Neuer Kunstraum in Berlin

Drei Kuratoren im Keller

d'Lëtzebuerger Land vom 17.05.2013

In Situ. In der Wissenschaftssprache ist dies der Ort, an dem alles seinen Anfang nimmt. Der Ursprung. Die Keimzelle. Vielleicht auch das Chaos, aus dem alles entsteht, sich erschafft, fortschreitet. Begibt sich die Wissenschaft In Situ, dann untersucht sie die Reaktion, den Prozess, das Geschehen und das Werden an dem Ort, an dem es natürlich passiert und geschieht und schafft damit den Unterschied zu Ex Situ, der präparierten, kreierten, künstlichen Umwelt. Die Kunstwelt und der Kunstmarkt der deutschen Hauptstadt haben nun ihr eigenes In Situ. Ein Ort, an dem alles beginnen und seinen Anfang nehmen soll. In einem Kellergeschäft. In der Kurfürstenstraße. Mit drei Kuratoren: Marie Graftieaux aus Frankreich, Nora Mayr aus Österreich und der Luxemburger Gilles Neiens eröffneten Ende April ihren Kunstraum „In Situ“, der – nimmt man den Namen wörtlich – zum Nabel und Urknall der künstlerischen Szene in Berlin werden soll, werden will, werden muss. Jedoch im Zuviel des Anfangs seinen eigenen Beginn, seinen eigenes Werden verliert.

In Situ ist ein hehrer Anspruch, der jedoch bei all seinem jugendlichen Enthusiasmus in den beiden weißgetünchten Kellerkemenaten des Kunstraums, schnell und eng an seine Grenzen stößt. Also nehmen die drei Jungkunsträumler noch den Wirtschaftsraum dazu, um Platz für eine Lichtinstallation zu schaffen, die sich am Eröffnungsabend so wenig aufdrängt, dass vorbeischauende Abstellkammerbesucherinnen lieber darüber diskutieren, ob das im Hintergrund der Kammer inszenierte Putzmittel eines Drogeriediscounters die Installation sei, ob dies wirklich sauber macht oder nicht doch eine andere Marke zu bevorzugen wäre. Es ist das In Situ des Putzmenschendaseins an seinem natürlichen Ort. Ein künstlicher Prozess in den Katakomben der Kunstwelt.

Die größte Grenze des gut gemeinten Experiments aber ist, dass die drei Kuratoren wohl selbst nicht genau wissen, wohin die Reise eigentlich gehen soll. Graftieaux, Mayr und Neiens beziehen den Namen auf ihre „eigene kuratorische Handlungspraxis“, wie sie im Begleittext zu ihrem Natürlichortseröffnung verkünden: „Das Ziel ihrer kuratorischen Arbeit ist es, Ausstellung zu konzipieren, die in Hinblick auf kulturelle, soziale, geographische und inhaltliche Räume in situ entstehen.“ Dazu bilden in den nächsten Wochen und Monaten sechs Episoden eines Ausstellungszyklus zu aktuellen Themen wie Kunstmarkt, Kunstproduktion oder Beurteilungskriterien von zeitgenössischer Kunst. Das ist so weit gefasst und so beliebig, dass sich der Besucher darin verlaufen mag. Die drei Gründer ziehen keine Grenzen, sondern wollen alles sein und sind nichts: kein Museum, keine Sammlung, kein Atelier, kein Institut – was der Name ein klein wenig suggerieren mag – und auch keine Galerie. „Wir vermitteln zwischen Künstler und Betrachter“, erklärt Neiens. Doch drei Bilder an die Wand genagelt, sind weder Vermittlung, noch Einblick, noch Erklärung, noch Darstellung, sondern eine Wand mit drei Bildern, gegen die der Betrachter läuft. Das Konzept erklärt sich nicht, nicht selbst und auch nicht die Künstler, die ihre Werke präsentieren.

Der Besucher klammert sich an bekanntes. So stürmt eine Dame mit Begleiterin in den Kunstraum, um ein Verkaufsgespräch zu führen. Ein scharfer Blick auf die Kunst. Kurze Worte an die Begleitung. Dann der Preis als Verhandlungsbasis und im Eilschritt die Treppenstufen hinauf auf die Kurfürstenstraße, denn es ist Freitagmittag und die Sonne scheint über Stadt, Land, Fluss. „Wir verkaufen nichts“, erklärt Neiens. Damit stellt sich die Sinnfrage. Um diese Frage kreisen auch die drei Kunstmenschen, die großen Wert darauf legen, einen „nicht-kommerziellen Kunstraum“ eröffnet und geschaffen zu haben. In Situ. Reich an Engagement, Begeisterung und Leidenschaft, die Graftieaux, Mayr und Neiens nicht abzusprechen sind. Reich auch an luxemburgischen Fördermitteln, die diesen Luxus der Sinnlosigkeit ermöglichen. Doch die ungeklärte Sinnfrage verwirrt die Besucher in ihrer Erwartungshaltung an Insitu. Ein solches Open-Space-Konzept mag in Differdingen, Arlon oder Konz funktionieren, wird es aber in Berlin mit seinem überbordenden Angebot an Museen, Ateliers, alternativen Kunstprojekten, Galerien und öffentlichen Kunstexperimenten schwer haben. Die Inkonsequenz führt sich fort, wenn die Macher von Insitu ankündigen „aufstrebende Künstler aus dem jeweiligen Herkunftsland der KuratorInnen (Österreich, Frankreich und Luxemburg)“ zu zeigen, „gepaart mit internationalen Künstlern aus Berlin.“ Die Eröffnungsschau bestreiten die Deutschen Sinta Werner und Ulrich Vogl mit dem Spanier Ignacio Uriarte, die „mit ihren Werken speziell auf die neuen Räumlichkeiten Bezug“ nehmen. Alles Weitere lässt begrenzten Raum und wenig Platz für Interpretationen.

Der betrachtende Besucher bleibt mit seinen Eindrücken alleingelassen zurück. „Drei Bilder an der Wand und Putzmittel hinten links“, wie eine Besucherin am Eröffnungsabend ihrem Ehemann den neuen natürlichen Urknall der Berliner Kunstszene beschreibt. Der Gatte spart sich die Treppenstufen hinab. Insitu sei nicht ebenerdig.

Insitu. Kurfürstenstraße 21-22, Berlin (Tiergarten). Geöffnet mittwochs bis freitags von 16 Uhr bis 19 Uhr, samstags von 14 Uhr bis 18 Uhr. www.insitu-berlin.com.
Martin Theobald
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