Eine Petition will einen einzigen Kollektivvertrag für den Pflege-, Sozial- und Gesundheitssektor. Doch dass das Parlament darüber diskutieren könnte, scheint keinen zu begeistern

Stein ins Wasser

d'Lëtzebuerger Land vom 26.04.2019

Unter den Petitionen, die auf dem Internetportal der Abgeordnetenkammer zur Unterschrift ausliegen, hat die mit der laufenden Nummer 1250 den sperrigsten Titel: „Entamer la démarche et prendre les mesures nécessaires pour mettre en place une Convention Collective de Travail (CCT) dans les secteurs sanitaire, d’aide et de soins et social en remplacement des CCT existantes, à savoir la CCT-FHL et la CCT-SAS“. Wer damit nichts anfangen kann, dürfte die Petition kaum zur Kenntnis nehmen. Dabei ist ihr Anliegen brisant. Hätte es diesen einen, einzigen, Kollektivvertrag schon im vergangenen Jahr gegeben, oder noch besser, schon 2017, dann hätte der Pflegeheimstreik im Juni vermutlich nicht stattfinden müssen.

Bemerkenswert ist auch, wer die Petition eingereicht hat: Frank Gansen ist Verwaltungsdirektor und derzeit amtierender Generaldirektor des Ettelbrücker Centre hospitalier neuropsychiatrique (CHNP). Vom Land kontaktiert, betont er: „Ich habe das als Bürger gemacht, nicht als Krankenhausdirektor.“ Doch als CHNP-Direktor weiß er, wovon er spricht: „Stelle ich eine Krankenpflegerin ein, die 15 Jahre an einem Spital gearbeitet hat, erhält sie die anerkannt. Stelle ich einen Krankenpfleger ein, der 15 Jahre an einem Pflegeheim tätig war, erhält er nur die Hälfte angerechnet.“ Das sei problematisch für den Betrieb und nicht gerecht: „Ob am Krankenhausbett oder am Pflegeheimbett, ob bei der Betreuung Behinderter oder pflegebedürftiger Personen zuhause – die dazu nötigen Qualifikationen und die Arbeit sind doch quasi dieselben!“

Ungerecht sei auch, dass Gehälter und Arbeitsbedingungen in Spitälern wegen des dort geltenden Kollektivvertrags CCT-FHL vorteilhafter sind als im Sozial- und Pflegesektor mit dem CCT-SAS. Bleibe das so, fänden Pflegebetriebe womöglich bald nicht mehr genug Mitarbeiter, fürchtet Gansen. Ein einziger Kollektivvertrag für die Branchen sei im „Allgemeininteresse“.

Wie verschieden beide Kollektivverträge sind und welche Probleme es um sie gibt, erfuhr die Öffentlichkeit durch den Pflegeheimstreik: In Krankenhäusern gilt die 38-Stundenwoche, in Pflegeheimen gelten 40 Stunden. In Spitälern gibt es Urlaubsgeld, mehr bezahlte Pausen und im Schnitt rund 15 Prozent mehr Gehalt.

Hinzu kam, was zum Streik führte: Einst gehörten alle Pflegeheime dem Krankenhausverband FHL und dessen Kollektivvertrag an. 2010 wechselten sie in den neuen, für den Sozial- und Pflegesektor verbindlichen SAS-Vertrag. Dass es Pflegeheim-Mitarbeiter gibt, die unter FHL-Bedingungen angestellt wurden, war so lange kein größeres Problem, wie Kollektivverträge lediglich Gehälterabkommen im öffentlichen Dienst nachvollzogen: Klinik- und SAS-Sektor sind beide „parastaatlich“.

