker: „Ech wëll awer, datt d’Welt anescht fonktio­néiert, soss géif ech mech jo net engagéieren.“

Diese Auskünfte bedeuten freilich alles und nichts; sie sind PR für die einen, Seitenfüllmaterial für die anderen. Dabei ist die grundsätzliche Frage, die sich in diesen sommerträgen Interviews mitstellt, eine Überlegung wert: Wie verhält sich die politische Rhetorik zum literarischen Modus? Was sind Ähnlichkeiten, was Differenzen? Schließlich geht es in beiden Fällen um Entwürfe, darum, eine Idee glaubwürdig auszugestalten und adäquat zu kommunizieren. Die Politik hält vorwiegend Visionen parat, die Literatur Fiktionen; erstere hegt das Versprechen einer vermeintlich besseren Welt, letztere jenes einer anderen Welt.

Imaginierte Zukunft

So hielten Xavier Bettel und Corinne Cahen dann auch Anfang Mai bei der DP-Veranstaltung zur Wahleinstimmung ein Slogan-Schild mit der Aufschrift „Zukunft op Lëtzebuergesch“ hoch – und sahen dabei aus wie Anhalter an einer Autobahn-Raststätte, die sich am Karton festklammern, ohne so recht zu wissen, wo die Fahrt eigentlich hingehen soll. Und vor kurzem sprach die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen von einer ominösen „Zukunft auf Dauer“, die man dem syrischen Diktator Baschar al-Assad nicht zugestehen möchte – was in etwa so redundant klingt wie „Stoppuhr auf Zeit“. Diese Mühen zeigen es bereits an: Im Gegensatz zur Vergangenheit, die sich bewältigen, vergraben oder verbiegen lässt, lassen sich von ihrem Gegenteil, der Zukunft, keine Erfahrungswerte ableiten. Sie ist Risiko, Chance und Unwägbarkeit zugleich.

In seinem jüngst ins Deutsche übertragenen Buch Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus (Suhrkamp) hat der Soziologe Jens Beckert diese Wechselwirkungen aus einer ähnlichen Konstellation betrachtet. Nicht die Politik steht bei ihm im Fokus, sondern die Wirtschaft. Laut Beckert basiert die ökonomische Logik fundamental auf „fiktionalen Erwartungen“, darauf, dass „Unternehmen, Arbeitnehmerinnen und Konsumenten ihren Blick unablässig in eine ungewisse Zukunft richten müssen“, um „über zukünftige Zustände der Welt“ nachzudenken. Schließlich basiere das kapitalistische System auf zwei Kategorien, die nur dann akut werden, wenn sie in das Kommende verlängert werden: Wettbewerb und Kredit. Das gerade erschienene iPhone konkurriert heute schon mit dem erst demnächst erscheinenden Top-Modell von Samsung. In diesem Sinne planen „von einem imaginierten zukünftigen Zustand motivierte Akteure ihre Aktivitäten ausgehend von dieser mentalen Repräsentation und den damit verknüpften Emotio­nen“. Beckerts verständlich argumentierendes Buch liefert weniger eine umstürzende neue These als vielmehr eine umsichtige Bündelung unterschiedlicher, auch transdisziplinärer Ansätze, um auf diese Weise die Denk- und Handlungskategorie der Fiktion zu erfassen, die maßgeblich ist für die Art, wie wir Prämissen konstruieren und Entscheidungen treffen, kurzum: wie wir tagtäglich aus dem Haus gehen.

Ebenso verwaltet und distribuiert die Politik Fiktionen. Sie behauptet Dinge im Jetzt, die erst im Dann eintreten werden (oder auch nicht) und die trotzdem Einfluss auf gegenwärtiges Verhalten entfalten. Mit Beckert gesprochen: „Die auffälligste Ähnlichkeit zwischen literarischen Texten und fiktionalen Erwartungen in der Wirtschaft ist, dass die Akteure in beiden Fällen so tun, als ob eine beschriebene Realität wahr wäre.“ Auch politische Akteure arbeiten mit dieser Als-ob-Struktur. Sie geben vor, ihre Dann-Behauptung gehöre bereits hier und heute valorisiert: durch Wählerstimmen. „Zukunft op Lëtzebuergesch“ – schon jetzt. Bis in die alltägliche sprachliche Praxis hinein ist diese Indienstnahme fiktionaler Zukünfte spürbar. So dienen metaphorische Neologismen wie Rentenmauer beziehungsweise Zukunftspak dazu, einschüchternde beziehungsweise narkotisierende Effekte zu generieren. Und bestimmte Wörter werden mit bestimmten Adjektiven ausgestattet, mit sogenannten Epitheta, die diese dann nicht mehr loswerden: Homers Odysseus ist immer listig, das luxemburgische Wachstum ist nur noch als ein qualitatives zu haben.

Erschriebenes Futur, längst passé

Mit diesen Überlegungen im Rücken lohnt es sich, einen Blick auf die anderen Fiktionsexperten zu werfen, auf die Literaten. Welche Welten und Werte erschreiben sie sich und ihrer Leserschaft? Besonders ein Buch sticht dabei ins Auge. 1979 gab Robert Gollo Steffen, heutiger Verlagschef von Op der Lay, eine Science-Fiction-Anthologie mit dem Titel der himmel auf erden heraus. Es ist der erste und nach wie vor einzige luxemburgische Sci-Fi-Band, der je erschienen ist. Vertreten sind u. a. Guy Rewenig, Nico Helminger, Romain Hilgert sowie Roger Manderscheid. (Keine einzige Frau hat einen Text-Beitrag beigesteuert.) Das Buch spielt uns den schönen Streich, damals, 1979, Zukunft zeigen zu wollen, nur um heute, 2018, vergessen und vergangen in Bibliotheken und auf Dachböden zu liegen. Es ist erschriebenes Futur, das längst passé ist.

