Der Staat tut sich schwer mit den Rechten von Behinderten. Das zeigt die Tippelschrittpolitik in punkto Bildung und UN-Behindertenrechtskonvention

Problem vertagt

d'Lëtzebuerger Land du 14.04.2011

Es sollte ein erster Meinungsaustausch werden. Am 22. März, so war es geplant, war die neu gegründete Selbsthilfeinitiative Nëmme mat eis A.s.b.l. in der parlamentarischen Familienkommission zum Gespräch eingeladen. Sogar einen Gebärdendolmetscher für das gehörlose Vorstandsmitglied wollte das Parlament auf seine Rechnung nehmen.

Doch es kam anders. Zwei Wochen vor den Termin entschied der Parlamentspräsident dagegen. Seine Begründung: Die Zivilgesellschaft werde nur zu Beratungen von konkreten Gesetzesentwürfen eingeladen. „Ich verstehe das nicht. Wir sollten doch über die Behindertenrechtskonvention reden“, wundert sich Vereinsmitglied Joël Delvaux.

Die Konvention der Vereinten Na-tionen ist nicht irgendein Gesetz. Sie gibt den Rahmen vor, wie künftig die Rechte von Behinderten in Luxemburg durchzusetzen und zu verbessern sind. Sie reichen von der Ausbildung und dem Arbeitsrecht über Gesundheit, gesellschaftliche Mitbestimmung sowie Selbstbestimmung bis hin zum Schutz vor Gewalt. Entsprechend groß sind die Erwartungen, die vor allem Behinderte mit der eigentlich für diesen Sommer geplanten Ratifizierung durch das Parlament verbinden.

Doch bis die Konvention Auswirkungen auf ihren Alltag haben wird, wird es dauern. Denn das Verfahren stockt. Mit dem plötzlichen Tod des Präsidenten der parlamentarischen Familienkommission Mill Majerus verlieren die Betroffenen nicht nur einen wichtigen Fürsprecher, sondern auch einen Kenner der Materie.

Die ist komplex. Vor allem Artikel 33 bereitet den Abgeordneten Kopfzerbrechen. Er sieht eine unabhängige Monitoringstelle vor, die darüber wachen soll, dass die verbrieften Rechte auch wirklich umgesetzt werden. Nachdem im Gesetzentwurf zuletzt drei Gremien für diese wichtige Aufgabe in Frage kamen – die Menschenrechtskommssion, das Centre pour l’égalité du traitement (CET) und der Ombudsman – hat nun der Staatsrat Bedenken angemeldet. Nicht nur, dass der Rat Kompetenzgerangel wegen der geplanten Arbeitsteilung zwischen der Menschenrechtskommission und dem CET befürchtet, die beide für die Überwachung zuständig wären. Auch mit der dem Ombudsmann zugedachten Rolle, sich um den Schutz der individuellen Rechte von Behinderten zu kümmern, kann sich der Rat nicht wirklich anfreunden. Weil der Ombudsmann nur für die Verwaltung zuständig ist, wollte das Parlament seine Kompetenzen im Falle der Behinderten auf die Privatwirtschaft ausdehnen – ein Schritt, der auf jeden Fall eine Gesetzesänderung bedeuten würde und der ursprünglichen Mission der Ombudsstelle zuwiderlaufe, so der Staatsrat. Also, zurück auf Start?

Das ist nicht der einzige Punkt, an dem es hakt. Ein anderes Thema, das derzeit beim deutschen Nachbarn für heftige Diskussionen sorgt, ist das Recht von Behinderten auf gleiche Bildungschancen, das die Konvention stärkt. In der Luxemburger Debatte (sofern es eine gibt) ist dieses bisher weitgehend ausgeklammert geblieben. Das Unterrichtsministerium hat zwar Mitte Februar einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Bedingungen regeln soll, wonach Schüler mit „besonderen erzieherischen Bedürfnissen“ an Klassenarbeiten und Abschlussprüfungen teilnehmen können sollen. Der Entwurf über die aménagements raisonnables (angemessene Vorkehrungen) sieht beispielsweise Korrekturhilfen, Pausen und verlängerte Prüfungszeiten oder Übersetzungen in Brailleschrift für Blinde oder Gebärdensprache vor, um Betroffenen von vor allem körperlichen Einschränkungen den Sekundarschulbesuch und -abschluss zu ermöglichen.

Doch auch dieser Gesetzentwurf wirft mehr Fragen, auf als er beantwortet. Laut Titel geht es ausschließlich um Bewertungs-, also Prüfungssituationen. Im Motivenbericht heißt es zum Text jedoch, „il définit les amé-nagements qui peuvent être accordés à certains élèves pour leur permettre de suivre l’enseignement en classe et de passer les épreuves d’évaluation menant à une certification“.

Was wie eine kleine Ungenauigkeit klingt, ist wichtig. Denn es geht um eine Grundsatzfrage: Wie weit muss die Schule Jungen und Mädchen mit Einschränkungen entgegenkommen, damit diese ihr in Artikel 24 der UN-Konvention verbrieftes Recht auf gleiche, faire Bildungschancen verwirklichen können? Nur in der Prüfung, oder auch im Unterricht? Und wie? Der Entwurf richtet sich ausdrücklich an Schüler, die dem regulären Unterricht und Lehrplan folgen können „sans avoir recours à un plan éducatif individualisé“ – das einzige Zugeständnis ist folglich, dass sie dies unter Anspruchnahme von Prüfungshilfen tun können, über die künftig eine von Lehrern, Éducation différenciée, Schulpsychologen und einer Vertretung des Conseil supérieur des personnes handicapées zusammengesetzte Kommission zu befinden hätte. „Wir haben uns bewusst auf diese Zielgruppe beschränkt“, so die zuständige Beamte im Ministerium, Elisabeth Reisen.Bloß: Ist es auch das, was die UN-Behindertenrechtskonvention meint, wenn sie „angemessene Vorkehrungen“ vorsieht? Warum sollte ein auf den einzelnen Schüler abgestimmter Lernplan von diesen ausgenommen sein? Bislang wurde diese Frage im Parlament nicht näher diskutiert, dabei ist sie kruzial. Von der Antwort hängt nämlich ab, ob und welche Behinderte zusammen mit Nicht-Behinderten in der Regelschule in einer Klasse lernen.

