Dieses Jahr werden die meisten Schlafwagen-Verbindungen eingestellt. Neue Nachtzüge sind aber bereits in Aussicht

Morgen früh wäre man am Meer...

d'Lëtzebuerger Land du 12.08.2016

Beim Hauptbahnhof einsteigen und nach Spanien schlummern: Was neuerdings Busse auf der Straße möglich machen, war Reisenden auf der Schiene bisher kein großes Anliegen. Jedenfalls haben die CFL für die beiden einzigen Nachtzüge ab Luxemburg heuer insgesamt nur 349 Fahrkarten verkauft. „Die Züge sind dieses Jahr sehr unregelmäßig gefahren“, bedauert Georges Alberty, CFL-Chef de Service. Wochenlang unterbrachen Streiks und Baustellen die Strecke via Metz. Buchungen waren nur kurzfristig möglich, obwohl Nachtreisende gerne lang vorausplanen. Im März wurden immerhin 202 Fahrgäste gezählt. Im Juni waren es nur noch 23. Und jetzt ist es für diese Erfahrung zu spät: Pünktlich zur Urlaubszeit stellten die SNCF am 1. Juli die Intercités-Züge von Luxemburg nach Nizza und zum spanischen Grenzbahnhof Portbou ein.

Verkehrsstaatssekretär Alain Vidalies hatte bereits im Februar das Aus für sechs der letzten acht französischen Nachtzuglinien verkündet. Erhalten bleiben sollen nur die Verbindungen Paris-Briançon und Paris-Rodez/Latour-de-Carol, wo keine TGV-Schnellzüge hinfahren. Eine Ausschreibung für private Anbieter blieb erfolglos. Die Firma Thello etwa, die mit der italienischen Staatsbahn einen Nachtzug von Paris nach Venedig betreibt, winkte ab. Die staatliche SNCF versucht, ihre teuren Hochgeschwindigkeitszüge, die oft an den Stadtzentren vorbeirasen, besser auszulasten. Zum Beispiel wurden die direkten Intercitys Brüssel-Luxemburg-Basel in diesem April durch TGV-Umsteigeverbindungen ersetzt.

Vidalies rechnete vor, dass sich in Frankreich seit 2011 die Zahl der Nachtzug-Passagiere um ein Viertel verringert habe. Nur drei Prozent der Fahrgäste würden noch in den Schlaf- und Liegewagen reisen, die jedoch verantwortlich seien für 25 Prozent des 440-Millionen-Euro-Defizits der Intercités-Züge im Jahr 2015. Eine Modernisierung der veralteten Fahrzeuge würde nach Schätzungen der Gewerkschaft UNSA 200 Millionen Euro kosten. Außerdem laufe die Entwicklung in den anderen europäischen Ländern genauso. In Spanien etwa fuhr im April 2015 der letzte Estrella von Barcelona nach Madrid. Vidalies verwies auf die deutsche Staatsbahn DB, die gerade „aus den gleichen Gründen“ ihre Nachtzüge einstelle.

Sinnigerweise in einem Sonderzug zum Pariser Klimaschutz-Gipfel kündigte DB-Vorstand Ronald Pofalla an, dass die DB ab dem Fahrplanwechsel im Dezember 2016 keine Schlaf- und Liegewagen mehr anbieten wird. Für Autoreisezüge soll schon im Oktober Schluss sein. Deren Passagiere hatte die DB zuletzt auf Strecken wie Berlin-München in Liegewagen befördert – ihre Autos und Motorräder dagegen in Lastwagen einer Spedition verladen und über Autobahnen verfrachtet.

Bereits ab 2014 hatte die DB zahlreiche Verbindungen gekappt, zu Ferienorten, aber auch zu Geschäfts-Zielen wie Paris, Rom oder Amsterdam. Jetzt soll im wichtigsten Transitland vom einst größten Nachtzugnetz Europas gar nichts mehr bleiben. Europäische Vereinigung, Umwelt- und Klimaschutz? Bitte, gerne – aber doch nicht im Alltag! Nie wieder am Bahnsteig Anzeigen ferner Destinationen lesen und träumen...

Die DB-Nachtzüge seien ein Nischengeschäft, das 2015 bei einem Umsatz von 90 Millionen Euro einen Verlust von 31 Millionen Euro eingebracht habe, erklärte eine DB-Sprecherin. Noch 1,3 Millionen Fahrgäste seien damit gefahren: nur einer von 100 Passagieren. Die Nachfrage sei zwar stabil, die Züge oft ausgebucht. Die meist über 40 Jahre alten Wagen könnten aber die Kosten für ihre dringend notwendige Modernisierung nicht erwirtschaften. Beraten von McKinsey, präsentierte DB-Konzernchef Rüdiger Grube das Konzept „Zukunft Bahn“: Nachts sollen in Deutschland auf zehn Linien ICE-Züge fahren, ins Ausland IC-Busse. Statt Liegen wie im Luxus-Flieger also nur noch stundenlanges Sitzen. Fernreisende mit Fahrrädern, sperrigem Gepäck oder Rückenproblemen werden abhängt.

