Aussage des anonymen Zeugen von RTL

Der schwarze Prinz

d'Lëtzebuerger Land vom 17.11.2005

Seit RTL vergangene Woche einen anonymen Zeugen vorführte, der 1985, kurz vor einem Sprengstoffanschlag auf das automatische Landeleitsystem des Flughafens, einen „aus dem Hei elei und der Öffentlichkeit“ bekannten Prominenten in der Umgebung des Tatorts erkannt haben will, sind nicht mehr der Index und die Arbeitslosigkeit Tagesthemen, sondern, wie vor 20 Jahren, die Bommeleeër. Und seit sich Premier Jean-Claude Juncker am Freitag wie sein Parteimaskottchen Xorro überraschend in die Schlacht warf, um dem Mann nach all den Jahren doch noch Gehör zu verschaffen, stehen die Aussichten nicht schlecht, dass die im Laufe der Zeit zu Comicfiguren verkommenen Attentäter wieder zur Staatsaffäre werden.

In der Attentatserie zwischen Frühjahr 1985 und 1986 wurden innerhalb eines Jahres eineinhalb Dutzend bis heute unaufgeklärte Sprengstoffanschläge verübt. Sie waren in der Regel nicht gegen Personen, sondern gegen öffentliche Einrichtungen gerichtet. Nach ersten Erpressungsversuchen sollten die Auswahl der Ziele und die Regelmäßigkeit der Anschläge die Ohnmacht der Justiz und der Polizei vorführen. Die radikalliberale Entscheidung der Bommeleeër, Personen und Privateigentum zu schonen und stattdessen lieber Eigentum der Allgemeinheit zu beschädigen und den Staat lächerlich zu machen, trugen dazu bei, dass sie im Laufe der Zeit zu einem nationalen Mythos wurden, zu heimlich belächelten Räuberkönigen wie der einst die Autorität verspottende Wegelagerer Schënnergehanes.

Da die Ermittlungen seit 20 Jahren weitergehen, sind die Straftaten bis heute nicht verjährt. In den letzten Jahren wurden die Untersuchungen sogar wieder intensiviert, auch wenn die Absichten dahinter nicht eindeutig sind: wird von verbesserten Kriminaltechniken, wie Profiling und DNA-Analysen, doch noch die Überführung der Täter erhofft, oder soll die mancherseits verlangte ergebnislose Einstellung der Ermittlungen vorbereitet werden?

Um aus der Urban legend Bommeleeër wieder eine Staatsaffäre zu machen, trug Premierminister Jean-Claude Juncker am Freitag das Seine dazu bei, als er dem im Fernsehen gehörten Zeugen öffentlich ein Treffen anbot, um seine Aussagen an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Der Mann hatte sich beschwert, dass er seinerzeit seine Aussagen nie ordnungsgemäß zu Protokoll geben durfte, sondern stattdessen von Sicherheitsbeamten bedroht und beschattet worden sei, damit er für sich behalte, wen er auf dem Weg zur Frühschicht am Flughafen erkannt zu haben glaubte.

Weshalb sich der Premier – zum  Leidwesen mancher seiner Ministerkollegen – nach 20 Jahren so weit aus dem Fenster lehnte und sich in den Augen der Öffentlichkeit nun auch selbst politisch unter Erfolgszwang setzte, darüber kann nur spekuliert werden. Möglicherweise will er die Gelegenheit nutzen, um endlich einen Schlussstrich zu ziehen, ohne als jemand zu erscheinen, der hilft, die Staatsräson über das Recht zu stellen. Selbst auf die Gefahr hin, dass er als Chef der Exekutive mit dieser ungewohnten Einmischung die mit der Ermittlung befasste Justiz desavouierte.

Am Montagabend kam es dann zu dem mit Hilfe von RTL inszenierten Treffen zwischen dem Regierungschef und dem Zeugen, einem inzwischen pensionierten Arbeiter und, wie Juncker, langjährigen LCGB-Mitglied. Im Laufe des Gesprächs ließ sich der Premierminister und oberste Dienstherr des Service de renseignements dann anvertrauen, was er längst wusste und seit 20 Jahren jeder Stammtisch heiter kolportiert: dass sich in der fraglichen Nacht  Prinz Jean Nassau aka de Luxembourg, ein Bruder des Großherzogs, in einem Auto voller Elektrokabel in der Umgebung des späteren Tatorts aufgehalten haben soll.

