Michel Majerus Estate

Ein Hinterhof

d'Lëtzebuerger Land vom 17.05.2013

Er ist hip, der Berliner Kiez Prenzlauer Berg im ehemaligen Osten der Stadt. Er hat noch den Ruch des Ursprünglichen und Unangepassten. Inzwischen edel saniert, von schwäbischen Einwanderern gentrifiziert, auf Vordermann gebracht und durch viele junge, kreative Menschen belebt, die hier von der Bohème vergangener Dekaden träumen. Mittenmang scheinbar von der Historie übrig gebliebene und unberührte, alt eingestammte Ossis, die durch den neuen „Prenzlberg“ tapsen wie über einen fremden Planeten. Sie wohnen noch immer in ihrer Sechsraumwohnung mit Kohleofen für zweihundert Euro Miete im Monat, sehnen sich ebenfalls nach abgehefteten Zeiten und verstehen ihren Kiez nicht mehr. Der ist jetzt schick, mondän, urban. Künstler allenthalben. Galerien sowieso und nun auch noch ein Estate. Das verspricht ein Schild, das an einem Haus in der Knaackstraße prangt. Es weist in den zweiten Hinterhof. Hier hat Ende April der Michel Majerus Estate eröffnet. Alt- und Neu-Prenzlberger vermutet eine Hausverwaltung oder Immobilienvermarktung im lichtleeren Hof. Sie kennen weder Michel Majerus – noch sein Werk. Achselzucken allenthalben.

Estate erfordert eine Begriffsbestimmung zwischen „sagt“ und „meint“. Deutlicher wird es bei einem genaueren Blick auf und ins Milieu der internationalen Kunstszene. Sie ist ein überschätzter, überschaubarer Markt mit nur wenigen Akteuren. Auf der einen Seite die Nachfrage durch einige Käufer, die bereit sind viel Geld für große Namen zu zahlen. Für sie ist Kunst immer ein Invest, das sich in Bilanzen niederschlägt, in Wertsteigerung und Rendite bemessen lassen muss. Analysten der Szene gehen von rund eintausend wichtigen Sammlern aus. In aller Welt. Man kennt sich, man trifft sich, man lebt von Erinnerungen an Käufe und Verkäufe, an Künstlerinnen und Künstler, die sich einen Namen machten, weniger an jene, die schnell im Strudel der Mode versanken. Zeitgenössische Werke haben bei ihnen nur eine Chance, wenn der Marktwert stimmt und die Performance sich auf einen abgesteckten Zeitraum bemessen lässt.

Die Zeiten der Bank-, Wirtschafts- und Eurokrisen ist nahezu spurlos an diesen Kunstinvestoren vorbei gegangen. Schließlich hat die Politik alles getan, um Geldhäuser und große Vermögen zu schützen. Deshalb funktioniert der Kunstmarkt noch immer und werden bei Auktionen hohe Verkaufserlöse erzielt. Dennoch hat das Jahr 2008 zwei Zäsuren auf dem Kunstmarkt gesetzt: Gegenwartskunst hat es einerseits schwer auf dem Markt, da die Käufer konservativ geworden sind und bekannten Künstlern mit ihren Werken den Vorzug geben. Wichtiger aber ist der zweite Einschnitt: Die gehobene Mittelklasse macht sich rar auf dem Parkett der Kunstkäufer, damit jene, die Kunst aus Leidenschaft und Interesse kaufen, die sich für den Maler interessieren, sein Werk schätzen, bereit sind Wagnisse einzugehen und auch unbekannte Künstler begleiten. All jene, die früher gerne als Neureiche abgetan wurden, die sich einen großen Namen – noch – nicht leisten konnten und deshalb auf unbekannte Künstler auswichen. Diese Klientel hat die andauernde Krise verschluckt. Damit einher geht eine wesentliche Veränderung bei den Kunstschaffenden: Entweder ist ihr Auskommen prekär. Oder sie legen – um der prekären Situation zu entkommen – größeren Wert auf Vermarktung und Selbstdarstellung, denn auf künstlerische Qualität. Wer sich einen Namen in der Sammlerszene gemacht hat, der muss zuschauen, dass er mit seinem Angebot die Nachfrage bedient – und zwar in dem Maße, wie es der Wertsteigerung zuträglich ist. Ob die Qualität des Werks stimmt, ist ohnehin zweitrangig, denn der Kennerblick hat ausgedient, wenn sich der Name im Safe oder in gut lesbarer Signatur auf buntem Hintergrund in passendem Rahmen über der Wohnzimmercouch besser macht.

Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen auf die Zunft der Galeristen. Nur noch wenige schaffen es, in ihren Verkaufsräumen – vulgo: Galerien – für Umsatz zu sorgen. Das Messengeschäft ist wichtiger denn je und so hetzt man von Basel über Miami nach London, macht Station in Mailand, Brüssel und Hongkong, dann der mühsame Weg nach Karlsruhe und Köln. Manche Galeristen versuchen sich als „kunstproduzierende Wollmilchsau“, die ihr Klientel direkt ins Atelier der Künstler schaffen, um die Werke direkt von der Staffelei kaufen zu können. Andere schaffen sich ihren eigenen Markt mit konformen Künstlern und Nachfrage. Dazu gehört zweifelsohne der Berliner Galerie Neugerriemschneider, die Michel Majerus seit 1994 vertritt. Sie zeichnet nun auch für den Michel Majerus Estate verantwortlich, hält sich aber im Hintergrund und tritt nur als Estate in Erscheinung. Eröffnet wurde er während des Berliner Gallery Weekend Ende April im ehemaligen Atelier des luxemburgischen Künstlers. Es wurde umgebaut, um dem Archiv des Künstlers einen Ort und eine Heimat zu geben. Mit gutem Grund im Prenzlauer Berg, so die Estate-Beauftragte der Galerie. Schließlich sei das Oeuvre vor dem Hintergrund der sich neu entwickelnden Kunst- und Kulturszene Berlins der Neunzigerjahre entstanden und damit ein Teil dessen. Verweise auf seine Heimat, seinen Werdegang und sein Studium an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart bleiben auf der Strecke. Bewusst oder unbewusst.

Die Begrifflichkeit zur Estatelichkeit wird umschifft – ein Kunstwort in aufgeblasener Bedeutung, kein Museum, keine Atelier, keine Galerie. Aber mit Hintergrund. Auf die Anfrage vom Land gibt sich Susanne Küper, die den Estate betreut, schmallippig: Der Michel Majerus Estate arbeite ebenso mit der Galerie zusammen, wie es auch der Künstler selbst getan habe. „Er ist in die Tätigkeit der Galerie also auch in den Verkauf der Werke involviert, ähnlich wie der Künstler es auch war.“ Dabei sei der Estate jedoch keine Galerie, weil er nicht die Interessen mehrerer Künstler vertrete. Insbesondere die letzte Erklärung klingt sehr nach einsamer Rechtfertigung und Definitionsklauberei. Der Widerspruch folgt auf dem Fuße: Der Estate, so Küper weiter, werde auch Künstler einladen, die sich für die Arbeit von Michel Majerus interessieren, ein Projekt zu realisieren. Es wäre doch halbherzig, vertritt der Estate dann nicht auch deren Interesse – in jedweder Form und zu jedwedem Anlass. Und zwischendurch: „Möglich ist auch, dass Kuratoren oder Künstlerfreunde zu Vorträgen über Michel und sein Werk eingeladen werden.“ Es lebe die Großherzigkeit. In Öl. In Acryl. Großformatig.

Dabei gewinnt das Oeuvre von Michel Majerus an Bedeutung. Nachdem in den ersten Jahren nach seinem Tod im November 2002 seine signierten Drucke und autorisierten Serigrafien im Internetauktionshaus Ebay für deutlich unter 100 Euro zu haben waren, setzt man nun auf Wertsteigerung, auf Performance. Denn das Werk hat seit einiger Zeit eine beachtliche Provenienz vorzuweisen, die es interessant für den internationalen Kunstmarkt machen. 2005 gab es unter dem Titel What looks good today may not look good tomorrow eine erste Retrospektive im Kunsthaus Graz, die in der Folge im Stedelijk Museum Amsterdam, der Kestner Gesellschaft Hannover, den Hamburger Deichtorhallen und schließlich auch im Luxemburger Mudam zu sehen war. Vor allem aber die umfassende Werkschau mit über 100 Gemälden und Installationen im Kunstmuseum Stuttgart vom November 2011 bis April 2012, zu der das Museum sogar seine ständige Ausstellung umquartierte, lenkten wieder Aufmerksamkeit auf den Künstler. „Es findet international wachsende Anerkennung“, fasst Susanne Küper zusammen, „und erhält mit dem Michel Majerus Estate eine neue Präsenz in Berlin.“