In Luxemburg gibt es nur wenige auf Antidiskriminierungsfragen spezialisierte Rechtsanwälte und nahezu keine Debatte über die richtige Lesart strittiger Punkte in der Konvention, wie sie etwa in Deutschland vom Institut für Menschenrechte geführt wird. Unstrittig ist jedoch, dass die Behindertenkonvention alle einschließt, Personen mit körperlichen Behinderungen ebenso wie mit geistigen. Wenn sich die Aménagements raisonnables aber nur an die Schüler richtet, die dem Unterricht ohnehin folgen können, was geschieht dann mit den anderen? Damit auch für sie das Recht an Teilhabe und gleiche Bildungschancen Wirklichkeit wird, müsste es nicht, wie schon in der Grundschule, auch im Sekundarunterricht die Option geben, Schüler individuell entsprechend ihrer Stärken und Schwächen zu fördern? Lernzieldifferenzierung heißt das im Fachjargon. Damit ist aber eben nicht die in Luxemburg gängige Praxis gemeint, Schüler mit Behinderungen in die Édiff oder ins Régime préparatoire abzuschieben.

Bisher führte der Weg viele Behinderte entweder in Sonderschulen, in so genannte Kohabitationsklassen, oder auf Spezialschulen ins Ausland. Bis vor kurzem noch hatte die Éducation différenciée auf ihrem Internet geistig Behinderte automatisch ihren Sonderstrukturen zugeteilt. Vielmehr muss es, da sind sich zumindest deutsche Menschenrechtler einig, darum gehen, auch sie weitmöglichst in Regelschulen einzugliedern. Die Behindertenrechtskonvention sieht nämlich einen Vorrang inklusiver Bildungsangebote für Kinder mit und ohne Behinderungen vor separierenden Settings vor. Das geht aber nur, wenn entsprechend ausgebildete Lehrer in den Regelschulen vorhanden sind – und die Lehrangebote entsprechend differenziert sind. Sie fehlen bislang oder sind, wenn überhaupt, lediglich in der Grundschule oder in der Édiff vorzufinden. Die jüngere Entwicklung an der Uni Luxemburg geht sogar dahin, die Grundschullehrer zunehmend als Allrounder auszubilden, was bei der hiesigen heterogenen Schülerschaft an sich schon ein diskussionswürdiges Unterfangen ist.

Im Ministerium macht man sich um andere Dinge mehr Sorgen. Zum Beispiel darüber, ob und wo die genutzten Hilfsmittel vermerkt werden sollen. In einem ersten Entwurf wollte das Ministerium Korrekturhilfen, Gebärdenübersetzungen und ähnliches noch im Zeugnis selbst aufführen, nun sollen sie in einem Zusatz erwähnt werden. Wobei unklar ist, ob dieser angeheftet werden soll oder flexibel, nach Gusto des Trägers, vorgelegt werden kann oder auch nicht. Das Ministerium begründet den Zusatz mit Gerechtigkeitsgründen: gegenüber den Schülern ohne Handicap. Man fürchte, so heißt es, Eltern oder Schüler könnten dies als ungerechtfertigte Bevorteilung ansehen. Auch wolle man sicherstellen, dass der Arbeitgeber ein „realistisches Profil“ eines Bewerbers bekomme.

Die Behinderten selbst sind in der Frage gespalten. Während etwa die Elteren a Pedagoge fir Integratioun dies kategorisch ablehnen und der Conseil supérieur des personnes handicapées in seinem Gutachten zum Vorentwurf dies als eine Diskriminierung wertete, fragen andere nach dem Sinn und Zweck: Soll der Vermerk dazu dienen, dem Absolventen später beim Studium ähnliche Hilfen zu garantieren, könne ein solcher Zusatz im Sinne der ­Betroffenen sein, argumentiert etwa die deutsche Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeinsam leben, gemeinsam lernen.

Das sieht der Luxemburger Anwalt François Moyse genauso. „Wenn der Betroffene dadurch Zugang zu Bildung erhält, ist es zu begrüßen.“ Werde die Ergänzung dagegen genutzt, um dem Träger den Zugang zu weiteren Rechten zu verweigern, „sei das diskriminatorisch“, sagt Moyse. Die Sorge des Ministeriums, die Rechte könnten von anderen (schwachen) Schülern missbraucht werden, sieht der Anwalt gelassen. „Die zuständige Kommission muss den konkreten Einzelfall prüfen und ihre Entscheidung begründen. Da muss man im Konfliktfall stark sein“, so Moyse.

Der Spezialist in Menschenrechtsfragen betont die Rolle des Staates bei der Aufgabe, das Recht von Behinderten auf den Zugang zu gleichen Bildungschancen zu stärken. Man habe die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU und bald auch die UN-Behindertenrechtskonvention. Demzufolge müsse der Staat dafür Sorge tragen, dass diese wirksam umgesetzt werden: „Das kein Privileg, das ist eine Notwendigkeit.“

Ines Kurschat
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