Interview mit Emmanuel Krivine, Chefdirigent des OPL

Lektion in Sachen Hörkultur

d'Lëtzebuerger Land du 15.04.2010

Gleich nach dem Abonnement-Konzert vergangenen Sonntagabend haben die Musiker des OPL ihre Koffer gepackt. Das Orchestre Philharmonique du Luxembourg tourt derzeit mit seinem Chefdirigenten Emma-nuel Krivine und dem Pianisten Jean-Yves Thibaudet durch Großbritanien und Irland. Mit dem „römischen Karneval“ und der Symphonie fantastique von Hector Berlioz und Edward Griegs Klavierkonzert in A-Moll gibt sich das OPL als europäischer Klangkörper zwischen nordischer Melancholie und mediterraner Klangpracht.

Das Image des multikulturellen, vielseitigen Orchesters pflegt Emmanuel Krivine ganz bewusst. Seit neun Jahren arbeitet er intensiv mit dem OPL zusammen, zuerst als führender Gastdirigent, seit der Saison 2006-2007 als Chefdirigent. Der aus Grenoble stammende Krivine hat russische und polnische Wurzeln: sein Vater war Russe, seine Mutter kam aus Polen. Seine künstlerische Laufbahn begann er als Geiger. In den Sechzigerjahren tauschte er den Bogen seiner Violine gegen den Taktstock des Dirigenten. Starke Impuse setzte Krivine zwischen 1987 und 2000 als Musikdirektor des Orchestre National de Lyon und im Orchestergraben der Opéra National de Lyon. Von der Geige hat er Charisma, Akribie, Sensibilität und ein schier erstaunliches Gehör ans Pult des OPL mitgebracht. Krivine ist kein Star, er ist ein von Klangqualität Besessener, ein Arbeitstier. Im Vorfeld der Ankündigung der Saison 2010-2011, Krivines fünfter Spielzeit als OPL-Chefdirigent, unterhielt er sich mit dem Land.

d’Land: Sie hatten sich viel vorgenommen, als sie das Amt des OPL-Chefdirigenten vor vier Jahren annahmen. Vor der Ankündigung Ihrer fünften Saison darf man nach einer Zwischenbilanz fragen. Was konnten Sie von Ihren Zielen in Luxemburg umsetzen?

Emmanuel Krivine: Ich kenne die Musiker seit 2001. Ich habe sehr schnell das Potenzial dieses Klangkörpers entdeckt. Das Problem: Das OPL war nicht homogen. Wie hätte es das auch sein können, bei den Probe-bedingungen in der Villa Louvigny. Sicher, das Gebäude hat Charme, auch das Auditorium. Aber die Akustik dort ist eine einzige Katastophe. Mit dem Bau der Philharmonie hat sich alles verändert. Ich hatte endlich die Möglichkeit, die Ziele, die Sie ansprechen, umzusetzen.

Das Orchester hat heute eine echte Persönlichkeit, eine kollektive Persönlichkeit, wie es die Deutschen ausdrücken. Das ist sehr wichtig. Wie haben wir das erreicht? Einen Zaubertrtick gab es nicht. Wir haben gearbeitet. Das tue ich immer mit derselben Methode. Sie alles andere als originell, aber sie funktioniert: Ich versuche, auf die Musiker einzugehen, auf sie zu hören und das gegenseitig aufeinander Hören zu fördern. Jede Probe muss eine Lektion in Sachen Hörkultur sein. Manche Dirigenten versuchen es mit Disziplin. Auch das ist wichtig, aber es genügt nicht. Man wird nicht homogen, weil man das tut, was der Dirigent vorgibt, sondern weil man aufeinander hört. Große sinfonische Musik ist nichts anderes als Kammermusik. Nur mit einem anderen Effektiv. Mit dieser sokratischen Weisheit sind wir sehr schnell voran gekommen.

Wie würden Sie dieses Orchesterkollektiv genauer beschreiben?

Das OPL ist ein gewaltiger Melting Pot. Die Leute kommen aus Luxemburg, Frankreich, dem deutschsprachigen Raum, dem angelsächsischen Raum, aus Asien. Es ist faszinierend zu beobachten, wie diese von ihren Wurzeln her sehr unterschielichen Menschen miteinander musizieren. Jeder Einzelne bringt seine ganz persönlichen Erfahrungen ins Kollektiv mit ein, und das interessanterweise in Luxemburg, im Zentrum Europas, am Schei­deweg zwischen der deutschen und der französischen Tradition. Das gibt dem OPL Charisma.

Inwiefern hat sich mit dem Bau der Philharmonie die Arbeit mit dem OPL und die Kulturlandschaft Luxemburgs verändert? Die Karten wurden mit der internationalen Konkurrenz doch neu gemischt.