Das Defizit entstehe nicht auf der Schiene, sondern im Verwaltungsturm, protestiert Joachim Holstein, Betriebsrat der Bahntochter DB European Rail Service: Die Kosten der an Nachtzüge angehängten Sitzwagen würden dem Nachtverkehr zugerechnet, ihre Fahrgäste aber nicht. In Wirklichkeit seien 2015 in deutschen Nachtzügen mehr als 2 Millionen Passagiere gefahren. Das Management habe das Angebot bewusst ausbluten lassen, etwa durch Aufgabe der beliebten Bar- und Restaurant-Wagen. Die Flotte sei auf Verschleiß gefahren worden: Wegen unterlassener Reparaturen sei ständig ein Viertel der komfortablen, erst im Jahr 2005 gekauften Schlafwagen irgendwo abgestellt. Wütende Kunden fordern Schadensersatz wegen klappriger Ersatz-Liegewagen.

„Bahn für alle“, ein Zusammenschluss von 20 Gewerkschaften, Umwelt- und Verkehrsverbänden, reichte im Mai beim Deutschen Bundestag eine Petition mit fast 29 000 Unterschriften gegen das Ende der Nachtzüge ein. Karl-Dieter Bodack, der Erfinder der Interregio-Züge, und Verkehrsexperten wie der Münchner Professor Wolfgang Hesse stellten das Konzept „Luna Liner“ vor: Mit 14 Zügen und 260 Wagen könnte ein neues europäisches Nachtnetz geknüpft werden. Moderne Hochgeschwindigkeits-Nachtzüge, wie sie heute schon in China fahren, hätten eine größere Reichweite und könnten zum Beispiel London in 12 Stunden mit Madrid verbinden. Die mitgelieferte Linienkarte suggeriert, dass Züge von Amsterdam über Lüttich und Luxemburg ans Mittelmeer fahren könnten. Wenn denn die verschiedenen Bahnen kooperieren würden.

Bislang wurden im deutschen Parlament alle linken oder grünen Anträge, die Diskriminierung des Schienenverkehrs zu beenden, von CDU und SPD abgeschmettert. Für eine Hotel-Übernachtung fallen nur 7 Prozent Mehrwertsteuer an, für ein Schlafwagen-Ticket 19 Prozent. Flugbenzin ist steuerfrei – die Bahn muss Strom- und Ökosteuer und Erneuerbare-Energien-Umlage zahlen. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entschied im Jahr 2013, dass Bahnen auch für unverschuldete Verspätungen entschädigen müssen – während Busfirmen oder Fluglinien für „höhere Gewalt“ nichts berappen. Fernbusse zahlen in Deutschland keine Maut. Dagegen werden Nachtzüge durch überhöhte Netzgebühren ausgebremst: Für eine Fahrt von Kopenhagen nach Basel würden 4 500 Euro allein an Trassen-Entgelt anfallen.

Von Schwierigkeiten ließen sich echte Schienen-Fans aber noch nie aufhalten. Schon Georges Nagelmackers, Bankiersohn aus Lüttich, hatte erst jahrelang mit Bahnen und Regierungen verhandeln müssen, bis er 1872 die ersten fünf Schlafwagen losschicken und den Orient-Express starten konnte. An seine legendäre, längst eingegangene Compagnie internationale des wagons-lits will die russische Staatsbahn anknüpfen. Sie lässt Luxus-Hotelwagen von Moskau nach Frankreich pendeln. Die Fahrkarten sind mit 250 bis über 1 000 Euro nicht ganz billig – dafür werden Ferienorte wie Zell am See und Nizza direkt angefahren, und es gibt wieder eine Nachtverbindung Paris-Berlin.

Die Österreichischen Bundesbahnen, die heute schon 17 Prozent ihres Umsatzes mit Nachtzügen erzielen, sehen besonders in der Verbindung von Nacht- und Autoreisezügen Chancen. Sie investieren nun 30 Millionen Euro in neue Wagen. Umfragen ergaben, dass vor allem Privatsphäre und sichere Gepäckaufbewahrung gewünscht werden – kein Ding der Unmöglichkeit. Derzeit laufen Designstudien. Die ÖBB wollen einen Teil der DB-Nachtverbindungen übernehmen. Bestellt sind bereits Trassen von Norddeutschland nach Innsbruck und von Hamburg/Berlin nach Basel.

Sogar Private wagen sich im Dunkeln auf die Gleise. Seit einem Jahr bietet die Firma Euro-Express-Sonderzüge aus Münster besonders Holländern „Autoslaaptreinen“ von Düsseldorf nach Verona an, ab 2017 sollen auch Villach und Koper an der Adria angefahren werden. BTE aus Nürnberg will ab Dezember den DB-Autoreisezug Hamburg-Lörrach übernehmen. „Für Nachtzüge gibt es auf stark nachgefragten Relationen dauerhaft eine auskömmliche Nachfrage“, ist Derek Ladewig, der Gründer des Start-Ups Locomore, überzeugt. Sein erster, über Crowdfunding finanzierter Zug soll ab Dezember aber vorerst nur tagsüber Stuttgart und Berlin verbinden.

Tschechische Jungunternehmer sind schon weiter: Die aus einer Au-Pair-Vermittlung hervorgegangene Student Agency baute erst ein Fernbusnetz auf und legte sich dann im Jahr 2009 auch neun Lokomotiven zu. Dank kostenloser Parkplätze für Passagiere, Getränke, Zeitungen, WLAN und anderer Bonbons wuchs seither die Fahrgastzahl ihrer quietschgelben RegioJet-Züge um 20 bis 30 Prozent jährlich – auf zuletzt 7 Millionen. Seit einem Jahr sind sie auch nachts unterwegs: Jeweils 6 Schlaf- und 8 Sitzwagen pendeln drei Mal wöchentlich zwischen Prag und Kaschau, der zweitgrößten Stadt der Slowakei. Der Nachtzug ist tot – es lebe der Nachtzug!

Martin Ebner
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