Vom Unterschied zwischen Wahlumfragen und Wahlergebnissen

Wahrhaftige Prophezeiungen

d'Lëtzebuerger Land vom 15.06.2018

Diese Woche, vier Monate vor den Kammerwahlen, veröffentlichten das Luxemburger Wort und RTL die Ergebnisse einer Umfrage bei 3 521 Wahlberechtigten, welcher Partei sie die meisten Stimmen gäben, wären am Sonntag Wahlen. Gemeint waren 26 verschiedene Sonntage, da die Umfrage ein halbes Jahr lang durchgeführt wurde. Unter dem Strich würde die CSV ihre Verluste von 2013 wettmachen und die Regierungskoali­tion ihre Mehrheit verlieren.

Als das Marketing in die Politik einzog, machten Martforscher Wählerbefragungen populär. 1974 hatte die DP bescheinigt bekommen, erstmals einen „amerikanischen Wahlkampf“ geführt zu haben, 20 Jahre später begann die Veröffentlichung von Wählerbefragungen. Ihr Pionier war Alvin Sold, der damalige Chefredakteur des Tageblatt. Sieben Monate nachdem die LSAP wieder in der Regierung war, belehrte er am 11. März 1995 in einem Leitartikel seine Leser: „Es irrt, wer glaubt, es gäbe hierzulande keine Meinungsumfragen über politische Themen.“ Doch „[i]n der Regel bleiben die ermittelten Resultate unter Verschluss, weil ihre Veröffentlichung unerwünschte Folgen haben könnte“. Das Tageblatt habe sich also „nach langem Abwägen, dazu entschlossen, in Form von regelmäßigen ILReS-Umfragen einen Beitrag zur Belebung der politischen Ausein­andersetzung in Luxemburg zu leisten“. Die Befragten sollten über 20 bis 50 vom Tageblatt ausgewählte Politiker und Gewerkschafter entscheiden, „wer eine ‚wichtige Rolle, eine weniger wichtige oder eine gleichbleibend wichtige‘ spielen“ solle.

Die Veröffentlichung der Ergebnisse von Wählerbefragungen hat auch geschäftliche Ursachen. So freute sich Alvin Sold im Tageblatt vom 3. April 2004 darüber, „dass die Tageblatt-Verkaufszahlen sowohl bei der Sonntagsfrage wie beim Politbarometer in die Höhe schnellen“. Am 27. April 2006 stellte das konkurrierende Luxemburger Wort fest: „Meinungsumfragen gehören zum politischen Geschäft. Auch in Luxemburg. Nun auch in unserer Zeitung.“ Für das Luxemburger Wort befragten TNS-Ilres und IFD-Allensbach zuerst Wahlberechtigte, wie sie die Arbeit von Politikern bewerteten. Zusammen mit RTL veröffentlichte das Luxemburger Wort dann vom 11. bis 13. Januar 2017 erstmals Wahlprognosen über die Sonntagsfrage: TNS-Ilres war zum Meistbietenden übergelaufen (d’Land, 10.11.2017). In der Regel bieten die Marktforscher einzelnen Parteien gleich auch Beraterdienste an. Nachdem die Staatsanwaltschaft Luxemburger Wort und RTL vor den Gemeindewahlen 2011 verwarnt hatte, weil sie die einmonatige Sperrfrist für Umfragen vor Wahlen missachtet hatten, kam das Parlament Ende 2015 der Meinungsindustrie entgegen und senkte die Frist auf fünf Tage.

Wählerbefragungen dienen oft dazu, den Wahlausgang und die Politik zu beeinflussen. „Also hoffen wir, dass der Wahlspiegel, den Ilres den Luxemburgern jetzt vorhält, sie erschreckt“, gab Alvin Sold zwei Monate vor den Kammerwahlen 2004 zu. Ihm wurde immer wieder von der LSAP vorgeworfen, mit den Umfragen Druck auf die eigene Partei ausüben zu wollen. Als im Laufe der Umfragen 2005 der Anteil der Gegner des Europäischen Verfassungsvertrags zuzunehmen schien, vergrößerte die Regierung panikartig den Propagandaaufwand zugunsten des Vertrags. 2009 hatten die Wahlumfragen der ADR zwei Sitze zu viel versprochen, die Partei hatte sich daraufhin den teuersten Wahlkampf ihrer Geschichte geleistet und sich ruiniert. Neben dem Fiasko bei den Europawahlen und der Katastrophe beim Referendum trugen die schlechten Wahlprognosen 2015 dazu bei, dass die Regierung ihre Sparpolitik beendete.

