Ob Hochwasser wie im Ernztal häufiger werden, ist schwer zu sagen, aber in der Vorbeugung bleibt viel zu tun. Die Regierung beschloss, das stärker zu bezuschussen – zufällig am Morgen des 22. Juli

Das Ernztal ist überall

d'Lëtzebuerger Land du 05.08.2016

Es war ganz schnell gegangen am Abend des 22. Juli. Der Platzregen, der über dem Osten des Landes niederging, war so stark, dass die Weiße Ernz mancherorts innerhalb von nur 20 Minuten meterhoch aus ihrem Bett stieg. Dörfer füllten sich mit Schlammlawinen, Häuser wurden überflutet, Autos fortgerissen. In Ermsdorf stürzte eine Brücke ein. Rettungskräfte waren allein zwischen 20 und 23 Uhr in den Gemeinden Ärenzdall, Fels, Nommern und Reisdorf an die 300 Mal im Einsatz. Auch in die Gebäude von Trinkwasserquellen drang das Hochwasser ein, so dass die Quellen vorsorglich geschlossen wurden. Die Regierung berief am Tag danach die Cellule de crise ein. Der Premier, die Umweltministerin, die Familienministerin und der Innenminister fuhren ins Hochwassergebiet. Innenminister Dan Kersch (LSAP) meinte beim Anblick der Schäden, das sei ein „Jahrhundertregen“ gewesen, und man könne von Glück sagen, dass keine Menschenleben zu beklagen waren.

Werden solche Katastrophen sich in Zukunft womöglich häufen? Jean-Paul Lickes, der Direktor des Wasserwirtschaftsamts, hatte das vergangene Woche gegenüber dem Radio 100,7 angedeutet und mit dem Klimawandel verknüpft. Dem Lëtzebuerger Land sagt er, „ich meine tatsächlich, dass wir uns auf mehr solche Ereignisse einstellen müssen“. Ein „Starkregen“ habe im Juni in Bettemburg das Stellwerk überflutet und wenig später sei ein weiterer Platzregen im Süden des Landes niedergegangen. Und Ende Mai ließen starke Regenfälle in Mondorf die Gander und die Grëmmelter Baach über die Ufer treten, waren Straßen und Keller überflutet worden. „Ähnliches wurde auch in den Nachbarregionen hinter der Grenze beobachtet.“ Und schon vor fünf Jahren habe eine große Studie der Internationalen Kommission zum Schutz des Rhein für dessen Zufluss-Regionen, darunter Luxemburg, aufgrund des Klimawandels eine Zunahme von „flash-flood events“, also Sturzfluten, bis Mitte des Jahrhunderts vorhergesagt.

Doch wie das oft so ist, wenn es um Klimaphänomene geht, sind Vorhersagen schwierig und Trends lassen sich nicht leicht festmachen. Der extreme Regen von 22. Juli, der innerhalb einer Stunde zehn Prozent der durchschnittlichen Jahres-Niederschlagsmenge in dem betreffenden Gebiet aufbrachte, sei „ein Ereignis, wie es statistisch gesehen alle 90 Jahre auftritt“, sagt Laurent Pfister, Hydrologe am Luxembourg Institute of Science and Technology (List). Das klingt beruhigend, ist es aber nicht unbedingt: „Das ist eine rein statistische Wiederholzeit. Sie schließt absolut nicht aus, dass solch ein Regen in einem Monat beispielsweise wieder auftreten könnte. Man kann das mit Erdbebenvorhersagen vergleichen.“

Hinzu komme, dass die Wasserwissenschaft weltweit dabei sei, ihre Modelle zu überdenken. Laurent Pfister findet, „wir brauchen noch ein besseres Prozessverständnis, um sagen zu können, wann so eine Sturzflut zu Hochwasser führt und inwiefern das in Zukunft so sein wird“. Noch vor zehn Jahren habe man geglaubt, „alles laufe in statistisch klar bestimmbaren Grenzen ab und würde in Zukunft nur stärker“. Seither stelle sich heraus, dass die Wechselwirkungen von Wetterphänomenen, Klima, Bodenbeschaffenheit, Landnutzung und vielen anderen Faktoren viel komplexer sind. Woraus folgt: Künftig kann alles auch schlimmer kommen, als bislang angedeutet wird. „Die Datenreihen in Luxemburg sind noch sehr jung, sie sind nur über die letzten zwei bis drei Jahrzehnte vollständig genug.“

Deshalb liefert auch eine andere Klima- und Hochwasserstudie nur Anhaltspunkte. Sie bezog sich vor zwei Jahren auf das Einzugsgebiet der Mosel. In Luxemburg fällt darunter das der Sauer. Denn dieser Fluss mündet in die Mosel, und bis auf die Chiers, die zum Einzugsgebiet der Maas gehört, fließen alle anderen Flüsse und Bäche der Sauer zu. Ergebnis: Voraussichtlich würden in Luxemburg zwischen 2021 und 2050 die Sommer trockener und die Winter umso feuchter. Extreme Hochwasser könnten bis 2050, von ihrer Wassermenge her, „moderat“, um durchschnittlich bis zu neun Prozent zunehmen, darunter sowohl Hochwasser, wie sie alle zehn Jahre, als auch solche, wie sie alle fünfzig und alle hundert Jahre auftreten. Aber ob der Trend jetzt schon eingesetzt hat? „Das wissen wir nicht“, sagt Laurent Pfister.

