Nach Jahren der Zinstiefstände sind die Zentralbanken dabei, die Rückkehr zur Normalität einzuleiten. Dabei werden sie vorsichtig sein, erklärt Chefvolkswirt Yves Nosbusch von BGL BNP Paribas

„Sehr langsam, sehr progressiv“

d'Lëtzebuerger Land du 22.09.2017

D’Lëtzebuerger Land: Herr Nosbusch, der Anfang der großen Finanz- und Wirtschaftskrise jährt sich 2017 zum zehnten Mal. Wie schätzen Sie die Reaktion der Zentralbanken im Rückblick ein?

Yves Nosbusch: Die großen Zentralbanken haben damals schnell, umfangreich und konsequent auf die Finanzkrise reagiert. Sie haben mutige Entscheidungen getroffen, die teils sehr unkonventionell waren und die dazu beigetragen haben, die Krise gut zu verwalten. Man kann zum Vergleich die Krise von 1929 heranziehen und was in den Dreißigerjahren passiert ist. Viele Ökonomen, die sich mit dieser Krise auseinandergesetzt haben, sind der Meinung, sie war teilweise so tief, weil die Zentralbanken nicht eingeschritten sind. Damals war die Philosophie, wenig einzugreifen, viele Banken, zumal in den USA, gingen Pleite und es kam zu einer großen Kreditbeschränkung, was wahrscheinlich wesentlich dazu beigetragen hat, die Krise zu verschlimmern. Interessanterweise hat sich der ehemalige Chef der amerikanischen Zentralbank Federal Reserve, Ben Bernanke, während seiner akademischen Karriere auf die Analyse dieser Krise spezialisiert und eine der Schussfolgerungen seiner Forschung war genau das: Dass die Zentralbanken damals zu passiv waren. Deshalb war es in gewissem Sinne ein glücklicher Zufall, dass genau er während der vergangenen Krise Zentralbankpräsident war und seine Entscheidungen im Wissen um den historischen Hintergrund getroffen hat. Heute kann man ganz klar sagen: Die Fehler aus den Dreißigern wurden nicht wiederholt und die Zentralbanken in den USA, in Europa und auch andernorts haben massiv eingegriffen und damit dazu beigetragen, dass die Krise nicht so schlimm war wie in den Dreißigerjahren.

Wie sind die Zentralbanken vorgegangen?

Sie haben erstens die Zinsen sehr schnell massiv gesenkt, um die Kreditvergabe anzukurbeln und die Investitionen zu stützen. Zweitens haben sie angefangen, Wertpapiere aufzukaufen – was wir Quantitative Easing nennen – Staatsanleihen, Firmenanleihen. Die Fed hat zuerst damit angefangen und die EZB ist später gefolgt.

Das Anleihekaufprogramm der EZB war politisch sehr umstritten und sie hat erst 2015 angefangen, in großem Umfang Anleihen aufzukaufen. War das Ihrer Meinung nach der richtige Zeitpunkt?

Solche Fragen sind immer schwer zu beantworten, weil man nicht weiß, was passiert wäre, wenn andere Entscheidungen getroffen worden wären. Aber diese Programme haben eindeutig dazu beigetragen, dass auch die langfristigen Zinsen gesunken sind und das hat die Kreditvergabe und die Investition gestützt. Die Daten zeigen, dass die Kreditvergabe in den vergangenen Jahren angestiegen ist, seit einem Jahr sogar um über zwei Prozent sowohl für Unternehmen als auch für Privathaushalte in Europa. Das war davor nicht der Fall. Ein Beleg ist das nicht, man kann den Anstieg der Kreditvergabe nicht direkt auf das Programm zurückführen, aber es ist plausibel.

Sie bewerten diese Maßnahmen als richtig und wirksam. Hätte die EZB ihr Programm früher starten müssen?

Das ist schwer zu sagen. In Europa muss man immer einen Konsens finden. So funktioniert Politik in Europa, das muss man akzeptieren, und in dem Moment, als es wichtig war, sind die notwendigen Entscheidungen gefallen.