Doch 2015 trat im öffentlichen Dienst die Reform des Beamtenstatuts in Kraft, die noch die letzte CSV-LSAP-Regierung mit der CGFP ausgehandelt hatte. Sie wertete verschiedene Beamtenlaufbahnen auf, darunter die von Krankenpflegern, Erziehern oder Sozialarbeitern beim Staat. Die vorige DP-LSAP-Grüne-Regierung versprach, das könne auch im Klinik- und im SAS-Sektor nachgeholt werden; das nötige Geld werde bereitgestellt. 2017 wurden dazu neue FHL- und SAS-Kollektivverträge ausgehandelt. Doch dann erklärten drei, nicht alle, Pflegeheimbetreiber mit Mitarbeitern im FHL-Statut, diesen die Laufbahnaufwertung zu geben wie im Klinikwesen sei entweder zu teuer oder aus Prinzip nicht möglich. Um dem daraufhin vom OGBL initiierten Streik ein Ende zu setzen, schloss die Regierung Mitte Juni mit dem Verband der Pflegebetriebe (Copas) ein Abkommen: Pflegeheim-Betreibern mit FHL-Personal würden die Mehrkosten über die Pflegekasse ausgeglichen. Dazu sollten sämtliche Pflegebetriebe untereinander eine Art Finanzausgleich vereinbaren. Die CNS, die die Pflegekasse verwaltet, würde ihn anschließend exekutieren.

Noch ist der genaue Modus dafür nicht gefunden. Am 21. März sagte Copas-Präsident Marc Fischbach im RTL Radio, „manche“ Betriebe müssten schon ihre Reserven angreifen, um FHL-Personal zu bezahlen. Fischbach sagte bei der Gelegenheit auch, die Regierung sei „gut beraten“, über einen einzigen Kollektivvertrag für die FHL- und die SAS-Branche „nachzudenken“. Und schob nach, in einem Spital verdiene ein Krankenpfleger über 20 Prozent mehr als in einem Pflegeheim, und insgesamt sei der FHL-Vertrag „17,2 Prozent teurer“ als sein SAS-Pendant.

Die Lösung der Probleme, die zum Streik führten, dürfte nicht davon abhängen, ob es zwei oder einen einzigen Kollektivvertrag gibt. LSAP-Sozialminister Romain Schneider teilte vergangene Woche auf zwei parlamentarische Anfragen mit, welch guten Willens alle Beteiligten seien, die Abmachung vom Juni umzusetzen. Die Verhandlungsvertreterin der Copas, Fabienne Steffen, sagt gegenüber dem Land, wie die „Solidarität“ unter den Pflegebetrieben aussehen soll, sei Copas-intern ausgemacht worden. „Unser Verwaltungsrat hat dem zugestimmt.“ Mit der CNS müsse noch geklärt werden, ob der Mechanismus sich tatsächlich ohne eine Gesetzesänderung anwenden lässt.

Das klingt nach einem lösbaren Problem. Die beiden Verträge zusammenzuführen, wäre etwas anderes und auch politisch komplex. OGBL-Generalsekretärin Nora Back, bis Juli 2018 Zentralsekretärin des Syndikats Gesundheits- und Sozialwesen und, wenn man so will, die Heldin des Pflegeheimstreiks, ist nicht begeistert davon, dass eine Petition über die Kollektivverträge vom Parlament diskutiert werden könnte. Der OGBL verlangt zwar seit Jahren, dass der Pflege- und Sozialbereich den besseren FHL-Vertrag übernehmen soll. Die Position der Gewerkschaft sei aber, so Back, dass das in die Tarifautonomie gehöre und nicht ins Parlament.

Wohin die Petition es vielleicht auch nicht schafft: Am gestrigen Donnerstag Mittag trug sie 905 Unterschriften, weit weg von den 4 500, die bis zum Stichtag 17. Mai vorliegen müssen, um eine Debatte auszulösen. Aber wahrscheinlich käme eine Fusion der Kollektivverträge, falls man sie wollte, gar nicht vorbei an der Politik.

