Das Lycée Ermesinde erstrahlt im neuen Glanz. Bei Schülern und Eltern ist es vor allem wegen der Pädagogik beliebt

Bloß kein Reformlycée

d'Lëtzebuerger Land du 26.04.2013

Vor dem Eingang des Festsaals im Lycée Ermesinde herrscht Gedränge. Mädchen drängeln sich im Flur an den Jungs vorbei, um sich gemeinsam in die roten Sesseln des Auditoriums zu drücken. Dann wird es dunkel, Musik erklingt und die zwei Redner, ein gemischtes Duo, kündigt das Programm der heutigen Schülerversammlung an.

Heute ist eine 7e an der Reihe. Die Veranstaltung, bei dem auch Lehrer anwesend sind, dient dazu, die Termine der nächsten Tage zu besprechen, Ergebnisse aus Projektarbeiten vorzustellen. Zwischendurch erklingt hier und da ein Lachen, die jungen Moderatoren haben offenbar wenig Scheu vor dem Publikum und sind zum Scherzen aufgelegt.

Dass Schüler vor anderen Schülern auftreten, Musik spielen oder zu Fotowettbewerben einladen, ist kein Zufall, sondern eines der pädagogischen Markenzeichen des Lyzeums, das vor über sieben Jahren als Neie Lycée seine Toren öffnete. Was damals von vielen als Zirkusschule belächelt und nicht ernst genommen wurde, ist inzwischen fester, und bunter, Bestandteil der Luxemburger Schullandschaft.

So sehr hat sich das Lyzeum etabliert, dass auch andere Schulen vorbeikommen und schauen, was denn die Kollegen vom Ermesinde anders machen. Vielleicht sollten auch Schüler von anderen Sekundarschulen einmal einen Ausflug ins Lycée Ermesinde machen, denn in Sachen Beteiligung und Mitbestimmung hat die Merscher Schule die Nase vorn.

Wir treffen uns im Sitzungssaal der Direktion. Mit seinem lang gestreckten dunklen Tisch, der edlen Ledergarnitur und den hohen Bücherwänden an der Wand erinnert er ein wenig an Harry Potters Zauberinternat Hogwart. Fünf Schüler sind der Einladung des beigeordneten Direktors Mehmed Özen gefolgt. Herrschte in der Eingangshalle eben noch quirliges Treiben, sitzen die Schüler nun ganz aufmerksam am Tisch.

„Mir gefällt, dass wir hier unterstützt werden, und nicht unterdrückt“, beginnt Alexandra Thill selbstbewusst. Die 15-Jährige war zuvor in Diekrich zur Schule gegangen und vergleicht beide Schulen: „Früher bekam ich in Mathe plötzlich gesagt, meine Leistungen seien nicht ausreichend. Also nahm ich Nachhilfe, die mich aber nicht weiterbrachte. Hier hört mir mein Lehrer zu und geht genau auf meine Probleme ein“, beschreibt sie den Unterschied zur alten Schule. „Unterstützung“ ist auch das Schlüsselwort für Juliette Thiltges. Die 18-Jährige war zuvor an einem Lycée in der Hauptstadt, das sich als Motto ebenfalls auf die Fahnen geschrieben hat, den Schüler und seine Fähigkeiten in den Mittelpunkt zu stellen. Aber wegen einer Krankheit und weil sie starke Prüfungsangst hatte, kam sie in der alten Schule nicht mehr mit. Statt mit Verständnis zu reagieren, habe sie „nur Druck seitens der Lehrer gespürt“, erzählt die 18-Jährige.

Wobei das nicht heißen will, dass im Lycée Ermesinde nicht gearbeitet werde. „Vielleicht arbeiten wir hier sogar mehr. Auf jeden Fall weiß hier jeder Lehrer über seine Schüler genau Bescheid und kennt alle beim Namen“, sagt Thierry Backes aus der 4e, der zuvor eine Schule im Süden besucht hat. „Ja“, springt ihm Juliette bei: „Das hat mich auch überrascht: In der alten Schule kannten sie nach einem Jahr meinen Namen immer noch nicht, aber hier haben mich alle mit meinem Namen gegrüßt.“

Dass Schüler und Lehrer einander besser kennen, ist kein Zaubertrick aus Potters Saga, sondern liegt daran, dass im Lycée Ermesinde die Klassen als Häuser organisiert sind – mit weitgehend fest zugeteilten Lehrer- und Erzieherteams. Diese treffen sich in ihren Teamzimmern, um den Unterricht gemeinsam zu planen oder etwa Nöte von Schülern zu besprechen. „Mir gefällt der ganzheitliche Ansatz hier sehr“, sagt Patrick Harsch. Der Englischlehrer unterstützt seit drei Jahren das Merscher Team und arbeitete zuvor 20 Jahre an konventionellen Schulen: „Ich frage meine Schüler, was sie interessiert. Wir schauen, etwas zu finden, dass wir dann gemeinsam umsetzen.“ Nathalie Jacoby, Lehrerin für Deutsch und Englisch, sieht das ähnlich: „Die Schüler und die Lehrer bringen sich mehr ein. Durch die viele Gruppenarbeit und die individuelle Betreuung ist die soziale Kontrolle, wenn man es so nennen will, sogar noch enger.“

Kontrolle, die die Schüler spüren, die sie aber offenbar auch akzeptieren. „Als ich hörte, dass es hier keine Noten und keine klassischen Prüfungen gibt, habe ich auch zunächst gedacht, hier ist es relaxed. Aber hier wird viel mehr gelernt“, sagt Juliette Thiltges. „Ja...“, ergreift der 13-jährige François Seil das Wort: „..wir sind schließlich den ganzen Tag hier. Ich glaube, unserer Lehrer motivieren uns mehr. In den anderen Schulen gehen viele Lehrer nicht sehr respektvoll mit uns Schülern um.“

„Mir wurde schon gesagt, ich sei einfach zu faul zum Lernen, dabei war ich krank“, wirft Alexan-dra Thill ein. „Und dass Punkte öffentlich verlesen und kommentiert werden, das gibt es bei uns auch nicht“, betont der zwölfjährige Luca Sorbelli.