Wo stehen wir jetzt?

Wir sind nun an einem Punkt, wo die Fed ihre Bilanz konstant hält. Das heißt, sie ist weiterhin aktiv und kauft jeden Monat Wertpapiere, ersetzt aber dadurch nur die Anleihen, deren Laufzeit zu Ende kommt. Die EZB weitet ihrerseits ihre Bilanz derzeit immer noch aus, indem sie jeden Monat für 60 Milliarden Euro netto Wertpapiere hinzukauft. Das heißt, sie ersetzt die Wertpapiere, deren Laufzeit vorbei ist, und kauft noch neue hinzu. Die große Frage, die sich derzeit stellt, ist, wann diese Maßnahmen zurückgeschraubt werden und sich die Situation, wenn man so will, „normalisiert“.

Was hat sich denn in den vergangenen Monaten grundlegend verändert, dass an einen Ausstieg aus diesen unkonventionellen Maßnahmen gedacht wird?

In Europa hat sich die Lage wesentlich verbessert. Der Aufschwung ist relativ stark und synchron, das heißt, es gibt in allen europäischen Ländern mehr Wachstum. Die Konjunkturumfragen zeigen, dass es mehr Vertrauen gibt. Zusammengefasst kann man sagen, die wirtschaftliche Situation ist so gut wie seit zehn Jahren nicht mehr. Dieses Jahr dürfte die Wachstumsrate in Europa bei über zwei Prozent liegen und damit über dem Potenzialwachstum. Die Bedingungen haben sich ganz deutlich zum Besseren gewandt. Man darf allerdings nicht vergessen, dass die Europäische Zentralbank nur ein einziges Mandat hat, nämlich über die Preisstabilität zu wachen, und sie visiert dabei eine Inflationsrate von knapp unter zwei Prozent an. Da sich aber die Lage auf dem Arbeitsmarkt ebenfalls deutlich verbessert hat und die Arbeitslosenrate sinkt, ist zu erwarten, dass die Kerninflationsrate langsam ansteigt – das ist die generelle Tendenz – und damit die Inflationsrate insgesamt. Das würde es möglich machen, sehr progressiv, sehr langsam aus diesen unkonventionellen Maßnahmen auszusteigen.

Die Betonung liegt auf „sehr“ langsam?

Ja, die EZB wird extrem vorsichtig sein, das sagt sie selbst. Denn obwohl die generelle Tendenz positiv ist, ist die Inflation heute immer noch zu niedrig und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie sich wesentlich beschleunigt. Im August lag die Inflationsrate bei 1,5 Prozent, die Kerninflationsrate bei 1,2 Prozent – was noch wichtiger ist – und sie soll über die nächsten zwei Jahre den Vorhersagen der EZB nach auf 1,5 Prozent ansteigen. Wir sind also noch relativ weit vom Ziel von knapp unter zwei Prozent entfernt und die Entwicklung ist sehr progressiv.

Woran liegt das?

Auf dem Arbeitsmarkt gibt es wenig Lohnwachstum, und das obwohl die Arbeitslosigkeit seit dem Höhepunkt der Krise stark gefallen ist auf rund neun Prozent in der Eurozone. Die Frage ist, warum es nicht mehr Druck auf den Gehältern gibt, und diese Frage stellt sich in den USA umso dringender, da dort die gemessene Arbeitslosigkeit mit 4,3 Prozent noch viel niedriger ist als in Europa, das Lohnwachstum aber nur bei 2,5 Prozent liegt. Die Frage ist also dort noch akuter und das ist auch ein Grund, warum die Fed vorsichtig sein wird. Ein Teil dieses Phänomens ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass traditionelle Arbeitslosenstatistiken die Entwicklung auf den Arbeitsmärkten nicht mehr richtig einfangen und widerspiegeln, sowohl in den USA als auch in Europa. Zum Beispiel sagen sie nichts darüber aus, wie viele Arbeitnehmer Teilzeit beschäftigt sind, obwohl sie gerne Vollzeit arbeiten würden, und auch nichts darüber, wie viele Leute die Suche nach einer Anstellung komplett aufgegeben haben. Wie umfangreich ist dieses Phänomen? Die Volkswirte der EZB gehen in einer Studie davon aus, dass unter Berücksichtigung dieser Faktoren, die Arbeitslosenrate in etwa doppelt so hoch sein müsste als sie es derzeit ist. Das wird in Zukunft noch weiter untersucht werden müssen, aber es spielt sicherlich eine Rolle.