Um den Ausgang der Wahlen zu beeinflussen, ist die Versuchung groß, die Umfragen zu manipulieren. Das liberale Journal hatte schon am 31. Dezember 1996 auf die „willkürliche Auswahl der politischen Akteure“ aufmerksam gemacht, deren Popularität das Tageblatt ermitteln ließ: elf LSAP-Politiker, zehn CSV-Politiker, nur drei DP-Politiker, drei grüne Politiker und zwei ADR-Politiker, also in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Einfluss der einzelnen Parteien. Vor zwei Jahren kam es zum Krach zwischen dem Luxemburger Wort und RTL darüber, ob sie durch die entsprechende Gewichtung von Kompetenz und Sympathie im gemeinsam bezahlten Politmonitor DP-Premier Xavier Bettel auf Platz zwei oder Platz zwölf setzten sollten.

So wie das Tageblatt 1995 erst „nach langem Abwägen“ die ersten Ergebnisse einer Umfrage über die Popularität von Politikern veröffentlichte, so dauerte es noch lange bis zur ersten Wahlprognose. Vor den Wahlen von 1999 veröffentlichte die Zeitung, die bis dahin die Ergebnisse landesweiter Popularitätsumfragen abdruckte, vom 8. bis 15. Mai 1999 erstmals Popularitätsumfragen nach Wahlbezirken und stellte den Ergebnissen die Rangfolge aller Kandidaten von 1994 gegenüber. Die Leser waren so versucht, falsche Rückschlüsse auf das zu erwartende Wahlergebnis zu ziehen.

Vom 4. bis 7. Juni 2003 veröffentlichte das Tageblatt dann erstmals Berechnungen der Sitzverteilung im Parlament, und versprach nichts weniger als Schätzungen, „wie die Parlamentswahlen ausgehen könnten“. Denn auch wenn die Veranstalter der Wahlumfragen bis heute betonen, dass sie bloß „Momentaufnahmen“ oder „Stimmungstrends“ liefern, liegt der kommerzielle und der politische Wert der Wahlumfragen in ihrer Doppeldeutigkeit als Prophezeiungen des Wahlausgangs. Die Verlage zahlen ihren Propheten Zehntausende Euro, um mit streng wissenschaftlicher Zahlenmystik die Zeichen der Zeit zu lesen und die Zukunft vorauszusagen.

Um die Sitzverteilung zu ermitteln, musste die Zahl der Befragten drastisch erhöht werden, was mit entsprechend höheren Kosten verbunden war. Statt der „üblichen 500 bis 1 000 Personen wurden deren 4 500 interviewt“, meldete Alvin Sold am 7. Juni 2003. Diese wurden laut Ilres-Generaldirektor Louis Mevis auch gefragt, wie sie 1999 gewählt hatten, um durch den Vergleich „Stichprobenkorrekturen zu machen“. Die Schwierigkeit bei der Prognose entsteht aber nicht bloß dadurch, dass manche Parteien in Umfragen über- und andere unterschätzt werden, so dass die Marktforscher ihre Ergebnisse mit mehr oder weniger Glück „korrigieren“. Der hohe Anteil von Wählern, die zwischen mehreren Listen panaschieren, und die manchmal an Zufall grenzende Zuteilung von Restsitzen machen die Prognosen nicht einfacher.

Deshalb legten sich die vom 31. März bis 3. April 2004 veröffentlichten letzte Umfrageergebnisse vor den Kammerwahlen vom 13. Juni 2004 nicht auf ein eindeutiges Ergebnis fest. Die Marktforscher konnten drei „Wackelsitze“ genannte Mandate nicht zuteilen. Einen Sitz im Zentrum konnten sie nicht CSV oder DP zuteilen, die tatsächlich die beiden Restsitze erhalten sollten. Einen Sitz im Süden konnten sie nicht LSAP oder den Grünen zuteilen, die beiden Restsitze gingen dann an die CSV und die LSAP. Im Norden konnten sie einen Sitz nicht LSAP oder ADR zuteilen, der Restsitz ging an die CSV. Auf Landesebene hatten mit Ausnahme der Linken/KPL alle Parteien ein bis zwei Mandate zu viel oder zu wenig bescheinigt bekommen.