Einsatz von den Schülern wird dennoch verlangt: in den Arbeitsgruppen, im Unterricht, aber auch in den Mini-Entreprises, die jeder Schüler nach seinem Interesse wählen kann.

Die Jugendlichen können sich auch anderweitig einbringen. „Wir haben einen Klassenrat, dort besprechen wir, wenn wir Probleme haben“, sagt Thierry Backes: „Und dann ist da ja auch noch das Team. Normalerweise bekommen die sehr genau mit, wenn etwas im der Klasse oder im Unterricht nicht stimmt.“

Erster Weg sei immer, gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Einmal habe es Ärger mit einer Lehrerin gegeben, erinnert sich François Seil. „Das haben wir unserem Tutor erzählt und danach haben die Lehrer darüber im Team diskutiert“, erzählt er. Das Tutorat ist fester Bestandteil im Unterricht des Merscher Lyzeums. Ein Lehrer betreut acht bis zehn Schüler, die ihm zu Beginn des Schuljahres zugeteilt werden. „Das ist manchmal etwas viel“, räumt Englischlehrer Patrick Havé ein. Und was, wenn ein Schüler einen Tutor bekommt, mit dem er sich nicht so gut versteht? „Dann wenden wir uns an einen anderen Lehrer unseres Vertrauens“, sagt Alexandra achselzuckend. Auch die anderen schütteln verneinend den Kopf auf die Frage, ob das ein Problem sei.

Überhaupt scheinen im Lycée Ermesinde viele Befürchtungen, die Lehrer und Schüler andernorts zur Sekundarschulreform äußern, kein großes Thema zu sein. Obwohl ein Mitglied des Lyzeums auch in der DNL vertreten ist, hält sich die Schule weitgehend aus der Reformdebatte heraus. Man könne sicher einiges an der Reform kritisieren, aber Tonfall und Haltung vor allem der Gewerkschaften in den Diskussionen störten, so ein häufig gehörter Kommentar. Vor allem auf Apess und SEW ist im Lycöe Ermesinde kaum einer wirklich gut zu sprechen. Einen Streit um eine Lehrerin hatte die Gewerkschaften öffentlich kommentiert und dabei Falschinformationen in die Welt gesetzt. „Es wird behauptet, wir seien das Reformlycée par excellence, von uns kämen die Ideen zur Reform. Aber das stimmt nicht“, betont Mehmed Özen. Den Gewerkschaften ist das Lycée auch deshalb ein Dorn im Auge, weil dessen außergewöhnliche Funktionsweise per Sondergesetz geregelt wurde, die Merscher Lehrer längere Präsenzen haben und auch dies pädagogisch begründen. Eben das, die hohe Präsenzzeit, die Besprechungen und die enge Abstimmung im Team, waren auch der Grund, warum einige Lehrer die Schule nach der Gründung wieder verlassen haben. „Etwa 90 Prozent der Leute, die mit uns angefangen haben, arbeiten noch heute hier“, sagt Özen stolz: „Das ist eine gute Quote und sagt etwas über das gute Klima hier aus.“

Doch von manchen Schulen wird das bunte Lyzeum bis heute argwöhnisch beobachtet. Dass die Merscher als Art pädagogischer Thinktank dienen könnten und Schulen sich im ganzen Land vermehrt über Best practises und pädagogische Themen austauschen würden, was beispielsweise die ursprüngliche Idee des Café pédagogique war, hat sich nur teilweise erfüllt.

Um nicht wieder in die Schusslinie von Gewerkschaften und Reformkritikern zu geraten, halten sich sogar die Schüler zurück. „Wir waren anfangs mit dabei“, sagt Juliette Thiltges. Sie war eine von einer Hand voll Merscher Schüler, die an der Großveranstaltung zur Sekundarschulreform Ende 2011 mit der Unterrichtsministerin und über tausend Schülern teilgenommen hatte. Aber wegen der Interventionen von vielen Kollegen, vor allem aber wegen mancher Lehrer im Hintergrund, die versucht hätten, Schüler gegen die Ministerin aufzuwiegeln, habe sie irgendwann den Saal verlassen. „Das war nichts für mich“, sagt sie. Auch bei den Aktionen und Pressemitteilungen der Schülerkonferenz ist das Lycée Ermesinde nicht an vorderster Front dabei. „Wenn wir wollen, können wir uns jederzeit an unsere Vertreter wenden, die setzen sich für uns ein“, sagt Thierry Backes und blickt fragend in die Runde. „Das meiste, was bei der Reform diskutiert wird, haben wir eh schon“, ergänzt Alexandra achselzuckend.

Ines Kurschat
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