In Europa kommt hinzu, dass trotz der Wachstumszahlen, die Produktionslücke noch nicht geschlossen ist...

... Erklären Sie doch bitte kurz die Produktionslücke...

... Wenn die tatsächliche Wachstumsrate lange Zeit unter dem Potenzialwachstum lag, also nicht alle Arbeitnehmer in Beschäftigung sind, die arbeiten wollen, und die Produktionsanlagen nicht ausgelastet sind, wie das während der Krise der Fall war, entsteht Nachholbedarf, eine Produktionslücke. Und die Produktionslücke trägt auch ihren Teil dazu bei, dass es derzeit wenig Druck gibt, die Löhne anzuheben. In Europa wird dies noch ein wenig dauern, bis der Nachholbedarf aufgeholt ist. In den USA ist die Produktionslücke, die während der Krise entstand, bereits fast geschlossen.

Verschiedene Beobachter meinen, dass die niedrige Inflation, wie wir sie derzeit beobachten, einfach eine neue Realität ist, die wir akzeptieren müssen. Wie sehen Sie das?

Ich glaube nicht, dass sich die ökonomischen Gesetze nun fundamental verändert hätten. Was früher richtig war, ist es auch heute noch. Es gibt sicherlich einige Phänomene die bewirken, dass wir strukturell während einer Zeit weniger Inflation haben, wie zum Beispiel der technische Fortschritt, die Digitalisierung, die während einer Zeit eine positive desinflationäre Wirkung haben – durch leistungsfähigere, günstigere Produkte steigt die Kaufkraft der Verbraucher –, aber das verkehrt die ökonomischen Gesetze nicht ins Gegenteil. Wenn Vollbeschäftigung herrscht, dann gibt es Inflation bei den Löhnen, weil die Unternehmen bessere Gehälter bieten müssen, um Personal einstellen zu können. Das wird sich nicht ändern. Bis es so weit ist, braucht es Zeit, denn die Krise, die wir erlebt haben, war tief.

Welchen Einfluss hat der derzeitige Wechselkurs zwischen Euro und Dollar auf die Inflationsrate?

Daran, dass der Euro-Dollar-Wechselkurs bei der letzten EZB-Pressekonferenz im Fokus stand, kann man erkennen, dass es eine erhebliche Rolle spielt. Seit Anfang des Jahres, ist der Euro im Vergleich zum Dollar zwischen zehn und 15 Prozent teurer geworden. Das wirkt bremsend auf die Inflation, weil dadurch die Importe billiger werden, und die EZB hat ihre Inflationsvorhersagen für 2018 und 2019 seit Juni jeweils um 0,1 Prozent gesenkt, um der Wechselkursentwicklung Rechnung zu tragen. Da die EZB, wie gesagt, als einziges Ziel eine Inflationsrate von knapp unter zwei Prozent hat, spielt das in ihren geldpolitischen Entscheidungen durchaus eine Rolle, denn sie wird ihre Geldpolitik nur dann restriktiver gestalten, wenn sie davon ausgehen kann, dass sie ihr Inflationsziel erreicht. In diesem Sinne kann man nicht ganz sicher sein, wie sie sich nun verhält.

Das Wertpapierkaufprogramm, in seiner derzeitigen Form, läuft voraussichtlich im Dezember aus. Welche Möglichkeiten hat die EZB nun und wie schnell wird sie sich entscheiden?

