Lenk- und Ruhezeiten im Straßengüterverkehr

Attacke auf den Tag des Herrn

d'Lëtzebuerger Land du 24.01.2002

Während in Luxemburg schon ab 1. Januar 1971 per Gesetz die Arbeitszeit für Arbeiter auf zunächst 44 und ab 1. Januar 1975 auf 40 Stunden die Woche festgelegt wurde, wird im Transportsektor erst 30 Jahre später eine Diskussion über die Begrenzung der wöchentlichen Arbeitszeit geführt. Weil die Branche von der allgemein gültigen Regelung über die Dauer der Arbeitszeit ausgeschlossen ist, mussten die Gewerkschaften eine Regelung in den Kol-lektivverträgen vorsehen.

Aber auch wenn in den Kollektiv-verträgen für Bus- und Lkw-Fahrer von der 40-Stunden-Woche die Rede ist, haben die Spediteure und Busunternehmer durchaus die Möglichkeit, das vertraglich festgelegte Limit zu überschreiten. Dabei berufen sie sich meist auf die EG-Verordnung 3820/85 über die Lenk- und Ruhezeiten im Straßentransport. Diese Verordnung vom 20. Dezember 1985 hat zum Ziel, die Verkehrs-sicherheit zu erhöhen und einige Sozialvorschriften innerhalb der EU zu harmonisieren. So soll die tägliche Lenkzeit nicht mehr als neun Stunden und die Tagesruhezeit mindestens elf Stunden betragen. Aber wie so oft, bietet auch dieser Text großzügige Freiräume. So kann die tägliche Lenkzeit innerhalb von sechs Tagesschichten zweimal auf zehn Stunden herauf- und die Tagesruhezeit dreimal die Woche auf neun Stunden herabgesetzt werden. Wenn ein Transports von zwei Fahrern durchgeführt wird, kann die tägliche Ruhezeit sogar auf acht Stunden sinken. Zusätzliche Flexibilität wird mit der Doppelwoche er-reicht: Innnerhalb von zwei Wochen soll die Lenkzeit 90 Stunden nicht überschreiten. Nach sechs Tages-schichten soll eine Wochenruhezeit eingelegt werden. Die Sechs-Tage-Regelung gilt jedoch nur für Brum-mifahrer. Busfahrer im Reiseverkehr können bis zu zwölf Tage hintereinander eingesetzt werden, bevor sie Anrecht auf eine Wochenruhezeit haben. Die wiederum soll mindestens 45 Stunden betragen, kann aber auf 36 verkürzt werden, und gar auf nur 24, wenn die Wochenruhezeit im Ausland ge-nommen wird.

Während fehlende Tagesruhezeiten in der darauffolgenden Woche ausgeglichen werden müssen, hat der Arbeitgeber drei Wochen Zeit, dem Fahrer die fehlende Wochenruhezeit zu gewähren. Mit Unterstützung der Brüsseler Funktionäre schreiben die Arbeitgeber dem Kraftfahrer also vor, wann er gefälligst seine Müdigkeit durch ein bisschen Schlaf ausgleichen darf. In anderen Worten: Der Fahrer darf nicht schlafen, wenn er müde ist, sondern hat seine Müdigkeit schlimmstenfalls bis zur dritten folgenden Woche aufzubewahren.