Im Vorwort schreibt Steffen über die damalige hiesige Literaturproduktion: „denn es ist eine utopische und antiutopische literatur vorhanden.“ Erwähnung findet auch Hugo Gernsback (1884-1967), der mit Luxemburg vor allem eins am Hut hatte: früh, mit gerade mal 20 Jahren, von hier in die USA ausgewandert zu sein, um sich dort als Erfinder und Publizist zu etablieren. (Er prägte den Begriff Science-Fiction; nach ihm ist der wichtigste Sci-Fi-Literaturpreis benannt, der Hugo.) Hierzulande wird er seit Jahren heranzitiert, um als entlegenes Beispiel des luxemburgischen Fortschrittsinns literaturgeschichtlich verwertet zu werden. Abseits davon zeigt die Anthologie aber eindrücklich, wie das damals ging: sich kritische Zukünfte zu imaginieren.

Vielleicht ist – dies nur vorweg – genau das eine hilfreiche Unterscheidung: Literatur bringt kritische Fiktionen hervor, wohingegen Politik plakative Fiktionen verkauft, siehe Rentenmauer. Ich werde an dieser Stelle nur auf Roger Manderscheids Beitrag eingehen können, der dem Band den Titel einbrachte: der himmel auf erden. beschreibung einer vision. Entworfen wird eine Welt nach dem Konflikt, die von aseptischer Ruhe und anästhesiertem Leben gekennzeichnet ist. Nichts erregt mehr Aufsehen, Fabriken und Menschen funktionieren reibungslos. Ein neoliberaler Traum vieler hiesiger Politiker also:

„die auftragslisten waren auf jahrzehnte im voraus ausgebucht. die aufgabe der arbeiter des konzerns bestand in der einfachen überwachung kompliziertester maschinen. das war alles. […] wenn einer lachte, was selten vorkam, weil es nichts mehr zu lachen gab, wie es nichts mehr zu weinen gab, lachte er in sich hinein. […] sämtliche bücher der welt waren zentral gespeichert und auf knopfdruck hin in jedem haus mit kopfhörern abzuhören, […] alle möglichen bücher überhaupt: diese hatten computer zu ende geschrieben: alle stile enthaltend, alle erdenklichen kombinationsmöglichkeiten der sprache und der fantasie durchspielend. […] die vollkommene demokratische bibliothek war geschaffen. wenige machten gebrauch davon. […] es gab keine geschichten mehr, weil es keine verwicklungen mehr gab. es gab nichts mehr zu sagen. die worten waren haus geworden. das leben hatte sich erfüllt: man wohnte.“

Der Luxus des Uneigentlichen

Hier wird ein post-historisches Szenario entworfen, wie es zehn Jahre (!) später, nach dem Zusammenbruch der UdSSR, der Politologe Francis Fukuyama in seiner These vom Ende der Geschichte formulieren wird: „The end of history will be a very sad time. […] The worldwide ideological struggle […] will be replaced by economic calculation, the endless solving of technical problems, environmental concerns, and the satisfaction of sophisticated consumer demands. In the post-historical period there will be neither art nor philosophy.“ Diese „centuries of boredom“, nun doch nicht eingetreten, hat auch Manderscheid in seiner kritischen Fiktion umrissen. Auch wenn das alles nicht eingetreten ist, bleibt der gruslig-glatte Entwurf valide. Denn im Gegensatz zur (großherzoglichen) Politik, die nur zwei Modi kennt, einerseits ein „Achtung, das wird schlimm ohne uns“, andererseits ein „Tadah, das bieten wir euch“, ist (großherzogliche) Literatur nicht an ein solches binäres Spektrum gebunden. Was sie sagt, kann stimmen. Oder nicht stimmen. Oder auch nicht nicht stimmen.

Viele der Anthologie-Beiträge nutznießen von diesem Luxus des uneigentlichen Sprechens, das der Literatur eigen ist. Im Gegensatz zu Politikern lügen Autoren also freier und ehrlicher, weitreichender und erhellender. Und auf diese Weise können sie sich dem kapitalistischen Produktivitätsgedanken und dessen politischen Verkündern verwehren. Nein, es wird sich nicht alles in wohlwollendem Wachstum auflösen. Und nein, es wird ebenso wenig alles im großen Knall enden. Gerade in Luxemburg, wo sich – im Gegensatz zu so vielen europäischen Nachbarländern – eine bemerkenswert zukunftslustige Stimmung erhalten hat, wären solche kritischen Fiktionen auch heute wichtig. Nicht um alles mieszumachen, sondern um der Meteoritenabbau-Zukunft à la Schneider ein zusätzliches Als-ob zur Seite zu stellen. Nicht um alles madig zu reden, sondern um dem Balla-Balla-Wirtschaftsoptimismus, den eine kleine Kaste verbreitet, ein anderes Wenn-Dann als Korrektiv beizugeben.

Samuel Hamen
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