Die Linke und die Flüchtlingsfrage

Links genug

d'Lëtzebuerger Land vom 15.06.2018

Es gibt die Hufeisen-Theorie. Sie besagt, dass politische Menschen in ihrer Weltanschauung soweit nach links rücken können, bis sie plötzlich rechts stehen. Auf die Metaebene gehoben bedeutet dies, dass sich die politischen wie gesellschaftlichen Positionen im linken wie im rechten Extremismus so sehr ähneln, dass sie kaum noch unterscheidbar sind. Die Motive mögen sich noch differenzieren lassen, die Standpunkte hingegen kaum. Es mag sein, dass der Parteitag der Partei Die Linke vom vergangenen Wochenende dazu ein anschauliches Praxisbeispiel lieferte.

Die Beweisführung: Zwei Tage und über viele und lange Parteitagsreden hinweg köchelte der innerparteiliche Konflikt um die Flüchtlingspolitik, bis es am Sonntagnachmittag zur Eskalation kam und die Sollbruchstelle zwischen Partei- und Fraktionsspitze offen zu Tage trat. Die Delegierten entschieden sich – mit nur einer Stimme Mehrheit – zu einer Debatte über die Flüchtlingspolitik, so wie sie die Parteispitze sieht einerseits und den Positionen von Sahra Wagenknecht andererseits. Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken im Bundestag, plädiert für eine andere Migrationspolitik, die – im Gegensatz zu derjenigen der Partei – nicht länger diejenigen vernachlässige, die ohnehin an den Rand der Gesellschaft gedrängt würden. „Dass inzwischen mehr Arbeiter und Arbeitslose AfD wählen als SPD oder Linkspartei, sollte jedem progressiven Geist schlaflose Nächte bereiten“, sagt Wagenknecht – ganz nebenbei bemerkt: Horst Seehofer, Vorsitzender der CSU, argumentiert ebenfalls so. Wagenknecht weiter: Stattdessen pflegten weite Teile der Linken „ihr eigenes gutes Gefühl in einer Willkommenskultur, um dann die realen Verteilungskämpfe in ein Milieu zu verbannen, das sich weit weg vom eigenen Leben befindet“. Sahra Wagenknecht steht mit dieser Position keinesfalls alleine in ihrer Partei da.

Eine bessere linke Politik, so die Forderung von Wagenknecht, zeichne sich durch die Bereitschaft aus, „auch und gerade denjenigen in der Gesellschaft zu helfen, die selbst schon an den Rand gedrängt sind.“ Bestand habe derzeit aber eine im Kern „absolute moralische Forderung: Kein Mensch ist illegal, die Grenzen müssen offen für alle sein, die kommen wollen, und jeder, der kommt, hat Anspruch auf die landesüblichen Sozialleistungen, so lange er keine Arbeit findet.“ Den Vorwurf, diese Abwägung spiele Arme, sozial Vernachlässigte auf der einen Seite und Flüchtlinge auf der anderen gegeneinander aus, weist sie ebenso zurück wie die Kritik, sich mit diesem Standpunkt zum „Büttel der AfD“ zu machen. Denn, so argumentiert Wagenknecht, ignorierten solche Vorwürfe „die Realität, in der genau diese Kämpfe stattfinden, egal ob sie den Politikern genehm sind oder nicht“. Zum anderen sei vor allem der Vorwurf des AfD-Büttels eine „gefährliche“ Ausgrenzung: „Denn wie nennt man den Nazi, wenn jeder ein Nazi ist, der nicht meiner Meinung ist?“ Willkommen in der Beweisführung der Hufeisen-Theorie.

Gegen diesen Kurs stemmt sich die Parteiführung. Katja Kipping, am Wochenende bestätigte Co-Chefin der Linken, entgegnete auf dem Parteitag: „Wir stehen auf der Seite aller Entrechteten, vor dem Jobcenter, vor dem Werkstor und auch der Entrechteten auf den Fluchtrouten. Sie kenne diejenigen, die einen Flüchtling als Nachbarn als Bedrohung sähen und auch diejenigen, die ihn als Bereicherung empfänden. Es müsse der Linken darum gehen, Modernisierungsskeptiker und -optimisten „in gemeinsamen Kämpfen zusammenzubringen.“ Kipping wandte sich auch gegen die Vorwürfe der Ehepartner Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht, die Parteiführung setze zu sehr auf die junge, urbane Schicht aus dem grünen Milieu und vernachlässige die Ansprache der Arbeitnehmer und Arbeitslosen. „Ich sehe bei den neuen Mitgliedern keine neuen grünen Hipster“, entgegnete Kipping. Die Linke brauche die Generation des 21. Jahrhunderts. In jüngster Zeit hatte die Partei viele neue Mitglieder gewonnen, vor allem unter jungen Menschen in Großstädten. Bernd Riexinger, der andere Co-Vorsitzende, sprach sich in seiner Parteitagsrede für „legale Fluchtwege und offene Grenzen“ aus. Um die Errichtung von Grenzen könnten sich andere Parteien kümmern, die Linke aber sei die Partei des Humanismus. Sahra Wagenknecht spendete Riexingers Rede nur zögerlich Beifall.

Dieser Zwist stellt die Partei auch vor ein Dilemma. Oder ein Paradoxon. Denn Die Linke empfindet sich nicht nur als eine Partei, die besser ist als alle anderen Parteien, sondern als die Partei des Guten schlechthin. Was aber, wenn das „Böse“ in den eigenen Reihen sitzt und Zuspruch bekommt? Um dem entgegenzuhalten, gab es am vergangenen Wochenende zum Parteitag die bekannten Phrasen und Schlagworte, zu dem, was man alles ist, und zu dem, was man zudem noch sein will: solidarisch, international solidarisch, auch mit Flüchtlingen, gegen Hass, gegen die Rechten, gegen die Neoliberalen, feministisch, antifaschistisch, antirassistisch, antiautoritär, antinationalistisch, anitmilitaristisch und antikapitalistisch, gut, hilfsbereit und edel. Die Linke will „gemeinsam“ für eine bessere Welt kämpfen. Doch wie soll das gelingen, wenn die Parteispitze nicht einmal eins ist. Oder in der Hufeisen-Theorie: indem man sich vom rechten Spektrum abgrenzt, indem man dessen Positionen übernimmt. Oder: indem man diese eine eigene Politik, eigene Standpunkte entgegensetzt.

Martin Theobald
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