Dass der Krankenhaus-Vertrag besser ist als sein SAS-Pendant, obwohl beide Sektoren parastaatlich sind, wirft die Frage auf, ob in Kliniken die Arbeits- und Lohnbedingungen womöglich vorteilhafter sind als beim Staat. Eine Antwort erhielt die CSV-LSAP-Regierung 2010, als sie die Beamtenreform vorbereitete: Nicht nur in den Kliniken, auch im SAS-Bereich seien sie besser. OGBL und LCGB wussten die Tarifautonomie offenbar zu nutzen, um etwas mehr herauszuschlagen, als die CGFP für den öffentlichen Dienst vermochte. Gegenüber ihren Mitgliedern ließen sie das ab und an durchblicken. Doch der Klinik-Vertrag ist wesentlich besser; man sieht das beim Vergleich der Laufbahnen, die den Verträgen beigefügt sind: Nur in Karrieren ganz ohne Diplom sowie in denen für Bachelor- und Master-Inhaber sind laut SAS-Vertrag bis zum elften beziehungsweise 15. Dienstjahr die Gehälter höher als laut Krankenhaus-Kollektivvertrag. Für BTS-Karrieren ist das bis zum fünften Dienstjahr auch so. In allen anderen Laufbahnen, darunter denen mit Abitur, was auf Krankenpfleger zutrifft, oder mit einem BTS spécialisé, den spezialisierte Krankenpfleger erwerben, sowie generell in höheren Dienstjahren mit der einzigen Ausnahme nicht Diplomierter wird im FHL-Regime mehr verdient. Für eine Krankenpflegerin führen die Gehältertabellen mit Stand Januar 2017 fin de carrière nach 28 Dienstjahren 7 297 Euro im Monat nach dem SAS-Regime auf und 8 111 Euro nach dem FHL-Regime. Wobei in letzteren Betrag 38-Stunden-Woche und Urlaubsgeld noch nicht eingerechnet sind.

Wie viel es sein kann, ist letzten Endes eine Frage der Verfügbarkeit öffentlicher Gelder: Der Streik in den Pflegeheimen, die sich zu zwei Dritteln aus Pflege- und Krankenversicherung finanzieren und zu einem Drittel aus dem frei kalkulierbaren Heimpreis, zeigt, in welchem Ausmaß Klassenkampf heute im geschützten Sektor ausgetragen wird und sich eigentlich gegen den Staat richtet. Die Regierung bestimmt, worüber verhandelt werden darf, zumindest im SAS-Bereich: Eine im Familienministerium angesiedelte paritätische Kommission, der auch Vertreter des Finanzministeriums angehören, legt eine „Enveloppe“ fest, die für „Parallelismus“ mit dem öffentlichen Dienst sorgen soll. Plus einen Spielraum für SAS-Vertragsverhandlungen. Die Regel gelangte 1998 als Passus in ein Gesetz über die Sozial- und Pflegebetriebe. Im Klinikbereich gibt es so etwas nicht; so weit zu gehen, traute noch niemand sich.

Die Verhandlungsspielräume könnten in Frage stehen, falls die Politik sich der beiden Kollektivverträge annimmt. Ob sie das tun würde, steht auf einem anderen Blatt. Die DP-LSAP-Grüne-Regierung hätte 2017 bei den ziemlich historischen Neuverhandlungen mit Laufbahnaufbesserung vermutlich darauf hinwirken können, die beiden Verträge einander anzunähern, unterließ es aber. Der OGBL arbeitete darauf auch nicht hin: Vielleicht ist es ja strategisch schlauer, in jeder Verhandlungsrunde das Maximum herauszuschlagen, statt eine Gruppe Mitglieder zu verärgern, indem man etwa den Krankenhausvertrag stagnieren ließe, während der SAS-Vertrag besser würde. Bei den Sozialwahlen im März schnitt der OGBL gerade bei Wählern aus dem Gesundheits- und Sozialwesen überragend ab.

Doch es sieht so aus, als käme es nicht nur dem OGBL nicht sonderlich gelegen, dass das Parlament anhand einer Petition über die Kollektivverträge debattieren könnte: Der Krankenhausverband hatte auf die Frage, ob er dazu eine Meinung habe, bis zum Redak-
tionsschluss dieses Artikels noch nicht geantwortet. Auch die Copas wollte sich dazu nicht äußern, obwohl ihr Präsident der Regierung schon etwas geraten hat. Doch das war, bevor Frank Gansen seinen Stein ins Wasser warf.

Peter Feist
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