Weil die Verordnung 3820/85 lediglich die Lenk- und Ruhezeiten im Straßentransport definiert, verliert sie kein Wort über eventuelle andere Arbeiten, die der Bus- oder Lkw-Fahrer verrichten muss, und die oftmals die gleiche Anzahl an Stunden in Anspruch nehmen wie die Lenkzeit. Zu diesen Arbeiten gehören die mitunter langen Be- und Entladezeiten bei den Kunden in den Fabrik-höfen, Wartezeiten im Stau oder an den Grenzen oder auch Unterhaltsarbeiten am Fahrzeug. Diese so genannten "anderen Arbeiten" erlauben es den Kraftfahrern oft nicht, die vorgeschriebenen Tages- oder Wochenruhezeiten einzuhalten. Einige versuchen das zu vertuschen, indem sie das Kontrollgerät in ihrer Fahrerkabine absichtlich falsch bedienen und es beispielsweise beim Be- und Entladen auf "Ruhezeit" statt auf "andere Arbeiten" einstellen. Die Tachoscheibe im Kontrollgerät zeigt dann an, der Fahrer habe geschlafen, während er in Wirklichkeit seinem Arbeitgeber zur Verfügung stand. Bei einer Straßenkontrolle ist meist nicht mehr nachzuvollziehen, was der Fahrer tatsächlich gemacht hat, un d so entgehen viele den zum Teil saftigen Geldstrafen mit anschließendem Prozess, der je nach Schwere des Verstoßes ein Fahrverbot mit sich bringen kann. Auch greifen zahlreiche Berufskraftfahrer gerne auf die vom Arbeitgeber vor der Abfahrt ausgehändigten gefälschten Urlaubsbestätigungen zurück, die vortäuschen sollen, der Fahrer habe Urlaub gehabt, obwohl er gearbeitet hat. Gerät der Fahrer in eine Straßenkontrolle und hat er gegen die vorgeschriebenen Lenk- oder Ruhezeiten verstoßen, überreicht der den Kontrollbeamten einfach den ge-fälschten Urlaubsschein. Die Praxis, dass Betriebe den Fahrern mehrere blanko vom Chef unterzeichnete Urlaubsbestätigungen mit auf den Weg geben und der Fahrer je nach Bedarf nur noch das Datum seines angeblichen Urlaubs ausfüllen muss, hat sich in vielen Mitglieds-staaten breitgemacht. Gewerkschaften und Kontrollbeamte sind jedoch nach einer gewissen Zeit hinter diese illegalen Praktiken gekom-men, so dass in zahlreichen EU-Staaten Urlaubsbescheinigungen nicht mehr anstandslos als Beweis für einen auch tatsächlich angetretenen Urlaub akzeptiert werden.

Alle Versuche, die vorgeschriebenen Lenk- und Ruhezeiten zu umgehen, können schwerwiegende Folgen für die Gesundheit der Kraftfahrer selbst, aber auch für alle anderen Verkehrsteilnehmer ha-ben. Die Zahl der Unfälle, in die auch Lkws oder Busse verwickelt waren, ist in den letzten Jahren gestiegen, und eine von der Internationalen Transportarbeiterföderation ITF in Auftrag gegebene Studie kam zur Schlussfolgerung, dass statistisch gesehen einer von zehn Verkehrsunfällen in Europa von einem Lkw verursacht wird. In über 40 Prozent war Übermüdung des Fahrers die Unfallursache.

Nun sollen geringe Abänderungen der Verordnung 3820/85 Abhilfe schaffen und die Verkehrssicherheit erhöhen. Die Europäische Transportkommission hat dazu ein Projekt vorgelegt, das Gegenstand von Diskussionen und Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene sein wird. Fest steht jetzt schon: Die Forderungen der ETF (Europäische Transportarbeiterföderation) nach einer Verringerung der Lenkzeiten und einer Erhöhung der Ruhezeiten hat die EU-Kommission in keinster Weise berücksichtigt.

Stattdessen verspricht man sich in Brüssel durch noch mehr Flexibilität eine Verbesserung der Verkehrssicherheit. Zwar sollen einige Ausnahmeregelungen gestrichen und die Sanktionen bei Zuwiderhandlungen verschärft werden; beispielsweise die Beschlagnahmung des Fahrzeugs durch die Kontrollbeamten. Gleichzeitig aber soll die flexible Woche eingeführt werden. Gegenwärtig gilt der Zeitraum von Montag 0.00 Uhr bis Sonntag 24.00 Uhr als Arbeitswoche. Im Textvorschlag der Kommission wird als die "flexible Woche" der Zeitraum zwischen dem Ende einer Wochenruhezeit und dem Beginn der nächs-ten Wochenruhezeit aufgefasst. Damit müsste eine Wochenruhezeit nicht mehr notwendigerweise auf einen Sonntag fallen, sondern könnte an einem beliebigen Wo-chentag genommen werden. Die europäischen Transportarbeitergewerkschaften deuten diese neue Definition der Woche als Versuch, das in zahlreichen EU-Mitgliedsstaaten bestehende Sonntagsfahrverbot abzuschaffen - mit der Folge, dass die Brummis auch an Sonntagen un-terwegs wären, die traditionell den Pkw-Fahrern vorbehalten sind. Vor allem in der Sommersaison könnte so der Reiseverkehr erheblich behindert werden. Doch auch hier scheint die EU-Kommission schon einige Lösungsvorschläge in ihren Schubläden zu haben, denn die Diskussion um eine eventuelle Lockerung bzw. Abschaffung des Sonntagsfahrverbots ist nicht neu. Zumindest sollen bestimmte Korridore, also Hauptautobahnachsen, auch sonntags für den Lkw-Verkehr frei gegeben werden. Ausnahmen während der Reisesaison werden zur Zeit studiert. Mit Ausnahme der Stellungnahmen der Arbeitgeberlobby, die es kaum erwarten kann, ihre Lkws auch an Sonn- und Feiertagen einzusetzen, liegt von offiziel-ler Seite zu diesem Thema jedoch noch nichts Konkretes vor. Die Definition der so genannten flexiblen Woche könnte ein Anfang sein. Wie damit die die Verkehrssicherheit verbessert werden soll, hat die EU-Kommission freilich noch nicht erläutert, und es ist abzusehen, dass die Abänderung der Verordnung 3820/85 über die Lenk- und Ruhezeiten die Sozialpartner noch etliche Monate beschäftigen wird.

