Zukunft der rot-rot-grünen Koalition

Baustelle Esch

d'Lëtzebuerger Land vom 29.09.2005

Mit großem Bahnhof weihte die Arcelor am Dienstag in Esch-Belval ihre neue Mitteleisenstraße ein und betonte, dass deutlicher eine Investition in die Zukunft des Stahlstandorts nicht ausfallen könne. Nicht weit entfernt war am Freitag im Schatten eines erloschenen Hochofens die Rockhalle eröffnet worden, und Kultur- und Arbeitsminister François Biltgen dichtete in seiner Ansprache, dass nun das jugendliche Rockpublikum dort schwitze, wo einst die Stahlarbeiter geschwitzt hätten. Die Escher Bürgermeisterin Lydia Mutsch hörte jedes Mal interessiert zu und drängte dann mit Raubtierlächeln vor die Kameras – in 14 Tagen sind Gemeindewahlen. Zwar sind alle Blicke auf die Hauptstadt gerichtet, doch ganz gleich, wie der Dreikampf zwischen Paul Helminger, Lydie Polfer und Laurent Mosar ausgehen wird, die Koalition von DP und CSV dürfte weiter regieren. In Esch geht es dagegen um die Zukunft der rot-rot-grünen Koalition. Wie viele Südgemeinden hatte die Stahlkrise auch Esch besinnungslos geschlagen. Die sozialen Probleme in der Stadt – Arbeitslosigkeit, Armut – nahmen zu, während die Steuereinnahmen zur Finanzierung ihrer  Bekämpfung abnahmen. Die meist nicht mehr ganz jungen Männer an der Spitze der Stadt wurden müde, die Stimmung war gedrückt. Öffentliche Einrichtungen drohten zu verkommen, weil die Stadt kein Geld mehr für ihren Unterhalt hatte. Und der Staat zeigte sich nicht übertrieben hilfsbereit. Denn die zweitgrößte Stadt des Landes war als eine Wiege der organisierten Arbeiterbewegung auch immer die rote Gegenmacht zur schwarzen Landesregierung. Dass Esch in der Stahlkrise auch eine politische Schlacht verlor, zeigte sich in den Wahlresultaten: in den Achtziger- und Neunzigerjahren bekamen die LSAP als stärkste Partei und ihr kommunistischer Koalitionspartner von Wahl zu Wahl weniger Stimmen und Sitze, während es mit der CSV immer weiter bergauf ging. 1993 verlor die Linkskoalition die Mehrheit und die LSAP ging eine Koalition mit der Erzrivalin CSV ein. Sozialisten, die ein Leben lang der Partei die Treue gehalten hatten, warnten am Tresen des gewerkschaftseigenen Peuple, dass die LSAP nun den schwarzen Wolf in den Schafstall gelassen hätte. Bei den folgenden Gemeindewahlen schienen sie Recht zu bekommen: die Christlichsozialen erhielten 1999 mehr Stimmen als die zerstrittenen Sozialisten, genau 720. Die CSV, die zuletzt in einer Koalition mit der LSAP regiert hatte, stand vor der historischen Chance, nicht nur in Esch die Macht zu übernehmen, sondern auch den überfälligen Strukturwandel in der Stadt zu organisieren und so möglicherweise für lange Zeit an der Macht zu bleiben. Von der politischen Symbolik in jener Stadt, die seit den ersten Proporzwahlen 1920 nur sozialistische und kommunistische Bürgermeister kannte, ganz zu schweigen. Aber die CSV verspielte auf einmalige Weise ihre Chance. Der Streit in der Escher Sektion um ihren von blindem Ehrgeiz getriebenen Spitzenkandidaten Ady Jung und den mit 5 000 Franken entschädigten ewigen Schöffenratsanwärter Josy Mischo amüsierte und skandalisierte monatelang das ganze Land. Während die LSAP-Sektion unter Führung von Lydia Mutsch ihren Bürgermeister François Schaack etwas unsanft aufs Altenteil bugsierte und verjüngt und tatkräftig antreten konnte. Die Neuwahlen vom April 2000 brachten einen deutlichen Linksruck: die drei Rechtsparteien  CSV, DP und ADR wurden geschwächt, die drei Linksparteien  LSAP, déi Lénk und Grüne wurden gestärkt. Die neue Koalition nahm sich ein durch Anleihen finanziertes Modernisierungsprogramm vor, um Esch, das die Opposition schon als Ruinenstadt sah, in eine Baustelle zu verwandeln. Schwerpunkte waren öffentliche Infrastrukturen, eine Neuregelung des Starßenverkehrs und die Verkürzung der Verwaltungswege. Der Opposition, die das Programm anfangs als zu ambitiös kritisiert hatte, blieb nichts anderes übrig, als aus Rücksicht auf ihre Wähler fast alle Projekte der Mehrheit zu stimmen. Was sie nun im Wahlkampf als ziemlich alternativlos erscheinen lässt. Wenig deutet darauf hin, dass die Machtverhältnisse in Esch sich am 9. Oktober grundlegend ändern werden. Denn die Koalition steht in den Augen breiter Teile der Bevölkerung für den seit langem erwarteten Neuaufbruch, selbst wenn es immer