Eltern klagen über katastrophale Zustände in privaten Kinderkrippen. Das Familienministerium sieht sich „vom Volumen überrollt“

Theorie-Praxis-Differenz

d'Lëtzebuerger Land vom 03.03.2011
Es ist ein schöner – und von vielen lang ersehnter – Leitfaden, den die Rechercheeinheit Inside der Uni Luxemburg am Mittwoch einem ausgewählten Fachpublikum vorstellte: peppiges Orange mit Fotos von lachenden Kindern und glücklichen Erwachsenen. Und, was wichtiger ist, auf knapp 50 Seiten bekommen deutschsprachige Fachkräfte aus dem Betreuungssektor Überlegungen dazu präsentiert, wie sie „pädagogische Qualität von Anfang an“, so der Titel, in ihrer Einrichtung fördern können. „Es ist ein erster Schritt“, betont Sascha Neumann, Soziologe und einer der Autoren des vom Familienministerium in Auftrag gegebenen Ratgebers, der „als Orientierungshilfe“ dienen soll. Anhand der Erfahrungen mit den Fachleuten, die sich an Vordiskussionen beteiligt haben, wolle man den Leitfaden weiter entwickeln, sich der „Theorie-Praxis-Differenz“ annehmen. Manuel Achten, im Familienministerium für den Kinderbetreuungssektor verantwortlich, nennt das, den Leitfaden an die „Realitäten des Sektors an(zu)passen“.

Hoffentlich nicht. Denn dass in dem rasant wachsenen Betreuungssektor die Qualität teilweise mächtig hinterher hinkt, warnen Experten schon länger. Jetzt melden sich auch Eltern zu Wort. André Dumont* ist Vater eines dreijährigen Sohns und gemeinsam mit seiner ebenfalls berufstätigen Lebensgefährtin auf die Kinderbetreuung angewiesen. Weil im Gemeindekindergarten kein Platz mehr frei war, beschlossen er und seine Partnerin, ihr Kind einer privaten Krippe anzuvertrauen. Und schlagen nun Alarm. 

„Die Gruppen sind überbelegt, mehr als die Hälfte des Personals hat binnen anderthalb Jahren gewechselt“, sagt er. Und ist mit der Beobachtung nicht allein. „Wer neu im Markt ist, kann die Qualität des Betreuungsangebots kaum einschätzen“, bedauert Sylvie Peniguet*. Für die Mutter eines einjährigen Sohnes besteht aber kein Zweifel, dass in zahlreichen privaten Kindertagesstätten etwas „entsetzlich schief läuft“. Monatelang, so erzählt die Französin, habe sie mit ihrem Mann nach einer geeigneten Krippe mit pädagogischem Konzept gesucht, aber das Gesamtbild sei „einfach nur traurig“. Eigentlich hatte sie ihren Sohn in einer Krippe nahe der Hauptstadt untergebracht, aber ihr geht es wie vielen: Deren Platzangebot wurde seit vorletztem Sommer massiv ausgebaut. „Statt der vorgeschriebenen zwölf Kinder in einer Altersgruppe laufen dort heute zwischen 20 und 25 Kinder herum“, sagt sie.

Ganz sicher ist sie nicht, das Nachzählen sei schwierig: Nicht jedes Kind bleibe den ganzen Tag über, einige kommen nur für wenige Stunden, was wiederum die pädagogische Arbeit erschwere. Auf Nachfrage habe die Direktion zwar beteuert, den gesetzlichen Betreuungsschlüssel einzuhalten, aber auch die Erzieher beklagen sich hinter vorgehaltener Hand über Überbelegung. „Morgens, wenn wir unseren Sohn bringen, herrscht dort ein Wahnsinnslärm“, fügt ihr Lebenspartner hinzu. „Das kann für die Entwicklung unseres Sohnes nicht gut sein“, sorgt er sich.