Eine wesentliche Neuerung stellt aber ohne Zweifel die Kompromissformel über eine Arbeitszeitrichtlinie für mobile Beschäftigte in der EU dar. Da die Verordnung 3820/85 lediglich die Lenk- und Ruhezeiten regelt, der Kraftfahrer seinem Ar-beitgeber aber darüber hinaus zahlreiche Stunden für die "anderen Arbeiten" zur Verfügung stellt, musste auf europäischer Ebene etwas in Sachen Arbeitszeit geschehen. Weil der Transportsektor von der allgemeinen europäischen Arbeitszeitrichtlinie ausgeschlossen ist, bastelten die Sozialpartner gemeinsam mit der Kommission jahrelang an einer diesbezüglichen Richtlinie. Vor sechs Jahren began-nen die Diskussionen, doch die Sozialpartner wurden sich nicht einig. Die Arbeitgeberseite, vertreten durch ihre internationale Föderation IRU, verlangte erwartungsgemäß mehr Flexibilität. Zwar zeigten die Arbeitgeber sich mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 48 Stunden einverstanden, forderten aber im Gegenzug eine Referenzperiode von mindestens einem Jahr und eine weniger strenge Regelung der Nacht-arbeit. Für die euro-päischen Trans-portarbeitergewerk-schaften war das un-annehmbar. Nachdem die Verhandlungen ge-scheitert waren, unterbreitete die Kommission einen neuen Vorschlag, dem aber weder das Europaparlament, noch der Verkehrsministerrat zu-stimmte. Vorbehalte hatten in erster Linie die skandinavischen Staaten, Großbritannien, Spanien und die Niederlande. Sie forderten mehr Flexibilität und machten ihre Zusage zur Arbeitszeitrichtlinie zeitweise sogar von der Aufhebung des Sonntagsfahrverbots abhängig. Nachdem es fast so aussah, als ob keine Einigung über die Arbeitszeitrichtlinie zu finden sei, einigten sich Europaparlament und Verkehrsministerrat am vergangenen 17. De-zember im Rahmen einer Schlichtungsprozedur doch noch auf einen Kompromisstext. Der Text muss nun noch offiziell vom Europaparlament und vom Ministerrat angenommen werden. Das wird voraussichtlich im Februar der Fall sein.

Der Kompromiss hält fest, dass die Arbeitszeit innerhalb von vier Monaten durchschnittlich 48 Stunden be-trägt. In einer isolierten Woche darf sie 60 Stunden nicht überschreiten. Die Referenzperiode kann auf sechs Monate ausgedehnt werden. Der Text enthält außerdem eine klare Definition der Arbeitszeit. Zu ihr zählen künftig neben der reinen Lenkzeit auch das Be- und Entladen, Reinigungs- und Wartungsarbeiten sowie Wartezeiten, während denen der Fahrer nicht frei über seine Zeit verfügen kann. Als Bereitschaftszeit zählen andere Arbeiten, wie die Zeiten, die der Fahrer auf einer Fähre, in einem Zug oder an den Grenzen verbringt, sowie Wartezeiten, die der Fahrer damit verbringt, einen eventuellen Telefonanruf entgegenzunehmen, um einen bevorstehenden Transport zu übernehmen. Damit diese Zeiten als Bereitschaftsdienst betrachtet werden können, müssen sie dem Fahrer im Voraus bekannt sein. Andernfalls handelt es sich um Arbeitszeit. Nachtarbeit darf laut Textvorschlag während höchstens zehn Stunden innerhalb einer Zeitperiode von 24 Stunden geleistet werden. 