Die Philharmonie ist das Beste, was dem Luxemburger Musikleben passieren konnte. Ich habe es bereits angesprochen: Natürlich kann man in der Philharmonie ein schöneres Konzerterlebnis hervorrufen als im Konservatorium. Am radikalsten aber haben sich mit diesem großartigen Bau die Probebedingungen verändert. In der Villa Louvigny bewegten wir uns in einer Sackgasse. Klar, die Philharmonie hat sehr große internationale Orchester angezogen, renommierte Dirigenten, brillante Solisten. In diesem neuen Umfeld mussten wir uns behaupten. Das ist schon eine gewaltige Herausforderung für ein Orchester mit einem festen Abonnement-Publikum. Das Angebot hat sich vervierfacht, nicht aber unsere Abonnenten. Wir mussten sie überzeugen, dass es sich im Umfeld dieser internationalen Konkurrenz auch weiterhin lohnt, zu uns kommen. Ich denke, das haben wir geschafft. Das Wichtigste war, dass wir die Chance bekommen und sie auch genutzt haben, die Identität des OPL sichtbarer zu gestalten. Ich möchten den Einwohnern Luxemburgs zeigen, dass das ihr Orchester ist, das da auf der Konzertbühne musiziert. Die Musiker heißen nicht umsonst Orchestre Philharmonique du Luxembourg.

Welche weiteren Akzente möchten sie mittelfristig setzen?

Bahnbrechende Akzente werden wir nicht setzten. Wir sind ein vielseitiges Orchester mit einem sehr breiten Abonnement-Publikum. Diese Vielseitigkeit möchte ich auch in den kommenden Jahren pflegen. Wir arbeiten mit renommierten Dirigenten zusammen: Saraste, Ono, Hugh Wolf. Es ist erstaunlich, dass ich heute auf einmal Zusagen von Dirigenten bekomme, die ich vor ein paar Jahren eingeladen habe. Die internationalen Größen sind auf das OPL aufmerksam geworden. Sie haben die Stärken der Musiker erkannt. Darum ist es wichtig, wie dieser Tage in England und Irland, auf Tounee zu gehen, sich im Ausland zu profilieren. Das ist keine Geldverschwendung. Das ist eine sehr effiziente Art und Weise, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Natürlich ist die Finanzkrise da sehr wenig hilfreich. Wir sind schon auf die Unterstützung der Öffentlichkeit angewiesen und wissen sie auch zu schätzen.

Was wird uns konkret in Ihrer fünften Spielzeit erwarten?

Ein sehr vielseitiges Programm. Jew-geni Kissin wird im September kommen. Wir machen eine sehr interessante Balkan-Tournee, gastieren beim Rheingau-Festival und im Concertgebouw in Amsterdam. Mit dem Repertoire versuche ich, auf den Geschmack unseres Publikums einzugehen. Natürlich spielen da auch wirtschaftliche Aspekte mit. Damit möchte ich nicht sagen, dass wir uns jedem Experiment verschließen. Wir werden auch in Zukunft Neue Musik aufführen, ganz besonders die der Zeitgenossen Luxemburgs, aber die Dosierung muss stimmen. Es bringt weder uns noch den Komponisten weiter, wenn wir ein Stück vor leerem Haus zur Uraufführung bringen.

In den letzten Jahren hat sich auch die Zusammenarbeit mit den anderen Akteuren der Musikszene in Luxemburg intensiviert.

Diesen Kurs werden wir auch fortsetzen. Es wird neue Joint ventures geben. Wir starten ein Projekt, das das Musizieren auf modernem und originalem Instrumentarium gegenüberstellt. Wir werden das Projekt dating weiterführen, in dessen Rahmen Werke auf sehr lehrreiche und unterhaltsame Weise vorgestellt und aufgeführt werden. Im Großen Theater werde ich gemeinsam mit dem OPL Béatrice et Bénédict von Hector Berlioz in einer sehr spannenden, von waschechtem britischem Humor durchzogenen Produktion von Dan Jemmett, die soeben an der Opéra Comique in Paris Premiere hatte, aufführen. Es ist wichtig, dass die Musiker eines sinfoni-schen Orchesters ab und zu in einen Orchestergraben steigen. Man lernt sehr viel, auch als Dirigent, indem man Orchester und Plateau miteinander koordinieren muss. Auch das ist wiederum eine wertvolle Lektion in Sachen Hörkultur.

Was würden Sie als Ihr ganz persönliches Repertoire bezeichnen? Welche Musik lieben Sie?

Das Repertoire, das ich liebe, ist auch das, das ich dirgiere. Das bringt mit sich, dass ich im Vergleich zu anderen Kollkegen ein sehr bescheidenes Repertoire habe. Nehmen Sie Neeme Järvi senior. Er hat alles dirigiert, wirklich alles. Ich mische mich nicht in Dinge ein, die mich nicht ansprechen. Wenn ich ein Werk dirigiere, dann aus Überzeugung; das heißt, weil es mich anspricht und ich das Gefühl habe, mit dem Konzert etwas auszudrücken. Sehr amüsant war wohl die Aufführung von Les Brigands durch ds OPL zu Beginn der aktuellen Spielzeit im Stadttheater. Ich habe das Dirigat meinem Kollegen Emmanuel Joël-Hornak überlassen. Offenbach ist nichts für mich. Ich bevorzuge es, Stücke aufzuführen, die mich faszinieren, sie dann einige Jahre in die Schublade zu legen und sie dann erneut aufzugreifen und zu vertiefen. Das ist meine Art. So bin ich.

Marc Fiedler
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