Juncker informierte, wie versprochen, den Staatsanwalt. So dass es nun an der Untersuchungsrichterin ist, doch noch oder noch einmal herausfinden, wer in jener Nacht im Auto saß: Hat der Zeuge den Prinzen erkannt oder liegt eine Verwechslung vor? Und selbst wenn keine Verwechslung vorläge, sagt eine nächtliche Anwesenheit am Flughafen nichts über irgendeinen Zusammenhang mit dem späteren Anschlag aus. Schließlich hatte der Zeuge selbst einen guten Grund, um ebenfalls zu jenem Zeitpunkt an besagtem Ort zu sein.

Während Justizminister Luc Frieden und Staatsanwalt Roby Biever vorgestern dem parlamentarischen Rechtsausschuss noch einmal die Prinzipien der Unschuldsvermutung und des Untersuchungsgeheimnisses einbläuten, empfing Großherzog Henri seinen Regierungschef in Audienz. Nach dem Krach der Großherzogin mit ihrer inzwischen verstorbenen Schwiegermutter und den unverhofften Vaterfreuden seines Teenagersohnes möchte der Staatschef wohl nicht unbedingt mit weiteren Familiengeschichten ins Gespräch kommen – wie wahr oder unwahr sie auch immer sein mögen.

Denn ganz unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage hat der Luxemburger Prinz, der sechs Monate nach dem abrupten Ende der Anschlagserie 1986 auf seine Thronfolgerechte verzichtet hatte und seither im Ausland in der Privatwirtschaft aktiv ist, keine guten Karten. Er erfüllt nur zu gut alle Erwartungen, die an eine Urban legend gestellt werden.

Kaum eine Legende ist beliebter und langlebiger als diejenige, die das populäre Vorurteil bedient, dass „déi Déck“ hinter dem Rücken des unschuldigen kleinen Mannes ungestraft ihren finsteren Geschäften und Intrigen nachgehen können. Ganz gleich, ob es sich darum handelt, wie „das Wundermädchen Klara Moes Luxemburgs Bischöfe stürzte und auf den Thron brachte“ (Mathias Tresch alias Leo Montanus, Aus dem Tagebuch einer hysterischen Nonne, Frankfurt/M., 1912) oder hinter dem gewandten Dieb Monsieur Julien der Sohn eines CSV-Premiers vermutet wurde, ob Buergfridd-, Valissen- oder Jorhonnertaffär, wichtiger, als der Wahrheitsgehalt dieser Geschichten ist die Bestätigung der Volksweisheit, dass man die Kleinen hängt und die Großen laufen lässt. Nimmt sich der Oberste Gerüchtshof dann sogar eines leibhaftigen Prinzen und Bruders des Staatsoberhaupts an, wird er in dieser Tradition zum schwarzen Prinzen der blütenweißen Herrscherfamilie und zum geheimnisvollen Mann mit der eisernen Maske romantisiert.

Der Nachteil solcher Urban legends ist, dass sie als simpel gestrickte Ersatzerklärungen eine komplexe Wirklichkeit eher verschleiern als erhellen und ungewollt – oder vielleicht sogar gewollt – den Blick auf politische Zusammenhänge versperren. Immerhin fanden die Anschläge der Bommeleeër pünktlich zu einem Zeitpunkt statt, als die letzte Schlacht im Kalten Krieg entschieden wurde und auch in anderen europäischen Staaten Serien von Terroranschlägen eine zuerst in Italien erprobte „Strategie der Spannung“ verfolgten.

Als hierzulande die Bommeleeër umgingen, terrorisierten die Tueurs du Brabant, die Cellules communistes combattantes und Neonazigruppen das benachbarte Belgien. Am selben Tag, als der Sprengstoffanschlag auf das Landeleitsystem des Findel verübt wurde, wurden im Kaufhaus Delhaize von Alost acht Menschen wahllos erschossen. Auch diese Verbrechen bleiben seit 20 Jahren weitgehend unaufgeklärt. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss brachte Indizien zusammen, die vermuten lassen, dass Geheimdienste, Polizeibeamte und Neonazis an dem Versuch beteiligt waren, in diesen „bleiernen Jahren“ die Öffentlichkeit einzuschüchtern und den belgischen Staat zu destabilisieren.

Auch hierzulande zeigten sich Regierungsmitglieder und Ermittlungsbeamte schon 1985 überzeugt, dass die Bommeleeër über tagesaktuelle Informationen aus Polizei- oder Gendarmeriekreisen verfügten, um ihre Anschläge ungehindert verüben zu können. Die späten Hausdurchsuchungen bei Polizei und Nachrichtendienst vor zwei Jahren lassen einen Verdacht der Ermittler vermuten, dass diese Korps in der Vergangenheit eher zur Vertuschung als zur Aufklärung der Anschlagserie beitrugen. Neben dem üblichen Maß an Schluderei könnte die Staatsräson also gleich zwei gute Gründe gehabt haben.

Romain Hilgert
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