Doch es wird kein Museum sein, kein Ort der Begegnung werden, kein spontaner Besuch ist im ehemaligen Atelier möglich, der vielleicht geneigte Kunstliebhaberinnen und Liebhaber dazu verleiten könnte, sich mit dem Werk des Luxemburgers auseinanderzusetzen oder ihm zu begegnen. Wenn der Standort so wichtig und die Wechselbeziehung zwischen Majerus und dem direkten Lebensumfeld im Prenzlauer Berg so musenhaft entscheidend war, wie allenthalben betont wird, dann ist es unverständlich, dass der Estate hermetisch von seiner Umwelt abgeschlossen und abgeschottet wird als wäre der zweite Hinterhof nicht bereits genug Distanz, Barriere und Ferne vom Leben. „Geplant ist, die Räume zu besonderen Veranstaltungen in Berlin öffentlich zugängig zu machen“, wiegelt die Estate-Beauftragte Küper ab. „Sie werden nicht permanent zu bestimmten Zeiten geöffnet sein. Solche besondere Veranstaltungen seien eben das Gallery Weekend Berlin oder die Art Berlin Contemporary (abc). Letzteres ist eine von Galerien kuratierte Verkaufsveranstaltung, die in diesem Jahr vom 19. bis zum 22. September im „Station“ am Gleisdreieck stattfinden wird. Diese Veranstaltung half dabei, der Kunstmesse Art Forum Berlin den Garaus zu machen und sie durch ein Spektakel zu ersetzen, die der Zwiespältigkeit des internationalen Kunstmarkts eine Bühne bietet. Dieser lechzt immerzu nach neuen, frischen, frivolen Künstlerinnen und jungen, wilden, ungestümen Künstlern, die permanent neue Kreationen abliefern.

abc ist die Casting-Show, die darüber entscheidet, welche oder welcher von ihnen demnächst einen Hype haben wird oder darf. Von Galeristen nachdrücklich gesteuert – im Fachjargon heißt das „kurartiert“. Diesen Unterhaltungswert und Selbstdarstellungsmarkt braucht die Kunstszene, denn man ist ja Avantgarde. Auf der anderen Seite lässt sich das Establishment in Luxuslimousinen mit abgedunkelten Scheiben und Vorfahrtsberechtigung durch die Stadt kutschieren, um in geschlossener Gesellschaft zum Dinner beim Edel-Italiener, im Hinterzimmer einer Galerie im erlauchten Kreis Kunst frisch von der Staffelei renommierter Granden zu begutachten und zu erwerben oder eben ab sofort – ganz neu und ganz exklusiv – im Michel Majerus Estate. Bei Currywurst und Berliner Weiße mit Schuss, grün – das ist helles Bier mit Waldmeistersirup. Das ist hip. Das ist hop. Das ist Kunst in ihrer ganzen Künstlichkeit.

Eröffnet wurde der Michel Majerus Estate mit der vom Briten Charles Asprey zusammengestellte Ausstellung Beautiful Way. Asprey rühmt sich in seinem Wikepedia-Eintrag mit der viertägigen Show und seinem Verdienst um junge deutsche Kunst und junge Künstler aus Deutschland, denen er Tür und Tor zur Londoner Kunstwelt öffnete. Darunter eben auch Michel Majerus. Der Titel der Schau sagt viel über die Lieblosigkeit aus. Der Geist, die Energie, die Kraft und die Vielseitigkeit, die Ironie, der Hintersinn von Majerus – von all dem ist im ehemaligen Atelier des Luxemburgers im zweiten Hinterhof nichts mehr zu spüren. Stattdessen Aufgeräumtheit in sterilem Weiß. Passend dazu die Webseite des Estates, die nicht viel Worte verliert, noch weniger vom Künstler zeigt und über die sich auch Drogen verkaufen lassen. Im Estate des zweiten Hinterhofs quietscht nur ein abgeranztes gelbes Sofa gegen zuviel Geldgeilheit an. Die Ausstellung kapriziert sich auf 14 Werke von Majerus und ein weiteres, blaues Sofa, auf dem man bequem Nickerchen machen kann, bevor die Verkaufsveranstaltung beginnt und zwischen Avon-Schönheit und Tupperware-Plastik ein Majerus wohlfeil geboten wird. Man muss nicht alles verstehen, man muss nicht überall einen Sinn vermuten, man muss nur kaufen. Kaufen. Kaufen!

Michel Majerus Estate, Knaackstraße 12, zweiter Hinterhof, Berlin-Prenzlauer Berg (Pankow), Eingang ganz hinten rechts. Auskunft zu den seltenen Öffnungszeiten unter info@michelmajerus.com oder Telefon +49 30 473 773 00. Akzeptanz von EC- und Kreditkarte auf Anfrage.
Martin Theobald
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