Als sie sich damals für die Krippe entschieden hatte, sei es wegen des pädagogischen Konzepts gewesen, berichtet eine andere Mutter. Montessori-Pädagogik habe der Betreiber versprochen, und beim ersten Kind schien zunächst alles gut zu laufen. Das war vor der Einführung der chèques service. Durch den massiven Ausbau jedoch – der Betreiber hat seitdem weitere Einrichtungen geöffnet sowie die Zahl in den Kindergruppen „deutlich aufgestockt“ – bleibe den Erzieherinnen immer weniger Zeit und Raum, um die für Montessori typischen feinmotorischen Übungen anzubieten, die die Autonomie und die Kreativität der Kleinen anregen sollen. „Zugleich sind aber die Preise in den letzten Jahren massiv gestiegen“, empört sie sich. Ein Platz in der Krippe koste ohne Preisnachlass inzwischen rund 900 Euro monatlich.

Damit nicht genug: Elementarste Vorschriften würden nicht eingehalten, sagt sie schockiert und bohrt ihren Finger in die mitgebrachte Kopie des entsprechenden Reglements. Es regelt Normen zur Sicherheit, Hygiene, Leitung sowie den Betreuungsschlüssel. So hielten sich Kleinstkinder, obwohl gesetzlich verboten, im zweiten Stock auf, einen Feuerfluchtweg gebe es nicht. Der einzige Feuerlöscher im Haus sei „schwer auffindbar“ zwischen bunten Kindermäntel versteckt. Die Mängel habe man dem Familienministerium gemeldet, aber bis heute seien keine Konsequenzen erfolgt. Ihr Partner drückt es drastischer aus: „Wer übernimmt im Ministerium die Verantwortung dafür, wenn etwas geschieht? Denn das ist nur noch eine Frage der Zeit“, fragt der junge Vater, von der Ausbildung her selbst Pädagoge, aufgebracht. Es ist diese Ohnmacht, warum die Eltern Kontakt mit der Presse aufgenommen haben. Andere trauten sich nicht aufzubegehren, weil sie Folgen für ihr Kind fürchten. Auf die Betreuung sind sie alle dringend angewiesen. „Irgendwer muss doch etwas gegen die Zustände unternehmen“, sagt Sylvie hilflos.

Die zum Teil miserablen Bedingungen im privaten Kinderbetreuungssektor sind im Ministerium jedoch längst bekannt. „Wir wurden vom Volumen überrollt“, räumt Manuel Achten ein und betont zugleich: „95 Prozent der Einrichtungen arbeiten korrekt.“ Man sei dabei, sich „Schritt für Schritt“ des Problems anzunehmen, mahnt er die Betroffenen zur Geduld.

Der Qualitätsleitfaden soll dabei die erste Etappe spielen, um dem wild gewachsenen Sektor von Crèches, Garderies, Maisons relais, Foyers de jour etc. mehr konzeptuelle Tiefe zu geben. Denn obwohl es gesetzliche Mindestanforderungen etwa bei der Qualifikation des Personals gibt (im Privatsektor müssen 50 Prozent eine pädagogische Ausbildung vorweisen, die Krippenleitung muss mindestens ein Jahr Berufserfahrung haben), gibt es zahlreiche Einrichtungen, die sich zwar pädagogisch nennen, wenn man genauere Informationen sucht, aber kein fundiertes Konzept vorlegen können.

Die Entwicklung ist dabei nicht so zufällig entstanden, wie es das Ministerium manchmal gerne darstellt. Sondern Ergebnis einer Politik, die ganz bewusst zunächst nur auf die Quantität des Betreuungsangebots gesetzt – und die inhaltliche Qualität den Trägern überlassen hat. Und sich nun äußerst schwer damit tut, den Geist, den sie selbst aus der Flasche gelassen hat, wieder einzufangen. Zumal, das betonen Uni und Ministerium gemeinsam, man keinen „Einheitssektor“ wolle.