Bemerkenswerterweise hat die europäische Versicherungswirtschaft schon einen unguten Trend bei den „Starkregeneriegnissen“ festgestellt (siehe S. 4). Und einige Faktoren, die bei der Hochwasserbildung eine große Rolle spielen, sind gut genug bekannt – und Anlass zur Sorge. „Luxemburg liegt auf der Wasserscheide zwischen Rhein und Maas und hat deshalb viele kleine Flüsse und Bäche. Die treten schneller über die Ufer als die Mosel“, sagt Jean-Paul Lickes. „Wäre der Platzregen vom 22. Juli über der Moselregion niedergegangen, wäre das wahrscheinlich kaum aufgefallen.“

Ein zweiter Faktor ist die Topografie. Je enger Fluss- und Bachtäler sind, desto eher treten die Wasserläufe über die Ufer. „Entscheidend ist das Regenwasser, das von den Hängen herabfließt.“ Am 22. Juli war das so viel, dass der Wasserstrom in der Weißen Ernz 60 000 Kubikmeter pro Sekunde erreichte, „das ist fast so viel, wie die Mosel an normalen Tagen transportiert“, weiß Lickes. Und sagt: „Die Leute haben Recht, wenn sie berichten, dass der Fluss innerhalb von Minuten zur Flut wurde.“ Dass es da nicht zu Todesfällen kam, sei „ein Riesenglück“. Hätte jemand noch sein Auto in die Garage gefahren oder hätten die Urlauber auf den Campingplätzen nicht ihre Caravans verlassen, dann hätte schnell jemand in dem Hochwasser ertrinken können.

Dabei sei entlang der Weißen Ernz zum Hochwasserschutz schon viel geschehen, berichtet der Chef des Wasserwirtschaftsamts. Die Renaturierung des Flusses zwischen Reisdorf und Gonderingen zum Beispiel gilt in seiner Verwaltung und im Nachhaltigkeitsministerium als Vorzeigeprojekt. Und als Beispiel dafür, was im ländlichen Raum zum Hochwasserschutz in erster Linie zu tun ist: dem Wasser in den Flüssen und Bächen mehr Raum zum Ausbreiten geben. Das ist gegen Überschwemmungen durch Sommer-Platzregen genauso gut wie gegen Winter-Hochwasser, die in Luxemburg viel häufiger sind und vor allem im Januar auftreten; die schwersten ereigneten sich 1993, 1995, 2003 und 2011. Doch die Fluss- und Bachbetten durch Renaturierung auszuweiten, reicht nicht immer. „Entscheidend sind die Wassermengen, die von den Hängen herabfließen“, sagt Jean-Paul Lickes. „Befindet sich oben am Hang ein Plateau, dann sollte sein Boden möglichst nicht versiegelt sein, sonst ist der Abfluss nach unten umso stärker.“ Lickes vergleicht das Wasseraufkommen bei Hochwasser mit einer Glockenkurve: „Man muss ihr Maximum abflachen. Es sind die 25 Prozent Wassermenge unter dem Scheitel der Glocke, die große Schäden anrichten.“

Denn obwohl Hochwasserschutz hierzulande seit 1995, als ein erster Aktionsplan herauskam, systematischer betrieben wird, bleibt noch immer viel zu tun. Einzugsgebiete mit Hängen und versiegelten Plateaus gebe es viele. Das Mamer- und das Eischtal zum Beispiel seien akut hochwassergefährdet. Jean-Paul Lickes wohnt selber in Eischen. „Wäre der Platzregen vom 22. Juli bei uns niedergegangen – nicht auszudenken, was dann passiert wäre.“

Während im ländlichen Raum Renaturierung und Entsiegelung des Bodens die wichtigsten Stichworte sind, ist es im urbanen Raum das „Regenwassermanagement“. Gemeint damit sind vor allem Becken zur Zurückhaltung von Regenwasser. „Das müssen aber keineswegs riesige Betonbecken sein, das können auch grün bewachsene Mulden in den Siedlungen sein.“ Jean-Paul Lickes betont das so, weil die Regenwasserzurückhaltung noch längst nicht überall populär ist. Neue Siedlungen dürfen genehmigungsrechtlich ohne Rückhaltemaßnahmen nicht mehr angelegt werden. „Aber oft fehlt es daran weiter drinnen in den Gemeinden.“