Unzufriedene gibt, weil Baustellen nun auch einmal lästig sind, besonders wenn sie vor der eigenen Haus- oder Geschäftstür liegen. Und die Opposition ist nachhaltig geschwächt. Aber die Stimmenunterschiede zwischen Mehrheit und Opposition sind so knapp, dass kleine Veränderungen am 9. Oktober große Wirkung zeigen könnten. Nicht zuletzt dank ihrer Bürgermeisterin Lydia Mutsch ist die LSAP von ihrem Image als Partei der alten Männer losgekommen. Allerdings muss ihre gegenüber 2000 weitgehend unveränderte Liste auf einige populäre Gewählte verzichten, allen voran Micky Bintz-Erpelding, die als Zweite gewählt worden war, aber auch Richard Schneider und Raymond Welz. Déi Lénk unter ihrem in Esch beliebten Schöffen André Hoffmann konnte mit der Sozialpolitik zwar ein Terrain beackern, das ihrer Wählerschaft besonders wichtig ist. Aber die finanziellen Mittel reichten oft nur für Studien und Symbole,  der politische Spielraum ist auf diesem Gebier enger, als Arbeitslosen und Wohnungssuchenden, Obdachlosen und Drogenabhängigen lieb ist. Weil der Zweitgewählte von 2000,  Aloyse Bisdorff, und die anderen kommunistischen Kandidaten von déi Lénk am 9. Oktober wieder mit einer getrennten KPL-Liste antreten, läuft die Linke Gefahr, zumindest einen ihrer Sitze zu verlieren. Die Grünen, die es in einer Arbeiterstadt nicht leicht haben, konnten verhindern, dass sie völlig im Schatten des großen Koalitionspartners verschwanden. Obwohl sie nach der Stimmenzahl die kleinste der drei Koalitionsparteien sind. Schöffe Felix Braz verstand es vor allem in der Verkehrspolitik, einem Ressort, in dem gemeinhin grünen Politikern Kompetenz zugetraut wird, auf sich aufmerksam zu machen. Auch wenn er mit seinen Versuchen zur Eindämmung des privaten Autoverkehrs nicht überall auf Verständnis stieß und selbst den Koalitonspartnern manch mal zu liberal erschien. Die CSV als größte Oppositionszeiten ist dagegen nur noch ein Schatten ihrer selbst, seit die Zeit ihrer gewieftesten Politiker, der vom politischen Gegner „Stahlhelmfraktion“ gescholtenen Wolter, Biltgen und Reding vorbei ist und sie sich unsterblich bei den Neuwahlen  im Jahr 2000 blamierte. Nun muss sie ohne den Zweitgewählten, Ady Jung antreten, der seinen Abgang mit einem Posten im Staatsrat versüßt bekam, und ohne den fünftgewählten Nico Kinsch. Frunnes Maroldt hatte zwar mehr Stimmen als Spitzenkandidat Ady Jung erhalten, aber wohl mehr wegen seiner Integrität als wegen seines politischen Sachverstands – die Rolle des Oppositionssprechers ist ihm deutlich eine Nummer zu groß. Die DP hatte mir ihrem ziemlich rechten, mittelständischen Profil noch nie viel in der Arbeiterstadt zu bestellen. Sie könnte sogar Gefahr laufen, ihren knappen zweiten Sitz von 2000 zu verlieren, da die Liberalen im Augenblick landesweit nicht gerade populär sind und einer ihrer beider Gewählten, Marco Schroell, nicht mehr kandidiert. Beim ADR ist Rat Aly Jaerling froh, wenn er den einzigen Sitz seiner Partei in Esch verteidigen kann. In seinen Flugblättern versucht er als Gegner des europäischen Verfassungsvertrags Kapital daraus zu schlagen, dass Esch beim Referendum im Sommer mehrheitlich „nein gesagt hat“ – und er deshalb auch für seine Gradlinigkeit im Vergleich zur wankelmütigen ADR-Führung belohnt werden will. Seit Raymond Welz die LSAP verlassen hatte und dem Gemeinderat als Unabhängiger angehörte, regieren LSAP, déi Lénk und Grüne mit der denkbar knappsten Mehrheit von zehn gegen neun Stimmen. Um die Koalition fortzusetzen, muss die LSAP also zumindest ihren siebten Sitz zurückerobern. Denn es ist nicht sicher, ob die KPL den zweiten Sitz von déi Lénk erobern  kann. Sollten beide geschwächt werden, dürfte der größte Teil dieser Stimmen allerdings innerhalb der bisherigen Koalition verteilt werden, an erster Stelle wohl zugunsten der LSAP. Verliert die DP dagegen ihren zweiten Sitz, dürfte er innerhalb der Opposition bleiben und an vor allem an die CSV gehen. Doch eine kleine Verschiebung kann schon genügen, um die aktuelle Mehrheit zu kippen. Da außer CSV und LSAP alle Parteien traditionell mit einem oder zwei Sitzen Vorlieb nehmen müssen, wäre dann wieder, wie 1993, Zeit für eine rot-schwarze Koalition. Was die Regierungsparteien in der Haupstadt vielleicht nicht ungern sähen.

 

 

Romain Hilgert
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