Während bei etlichen Gemeinden in den vergangenen Jahren ein gewisses Bewusstsein für die Notwendigkeit von Qualität da ist, zumindest wird das auf den zahlreichen Rundtischgesprächen zu dem Thema wortreich beteuert, und große konventionierte Anbieter wie die Caritas seit Jahren an Qualitätsverbesserungen feilen, ist fraglich, inwieweit das auf den Privatsektor zutrifft. „Die privaten Strukturen haben sich schneller entwickelt als der kommunal-konventionierte“, sagte Achten am Mittwoch. Lag die Anzahl der Kinderbetreuungsplätze insgesamt (privat plus konventioniert, alle Altersstufen) im Jahr 2004 noch bei rund 8 000 Plätzen, sind es heute etwa 32 000; das entspricht einer Vervierfachung in nur sechs Jahren. Für den „letzten Kick“ haben die 2009 von der CSV-LSAP-Regierung eingeführten Dienstleistungsschecks gesorgt: Zwischen 2009 und 2010 hat sich allein die Zahl der privaten Betreuungsplätze von 2 369 auf 4 425 nahezu verdoppelt. Wer ein wenig im Land herumfährt, kann sich selbst ein Bild davon machen: In vielen Stadtteilen und Gemeinden schießen Privatkrippen wie Pilze aus dem Boden. Da werden Privathäuser in Krippen umgewandelt, einige davon mit zweifelhafter Sicherheit. Die Autorin besuchte selbst eine private Krippe in der Hauptstadt, in der etwa zehn Kinder im betonierten terassenförmigen „Garten“ auf Plastikspielgeräten turnten, die mehr als dürftig verankert waren.

„Vor dieser Entwicklung haben wir schon vor Jahren gewarnt. Sie war abzusehen“, sagt Marc Pletsch vom Berufsvereinigung der Sozialpädagogen und Erzieher, Apeg. Vor einem Jahr war seine Organisation bei der Ministerin vorstellig geworden, um die schlechter werdenden Arbeitsbedingungen – Mindestlohn, zerstückelte Arbeitszeiten, wenig Konzepte, schlecht bis gar nicht qualifiziertes und zu wenig Personal – anzusprechen.Man werde darauf noch einmal zurückkommen. „Ist ein Mitarbeiter krank, bleibt der andere Kollege mit zwölf oder mehr Kindern alleine. An Urlaub ist unter diesen Umständen nicht zu denken“, bestätigt Gewerkschaftssekretärin Nora Back vom OGB-L. Seitdem die Dienstleistungsschecks eingeführt wurden, hat auch die Gewerkschaft den Überblick verloren. Die an sie heran getragenen Klagen seien aber immer dieselben, so Back: Überbelegung, Sicherheitsmängel, miese Arbeitsbedingungen.

Dabei heizen offenbar besonders die Schecks, ursprünglich eingeführt, um gerade auch bedürftigen Eltern den Zugang zu qualitativer Betreuung zu erlauben, den Negativtrend  an. Um sie herum sei „ein lukratives Business“ entstanden, meint Pletsch von der Apeg. Ein Geschäft, das womögich auch die soziale Spaltung im Land zusätzlich verstärkt, wenn ausländische Eltern ihre Kinder eher bei frankophonen überfüllten Privatkrippen anmelden, und wohlhabende Eltern die gute „Nounou“ vorziehen. Bis heute liegen keine Daten über die Nutzung und die sozialen Verteilungseffekte aufgrund der Dienstleistungsschecks vor.

Klar ist aber, dass der Betreuungsmarkt neuerdings alle möglichen Leute als Investoren anlockt. Im Süden des Landes meldete vergangenes Jahr ein Team von Fußballfreunden eine Krippe an, nun wird bereits der Ausbau geplant. Eine ehemalige Mitarbeiterin, obwohl als Direktionsbeauftragte eingestellt, verdiente nicht mehr als den qualifizierten Mindestlohn – und durfte nach der Betreuungsarbeit gemeinsam mit den Kolleginnen  noch putzen, weil die Träger keine professionelle Putzfirma beauftragen wollten. Nachdem sie sich wiederholt erfolglos über die mangelnde Hygiene beschwert hatte und sich schließlich, keinen anderen Rat mehr wissend, an die Gesundheitsinspek-tion wandte, wurde ihr noch vor Ende ihrer Probezeit gekündigt. Die unbefristete Betriebsgenehmigung erhielten die Betreiber trotzdem.

