Krantz, Robert: Luxemburgs Kinder unter dem Nazi-Regime

Die Luxemburger Hitlerjugend von A bis Z

d'Lëtzebuerger Land vom 15.11.2001

Zwischen 1940 und 1944 lebte Luxemburg unter einer faschistischen Diktatur. In den Bücherbergen über den Zweiten Weltkrieg gibt es außer persönlichen Erlebnisberichten nur wenig Literatur zur Geschichte des Alltags in dieser Diktatur. Einen wichtigen systematischen Beitrag lieferte nun der Lehrer Robert Krantz mit seinem gleich 1866 Seiten starken und mehrere Kilo schweren Werk Luxemburger Kinder unter dem Nazi-Regime, das (vorwiegend gedruckte) Quellen zur staatlichen Einbindung der Kinder und Jugendlichen im Faschismus versammelt.

1997 war ein erster Band erschienen, Der Versuch einer ideologischen Umerziehung, über das Bildungswesen der Nazis in Luxemburg. Darin stellt Krantz, der während der Besatzungszeit die Primärschule besuchte und der Hitlerjugend angehörte, vor allem Organisation und Lehrinhalte dar. Eigene Kapitel widmete er aber auch dem Lebensbornheim Moselland Luxemburg in Bofferdingen sowie den parteieigenen bzw. staatlichen Eliteeinrichtungen Adolf-Hitler-Schule Moselland Luxemburg in der Clerfer Abtei und Nationalpolitische Erziehungsanstalt Kolmar-Berg. Im Grundton konzentrierte er sich vom Standpunkt einer liberalkonservativen Ideologiekritik auf die Versuche der "Indoktrination" und vermied Fragen nach der Kontinuität oder faschistischen Modernisierung des Luxemburger Bildungswesens.

Der letzte Woche erschienene zweite Band Erziehung zum Krieg ist, bis auf ein paar Beiträge zu Kindern in Krieg, Umsiedlung und Befreiung, der Mitte 1941 aus der Luxemburger Volksjugend hervorgegangenen Hitlerjugend (HJ) und dem Bund deutscher Mädel (BdM) gewidmet. Hitlers Pfadfindern gehörten vorübergehend bis zu 17000 der 28000 Luxemburger Jugendlichen an.

Auf rund 1000 Seiten scheint Krantz fast alles über HJ und BdM ganz oder ausschnittsweise publiziert zu haben, was ihm unter die Finger kam: zitierte oder faksimilierte Zeitungsberichte, Broschüren, Plakate, Verordnungen, Ausweise, Fotos... Sie vermitteln den Lesern von heute einen Eindruck von der eigenartigen Mischung aus wuchender Bürokratie, ungeschminkter Militarisierung, religiösem Nationalismus, aggressivem Fortschrittsglauben und miefiger Symbolik, mit der die Nazis zu herrschen und in diesem Fall die Jugendlichen zu kontrollieren versuchten. Doch auch historisch Informierte erfahren überraschende Details, etwa über "eine kleine Formation, von der man hier noch wenig wusste: die Marine-HJ. In Luxemburg setzt sie sich zusammen aus den HJ-Scharen von Grevenmachern und Remich" (S. 524, nach Nationalblatt).

Doch weil Krantz die Materialfülle selbst nicht richtig zu bändigen schien, ordnete er seine Dokumente alphabetisch. Von "Abhärtung" über "Auszeichnungen", "Eintopfessen" und "Heimatfront" bis "Pimpfe", "SA der NSDAP", "Sondereinsatz" und "Zeltlager" reichen die 219 Stichworte dieses Lexikons der Luxemburger HJ und BdM. Eine alphabetische Gliederung bleibt aber immer eine Notlösung: Gehören Jugendfilmstunde, Kulturprogramme, Liedgut und Musikerziehung nicht besser zusammen? Ist es angebracht, den Stichworten "Widerstand" und "Zahnpflege" die gleiche Wichtigkeit beizumessen?

Die Einführungstexte sind noch spärlicher ausgefallen als im ersten Band, und bei dieser ganzen Dokumentenfülle wüssten die Leser gerne Elementares wie die Mitgliederzahlen und soziale Herkunft von HJ und BdM, in welchem Umfang sie ihre politischen Ziele erreichten oder verfehlten, auf welch widersprüchliche Weise sie sich in der Luxemburger Gesellschaft der frühen Vierzigerjahre durchsetzten, aus welchen Kreisen ihre einheimischen Kader stammten, wie sich über 10000 Jugendliche der Mitgliedschaft widersetzten konnten usw.

Doch hier liegt der Nachteil von Krantz' gewaltiger Fleißarbeit in der Tradition eines Alphonse Sprunck oder von Willy Bourgs Armeegeschichte. Sie versammelt eine einzigartige Dokumentation, aber entgegen aller anders lautenden Versprechen lernt sie nicht aus der Geschichte. Denn dazu müsste das Material nicht bloß aneinandergereiht, sondern zusammengefasst, untersucht, in einen größeren Rahmen gesetzt und verglichen, kurz: es müsste darüber nachgedacht werden.

 

Robert Krantz: Luxemburgs Kinder unter dem Nazi-Regime. Ein Dokumentarbericht. Band II: Erziehung zum Krieg. Édtions Saint-Paul, Luxemburg 2001, 1043 S., 2 920 Fr.

 

 

 

Romain Hilgert
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