Die EZB hat sich engagiert, bis zum Ende dieses Jahres weiterhin monatlich Wertpapiere im Wert von 60 Milliarden Euro netto zu kaufen. Was danach passiert, wird die EZB wahrscheinlich im Oktober klarstellen. Wir gehen davon aus, dass sie weiterhin Nettozukäufe tätigen wird, wenn auch in reduziertem monatlichen Volumen. In welchem Rhythmus genau, das ist heute schwierig einzuschätzen und hängt natürlich davon ab, was in den kommenden Monaten passiert. Aber was man sich vorstellen könnte, wäre beispielsweise, dass sie für sechs Monaten von 60 auf 30 Milliarden Nettozukäufe zurückschraubt und sagt: Dann sehen wir weiter.

Wird die EZB Ihrer Meinung nach auch dazu übergehen, die Leitzinsen zu verändern?

Für mich geht aus der jetzigen Kommunikation relativ klar hervor, dass sie Zinsen und Wertpapierprogramm trennt und erst einmal die Wertpapierprogramme kalibrieren will und erst, wenn sie damit zufrieden ist, sich dann Gedanken darüber macht, ob die Zinsen eventuell angehoben werden. In ihrer letzten Mitteilung steht: „Wir erwarten, dass die Hauptzinssätze für längere Zeit auf ihrem derzeitigen Niveau bleiben und das über den Horizont unseres Anleiheprogramm hinaus.“ Das heißt für mich: Solange sie Wertpapiere kauft, werden die Zinsen nicht angehoben und damit ist die Sequenz ihres Ausstiegs aus der großzügigen Geldpolitik relativ deutlich vorgegeben. Natürlich hat sie bisher keine Verlängerung des Wertpapierprogramms über Dezember hinaus angekündigt. Aber ich gehe davon aus, dass sie im Oktober so weit wie möglich klarstellen wird, wie es 2018 weitergeht, damit sich die Märkte darauf einstellen können, und sie nicht bis Jahresende wartet, um eine Ansage zu machen.

Die Federal Reserve hat ihre Zinsen bereits angehoben, dieses Jahr noch eine weitere Anhebung geplant und für kommendes Jahr drei weitere. Nun gibt es Zweifel daran, ob die amerikanische Zentralbank bei diesem Plan bleibt.

Die USA sind im Konjunkturzyklus bereits weiter fortgeschritten als Europa, haben schon sehr viel länger mehr Wirtschaftswachstum verzeichnet und niedrige Arbeitslosenraten. Die Inflationsrate ist etwas höher, auch wenn sie noch nicht das gewünschte Niveau erreicht hat. Die Fed hat ihr Wertpapierprogramm ja bereits angepasst, indem sie nur noch fällige Anleihen ersetzt und keine Nettokäufe mehr tätigt. Und sie hat seit dem Tiefstand auch ihren Leitzins schon um einen Prozentpunkt angehoben. Sie ist also ganz klar in einer Logik, in der sie aus den unkonventionellen Maßnahmen aussteigen will; die Frage ist, mit welcher Geschwindigkeit das passiert. Nun war die Infla­tion in den vergangenen Monaten tiefer als erwartet und das besorgt verschiedene Zentralbankgouverneure. Deshalb glaube ich, dass sie vorsichtiger vorgehen wird, solange es nicht mehr Gewissheit gibt, dass die Inflation steigt. Es könnte deswegen durchaus sein, dass sie bis 2018 wartet um die Zinsen weiter anzuheben.

Wie sieht es mit dem Wertpapierprogramm aus?

Die Fed hat am 20.September angekündigt dass sie ab Oktober ihre Bilanz reduzieren wird. Am Anfang wird sie diese jeden Monat um zehn Milliarden Dollar reduzieren und über das kommende Jahr wird sie diesen Rhythmus dann langsam bis auf 50 Milliarden monatlich hochschrauben.

Michèle Sinner
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