„Wir kontrollieren jede Einrichtung mindestens zweimal, bevor wir eine Genehmigung vergeben“, betont Manuel Achten erst auf mehrfaches Nachfragen. Für die 700 Betriebe seien acht Inspektoren zuständig, die allerdings nicht ausschließlich für den Sektor arbeiteten. Bei der Gesundheitsinspektion kontrollieren offiziellen Angaben zufolge zwölf Inspektoren die Kindertagesstätten auf Hygiene, ebenfalls nicht ausschließlich. „Wir gehen allen Beschwerden nach“, wird dort versichert. Konkrekte Zahlen aber, wie viele Einrichtungen die Inspektoren monatlich oder wöchentlich kontrollieren, wie viele schwarze Schafe es also gibt, kann – oder will? – niemand sagen. Man habe im Herbst 2010 ein neues Prüfkonzept auf die Beine gestellt, heißt es aus dem Gesundheitsministerium – die Dienstleistungsschecks gibt es seit 2009 –, man befinde sich noch in der Testphase.

Doch selbst wenn Inspektionen stattfinden, müssen sie nicht zwangsläufig etwas aussagen. So sollen Einrichtungen, das berichten Erzieher hinter vorgehaltener Hand, für den zuvor angekündigten Inspektionstermin kurzfristig die gesetzeskonforme Anzahl von Betten aufgestellt haben. Kaum waren die Prüfer fort, wurden weitere Betten hinzugestellt. Die Geschäftsführung wegen der unlauteren Praxis anzeigen, traut sich das Personal aber nicht: Es fürchtet um seinen Job.

Eltern bekommen das oft gar nicht mit, was sich hinter den bunten und mit Blumen beklebten Fassaden ihrer Kindertagesstätte abspielt. Nur wenige kennen ihre Rechte und die rechtlich vorgeschriebenen Betreuungsschlüssel. Die Einrichtungen sind zwar verpflichtet, die Betriebsgenehmigung mitsamit den Auflagen für jeden sichtbar auszuhängen. Das tun aber längst nicht alle, so dass manchen Müttern und Vätern auch entgeht, dass einige nur befristet ausgestellt wurden, etwa weil beim Anmeldetermin die vorgeschriebene Spielfläche im Freien nicht fertig war oder der obligatorische Vertrag mit einer Putzfirma fehlte.

Für Eltern aufschlussreich wäre es, wenn sie die amtlichen Inspektionsberichte einsehen könnten – das würde ihnen ermöglichen, sowohl den Betreiber, als auch das für die Aufsicht zuständige Ministerium zu kontrollieren. Die Möglichkeit besteht aber nicht. Die Hoffnung von Manuel Achten, er setze auf die Eltern „als Kontrollinstanz“ bei schwarzen Schafen in der Branche, zeugt daher entweder von Naivität oder Ignoranz gegenüber den realen Machtverhältnissen: Nicht nur weil Vätern und Müttern grundlegende Informationen fehlen, um als bewusste Konsumenten auf dem Betreuungsmarkt aufzutreten, sondern weil ihnen, selbst wenn sie Mängel in der Betreuung feststellen, oft keine andere Wahl bleibt. Trotz des massiven Ausbaus fehlen gerade für die Kleinen dringend Betreuungsplätze.

Und was, wenn bei einem Wechsel die Eltern vom sprichwörtlichen Regen in die Traufe kommen? „Wir haben überall gesucht, aber die anderen Einrichtungen sind noch schlimmer“, sagt André Dumont. Über Konzepte, die zwischen traditioneller, bevormundener Elternarbeit und moderner, partizipativer Elternbildung unterscheiden, wie sie in der Fachdiskussion am Mittwoch an der Universität thematisiert wurden, würde er wohl müde lächeln: „Als die einzige Pädagogin im Team mit einer Montessori-Ausbildung die Einrichtung verließ, wurden wir nicht informiert“, erzählt er. Er habe zufällig durch seinen Sohn davon erfahren.

Das Familienministerium arbeitet inzwischen an einer grundlegenden Neufassung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, und will dabei auch „den Aspekt der Qualität berücksichtigen“. Auch soll in den nächsten Monaten eine neue Internetplattform enstehen, wo Eltern sich zentral über das landesweite Betreuungsangebot informieren können. Dabei werde über eine Qualitätsbewertung nachgedacht, so Achten. Eine frohe Botschaft, die Eltern aber, die ihre Kinder heute in überfüllten Krippen schlecht versorgt sehen, kaum trösten dürfte.
* Namen von der Redaktion geändert
Ines Kurschat
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