Die kleine Zeitzeugin

Zahnpasta und Fish & Chips

d'Lëtzebuerger Land du 12.04.2019

Er hat es wieder getan, er hat wieder so was gesagt. Etwas Unnachahmliches, niemand kann so etwas nachahmen oder möchtegern auch so sein, so authentisch, was alle ja so lieben, das Authentische ist das Geliebteste. Auch wenn er in letzter Zeit in Anwesenheit der Madammen des öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehens den ihm gewachsenen Schnabel zunehmend im Zaum gehalten und sich in erschreckend hohem Deutsch ausgedrückt hat. Zwischendurch aber das Publikumslieblingsstück Merde alors! Obschon in schwerem Französisch, war zumindest der Luxemburger Fan_innenclub hingerissen, die Daumen wuchsen in den Himmel der Liebe.

Wer schafft es wie unser Außenminister, komplexe Zusammenhänge ohne Komplexe, aber vor allem einfach darzustellen? Was ja ein Merkmal wirklich großer Geister ist. Wie er das Endlosspiel zwischen Deal und No deal auf den knackigen Punkt bringt. Denn wer kennt sich noch aus in dieser mit Highlights aufgepoppten Endlos-Show?

Wenngleich die Dramaturgie besser wird: Die Zuschauer_innen würden sonst davonlaufen, zu lange zögert die Queen ohne Drama die Katharsis hinaus, den beliebten Point of no return. Der harte Deal, der keiner ist, so was wollen die Leute sehen, weinende Kohlekumpel_innen, alte weiße Männer, von ihren Enkelinnen gesteinigt. Kompromisse sind nämlich so fad. Deshalb ist Europa so fad, wegen den Kompromissen. Dass fad auch schön fad ist, wissen halt viele nicht mehr, für spannende Kriege sind längst andere Weltgegenden zuständig.

Der Soundtrack im Unterhaltungshaus ist umwerfend, Animal Farm-Anklänge muten pastoral an, eine dumpf behagliche Geräuschkulisse, durchschnitten vom Stimmorgan der einst legendär schüchternen Pfarrerstochter. Welch Hemmungslosigkeit im Land der steifen Oberlippe, der Alte Kontinent ist verzückt: viel, viel besser als eine einfallslose Parlaments-Prügelei in der Ukraine. Der Showmaster hat Kultstatus erlangt. Die immer gebeugter werdende Prime-Ministerin bleibt unbeugsam, niemand spricht mehr von ihren schönen Schuhen.

Manchmal ganz lustig, das zum Abschalten einzuschalten.

Aber wer checkt so richtig, was da abgeht? Ich nicht, ja, klar, Europa, also wir, ja doch, logisch, klar, sowieso, wir sind Europa, für Europa, irgendwie, hat jemand, gähn, eine Alternative?, mir fällt auch grad nichts Besseres ein.

Aber wer schaut sich die tausendste Talgdrüsenshow mit Betroffenen aus der Mittelschicht an, die nicht mehr die passenden Ersatzteile zu irgendwas kriegen, ein wichtiges Stück aus dem Puzzle wird definitiv fehlen! Hin und wieder ein betroffener alter Baumeister, was wird aus seinem Werk werden, dem Traumhaus Europa? Ein Hochsicherheitstrakt oder eine antike Ruine, ein Absatz im Geschichtsbuch?

Kann ich wirklich meinen Senf dazu geben, ich weiß nicht mal mehr, ob zu Fish & Chips Senf gereicht wird. Und in London geshoppt hab ich noch nie, nur einmal beinahe, muss 1974 gewesen sein. Da war Pop schon passé, die Beatles sowieso. Und jetzt ist George Harrison tot. Und Mike Jagger herzklapprig. Aber auch damals war George für mich schon gestorben, er war in festen Händen, den entscheidenden Einsatz, mich nach Liverpool zu verfügen, um ihn zu betören, hatte ich Mitte der Sixties leider verpasst. Etwas war dazwischengekommen, wohl eine Englisch-Schularbeit. Später entführte mich ein Schiff voll sommersprossiger Kinder wie die in meinen Lieblingskinderbüchern über die graue See, die Frauen hatten den Teint aus Tau und Porzellan. Dann vibrierte das Land aprilgrün in hingehauchtem Regen, in der Victoria Station stelzte mir ein Zylinder-Sir entgegen. Es war alles komplett richtig, wie gebucht. Wunderbar giftige Farben, wunderbar giftiges Essen. Aus schmierigen Tüten geangelte Fish & Chips, China-Restaurants, in denen man mitternächtlich das billigste Fett verspeiste, umgeben von echten, vergilbten Chines_innen. Hotelbesitzer mit Turbanen, denen man über enge Holztreppen in sargschmale Kammern hinterher dackelte. Die langweiligsten Lokale der Welt: In Pubs standen Männer mit Bier mit andern Männern mit Bier herum, mitten am Abend war Feierabend, die U-Bahn ließ die Rollladen runter.

Und Tee, überall Tee, von zuvorkommenden Beamt_innen in Amtsstuben gereicht, selber gezapft in sumpffarbenen Teestuben. Eher Wartesäle auf nichts. Die dürren Jungs mit den Kiefern und den Adamsäpfeln und dem Cockney, dem sexysten Arbeiterklassisch, das ich kannte. Auch die Armut war echt, wie in einer echten City. In Soho stieg ich über einen auf dem Gehweg liegenden Menschen, mein erstes Mal.

Die Trostlosigkeit und Härte von King’s Cross vertrieben die Elendsromantikerin. Dann doch lieber eine liebliche Landtour mit Lords, die Tramper_innen aufgabeln, zu Hausfrauen mit Puddingbäckchen, die einer im altertümlichen Bed & Breakfast auftischen. Oder schnurstracks die Msechs hinauf, dann Schafe.

Und so weiter. Nein, kein Und so weiter, die Insel lag nicht mehr auf meinem Lebensweg.

Aber grad hab ich so Lust auf dich bekommen. Nach all dem Senf und der Zahnpasta.

Auf dich, du Schräge, Schrille, Schrullige.

Michèle Thoma
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