Ein großes Thema sei auch nach wie vor die Entflechtung von Schmutz- und von Regenwasser in den Kanalisationen. Fließen beide zusammen, kann sich bei starkem Regen das Abwasser stauen. „Dann fliegen schlimmstenfalls die Kanaldeckel hoch.“ In Wohnsiedlungen sei die Kanaltrennung zwar schon Pflicht, aber darüber hinaus Sache der Gemeinden. Wie viel da noch zu tun bleibt, illustriert Jean-Paul Lickes mit dem Vergleich, dass „die Niederlande und Deutschland uns in der Hinsicht Jahrzehnte voraus“ seien. Insgesamt könne man den Hochwasserschutz so zusammenfassen: „Bei der Starkregen-Prävention sind wir noch nicht weit. Bei der Regen- und Schmutzwassertrennung muss noch viel geschehen, bei der Renaturierung auch, obwohl da schon viel angeschoben wurde. Bei der Minderung des Abflusses von Wasser aus den Hängen sind wir noch am Punkt Null.“ Das klingt nicht gut in einem Land, in dem das Wachstum besser gemanagt werden soll. Und wo in den nächsten Jahrzehnten das Hochwasserrisiko durch den Klimawandel noch zunehmen könnte.

Viel hängt davon ab, was die Gemeinden unternehmen. Sie haben Bauplanungshoheit auf ihrem Territorium, sind für die Trinkwasserversorgung und die Abwasserbehandlung zuständig sowie für die Infrastruktur beider Bereiche. Und geht es um Renaturierungen von Fluss- und Bachbetten, kann das Wasserwirtschaftsamt die Maßnahmen nur vorschlagen, in Auftrag geben muss die jeweilige Gemeinde. Allerdings sind Investitionen in die Wasserwirtschaft nicht nur generell weniger attraktiv wie in eine Schwimmhalle oder einen Kulturbau. Wenn schon Wasser, dann legen die Gemeinden die Priorität auf Trink- und Abwasser-infrastruktur.

Hinzu kommt bei Renaturierungen die Grundstücksfrage: „Hat man 99 Prozent der Flächen für eine Renaturierung aufgekauft und ein Besitzer legt sich quer, dann hängt man.“ Zwar sind Enteignungen für Renaturierungsmaßnahmen möglich, so steht es im Wassergesetz, doch bisher fand nicht eine einzige statt, wie das Nachhaltigkeitsministerium bestätigt. Die Gemeinden hielten das nicht für vordringlich, weil ihnen Trink- und Abwasser wichtiger sind.

Damit wird Hochwasserschutz Teil der großen Wasserpolitik, die immer wieder feststellt, wie viel noch zu tun bleibt, ob es um den Neu- und Ausbau von Kläranlagen geht, die Erneuerung von Leitungen oder eben die Renaturierung von Fluss- und Bachbetten. Oder die Einbeziehung der Landwirtschaft in den Hochwasserschutz, für den seit Ende 2015 ein neuer Plan zum „Maßnahmenmanagement“ vorliegt. Wie sensibel dieser Aspekt des Themas ist, zeigte die Reaktion der Agrarbranche auf das Interview, das der Wasserwirtschaftsamtsdirektor vergangene Woche dem Luxemburger Wort gab und dort zu sagen wagte, die Bewirtschaftungsweise der Flächen habe einen Einfluss auf deren Aufnahmefähigkeit für Regenwasser und damit auf den Wasserabfluss in Bäche und Flüsse. eNeuen Schub soll den Bemühungen der Plan zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels geben, den das Nachhaltigkeitsministerium bis Anfang kommenden Jahres vorlegen will. Bereits unter der vorigen Regierung war darüber diskutiert worden, aber wichtige Studien waren damals noch in Arbeit. Doch man wusste schon, dass „Anpassung an die Folgen des Klimawandels“ sehr stark mit Wasserwirtschaft zu tun haben würde. Jean-Paul Lickes meint, das sei in allen drei Benelux-Ländern so.

Es war Zufall, dass der Regierungsrat ausgerechnet am Morgen des 22. Juli eine Änderung am Wassergesetz guthieß, durch die die staatlichen Beihilfen für Maßnahmen zum Hochwasserschutz angehoben werden sollen. Ob die Gemeinden verstärkt zugreifen, sobald die Gesetzesänderung in Kraft ist, muss sich aber zeigen: Mehr Geld soll in den staatlichen Wasserfonds durch die Gesetzesänderung nicht gelangen, so dass durch die Änderung der Fördersätze am Ende weniger Mittel zur Bezuschussung von beispielsweise Abwasserbauten zur Verfügung stehen werden. Doch Pflicht für den Staat ist weder die Bezuschussung von Kläranlagen noch die von Renaturierungen. Laut Wassergesetz und EU-Wasserrahmenrichtlinie muss alles aus dem kostendeckenden Wasserpreis finanziert werden. Eigentlich, denn noch längst nicht alle Gemeinden wenden den kostendeckenden Preis an und Wasserschutz und Wasserwirtschaft wurden in Luxemburg vielerorts jahrzehntelang vernachlässigt. So dass in der Gesetzesänderung auch ein Versuch an politischer Pädagogik steckt, dessen Effekt sich in Erinnerung an die Platzregen dieses Sommers vielleicht noch verstärkt.

Peter Feist
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