Die Verordnung soll auf alle lohnabhängigen Kraftfahrer anwendbar sein, unabhängig davon, ob sie Werkstransporte oder Transporte im Auftrag von Drittpersonen tätigen. Ausgeschlossen bleiben einstweilen die (schein)selbständigen Fahrer. Womit eine der Hauptforderungen der europäischen Transportarbeitergewerkschaften nicht erfüllt wurde. Die ETF hat sich stets dafür eingesetzt, auch selbstständige Fahrer in diese Richtlinie einzubinden. In der Tat ist das Problem der Ein-Mann-Betriebe im Transportsektor in vielen EU-Staaten zu einem ernsthaften Problem geworden. Ehemalige Lohnabhängige bekommen von ihrem Arbeitgeber angeboten, "ihren" Lkw doch selbst zu übernehmen - gegen ein kleines Entgelt, das monatlich an die Mut-terfirma zu zahlen wäre. Meistens handelt es sich dabei nicht um die neuesten Lkw-Modelle. Die Aufträge bekommen die frisch gebackenen "Unternehmer" weiterhin von der Mutterfirma. Es ändere sich für sie überhaupt nichts, heißt es, mit der Ausnahme, dass sie nun endlich ihr "eigener Herr" seien. Viele Fahrer fallen auf den Schwindel herein und merken erst, wenn es zu spät ist, dass sie nun nicht mehr kollektivvertraglich abgesichert sind, kein Recht mehr auf Urlaub haben, nunmehr selbst für ihre Sozialversicherungsbeiträge und ihre Steuern aufkommen müssen und ihrem Auftraggeber restlos ausgeliefert sind. Ihre soziale Lage hat sich im Vergleich zu früher deutlich verschlechtert. Um kostendeckend zu fahren, haben selbstständige Fahrer nur ein Ziel: Es wird gearbeitet, bis an die Grenzen der physischen und psychischen Belastbarkeit. Diese Fahrer also sollen laut Kompromiss zwischen Europaparlament und Ministerrat in einer ersten Phase nicht unter die Bestimmungen der Arbeitszeitrichtlinie fallen. Erst fünf Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie will die Europäische Kommission überprüfen, ob und wann die selbständigen Fahrer sich an die Arbeitszeitrichtlinie halten müssen.

Für die Gewerkschaften war das ein harter Rückschlag: Sozialdumping soll nun offiziell werden. Wie ist es zu vertreten, dass eine Arbeitszeitrichtlinie, die, wie in der Einleitung zu lesen steht, zum Ziel hat, sowohl die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz als auch die Verkehrssicherheit im Allgemeinen zu sichern und zu verbessern, von einem Teil der Beschäftigten eingehalten werden muss und von einem anderen Teil nicht? Dem unlauteren Wettbewerb wird Tür und Angel geöffnet, und es ist zu befürchten, dass noch mehr Kraftfahrer in die Scheinselbstständigkeit gedrängt werden.

Fest steht, dass mit diesen Arbeitsbedingungen immer mehr Arbeitnehmer sich vom Beruf abwenden werden. Wobei zu unterstreichen ist, dass in den meisten EU-Mitgliedsstaaten die Tätigkeit "Berufskraftfahrer" nicht einmal als Beruf anerkannt ist, da weder eine Berufsausbildung noch eine Weiterbildung obligatorisch ist. In Luxemburg werden seit 1992 nicht einmal mehr Kurse für Berufskraftfahrer angeboten - ein Zustand, von dem Unterrichtsministerin Anne Brasseur vor zwei Jahren von Gewerkschaftsseite aus ins Bild gesetzt wurde. Trotzdem hat sie es bis heute nicht für nötig gefunden, die versprochene Bildungsoffensive in die Tat umzusetzen. Transportminister Henri Grethen möchte mit der Einführung des Punkteführerscheins anscheinend alles daran setzen, auch die letzten noch verbliebenen Berufskraftfahrer aus ihrem Beruf zu jagen. Und die Arbeitgeber werden nicht müde zu klagen, sie fänden keine Berufsfahrer mehr.

 

Der Autor ist Sekretär des OGB-L-Transportsyndikats Acal.

 

Hubert Hollerich
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