Einen Monat vor dem Referendum vom 10. Juli 2005 über den Europäischen Verfassungsvertrag veröffentlichte RTL eine letzte TNS-Ilres-Umfrage, laut der 46 Prozent der Befragten für den Vertrag und 38 Prozent dagegen stimmten. Am Ende stimmten dann 56,52 Prozent der Wähler für den Vertrag. Der Unterschied von mehr als zehn Prozentpunkten ging auch auf 16 Prozent „noch Unentschiedene“ zurück.

Für die Kammerwahlen von 2009 legten sich die Marktforscher bei den „Wackelsitzen“ fest. In den letzten vor den Wahlen vom 7. Juni 2009 vom Tageblatt zwschen dem 27. und 30. April veröffentlichten Umfrageergebnissen teilten sie im Osten den künftigen Restsitz der CSV fälschlicherweise der ADR zu. Im Süden sollte der zweite Restsitz von vier nicht an die LSAP, sondern an die Linke gehen, im Zentrum bekam die CSV einen Restsitz und nicht die ADR. Landesweit war die CSV damit um zwei Mandate unter- und die ADR um zwei Mandate überschätzt worden. Die LSAP hatte einen Sitz zu viel und die Linke einen zu wenig zugestanden bekommen.

Bei den überstürzten Kammerwahlen vom 20. Oktober 2013 stimmten nur für die CSV die vom 12. bis 15. Juni 2013 veröffentlichen Umfrageergebnisse mit dem tatsächlichen Wahlergebnis überein. Dagegen waren die späteren Regierungsparteien LSAP und DP jeweils um zwei Mandate unterschätzt und die Grünen um zwei Mandate überschätzt worden. ADR und Linke erhielten je ein Mandat weniger, als das Tageblatt sie vier Monate zuvor hoffen ließ. Ein im Osten der ADR zuerkannter Restsitz ging in Wirklichkeit an die DP, der zweite von drei Restsitzen im Norden ging an die LSAP und nicht an die ADR, im Zentrum ging der zweite Restsitz an die DP und nicht an die LSAP. Im Süden hatten Grüne und Linke je ein Mandat zu viel, LSAP und ADR eins zu wenig in Aussicht gestellt bekommen.

Der Vergleich zwischen den seit 2003 veröffentlichten Wahlprognosen und den Wahlergebnissen zeigt einige Konstanten, die es auch bei der Lektüre der derzeitigen Wahlumfragen zu beachten gilt: Pro Wahlgang wurden die Ergebnisse von einer, höchstens zwei Parteien korrekt vorausgesagt. Am auffälligsten waren die Abweichungen bei Referenden, deren Ergebnisse am eindeutigsten sind. Die CSV und die DP wurden eher unterschätzt, nie überschätzt. Die Grünen wurden meist überschätzt, nie unterschätzt. Die ADR wurde systematisch überschätzt, wobei sie möglicherweise die Partei ist, deren Ergebnis am meisten „nachgebessert“ wurde, weil die Marktforscher davon ausgingen, dass mehr Leute die ADR wählen, als sie zugeben wollen.

Das Referendum vom 7. Juni 2015 wurde zu einem Fiasko auch für TNS-Ilres. In der letzten, von Luxemburger Wort und RTL am 6. Mai 2015 veröffentlichten Wählerbefragung hatte sie nur einen Monat zuvor das Ja zur Senkung des Wahlalters um neun Prozentpunkte, zur Begrenzung der Mandate um 16 Prozentpunkte und zum legislativen Ausländerwahlrecht sogar um 18 Prozentpunkte überschätzt – aber zumindest war es für einen guten Zweck. Der damalige Firmenleiter und heutige grüne Kandidat Charles Margue erklärte diese Abweichungen gegenüber dem Luxemburger Wort vom 9. Juni 2015 „durch ein massiv verändertes Stimmungsbild“. Um „eine genauere Prognose zu bekommen, hätte unser Institut genauer die Wahlabsichten der Bürger erfragen können und verschiedene Korrekturen und Gewichtungen vornehmen können“.

Romain Hilgert
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