Vergessen im Internet

Google hat Alzheimer

d'Lëtzebuerger Land du 13.06.2014

Vergiss mich, Google, und sie und ihn und es, wir sind zutiefst enttäuscht, menschlich enttäuscht, kann man sagen, beinahe. So wie du uns getäuscht hast. Du hast dich Suchmaschine genannt, klang ganz ok, nach etwas Praktischem, Verlässlichem. Du warst für uns da, auch nach Mitternacht, gratis, ein dienstbarer Geist, selbstlos wie Mutti. Alles, was wir brauchen, bekommen wir über, durch, von dir: veganes Hundefutter oder etwas gegen Vorhofflimmern, aus der Taiga gibt’s da was, haben wir gehört. Du Google kannst es, du machst es, du bringst es, du lieferst es. Hauszustellung, sofort, suchen, buchen, du lässt uns nicht im Stich.

Wenn man bedenkt, es gab ein Leben vor Google auf diesem Planeten, anscheinend, wir wollen lieber nicht dran denken. Es muss ein sehr mühsames gewesen sein, Zeitzeuginnen erinnern sich an mühselige und beladene Zeiten. Im Schweiße seines Angesichtes wühlte sich der geistige Mensch durch unterirdische Stollen und Papyrusrollen, erklomm Berge von Dokumenten, baggerte sich durch Folianten und bücherwurmstichige Kladden. Er hievte tonnenschwere Lexika in sein Elfenbeintürmchen. Ja, liebe Nachkommen, so war das damals, nach dem Dreißigjährigen Krieg, das Duschgel war aber schon erfunden. Da staunt ihr, irre, was eure Vorfahren für Strapazen auf sich nahmen, um ihre graue Zellen zu füttern und ihrem faustischen Erkenntnisdrang zu frönen.

Und jetzt bringt uns das graue Mäuschen rucki­zucki zum Baum der Erkenntnis!

Guggelgott, streng und gerecht, sieht alles, und uns nichts nach. Aber jetzt, unfair, unfair, sollen wir Menschenkinderlein zahlen. Aber so ist das eben mit Göttern, man muss sie befriedigen, sonst werden sie gefräßig oder stecken einen in die Hölle. Aber haben wir ihm nicht bereitwillig alles gegeben, unsere Daten, Taten, Sehnsüchte, unsere Phobien und Obsessionen, in kindlicher Vertrauensseligkeit und aus tierischer Bequemlichkeit? Onkel Google aus Amerika macht das schon, haben wir uns gedacht.

Und plötzlich schreien wir Welt- und Wutbürgerinnen auf. Was, wir werden konserviert und dann serviert, zum falschen Zeitpunkt vermutlich, es ist immer der falsche Zeitpunkt. Wir haben uns vielleicht in originelle Posen geworfen oder uns einen Islamistenbart gezüchtet, ein Hakenkreuz gepinselt, ist ja nur Kunst. Und dann spuken wir im Datenkosmos herum, ewig, Verdammte, geistiger Sondermüll. Für immer, für immer, du kannst nicht mehr locker mal rüber machen in einen anderen Bundesstaat und dir eine Marlboro anzünden, Cowboy, der große Sheriff hat dich immer im Auge.

Recht auf Vergessen! schreien wir plötzlich, komisch, haben wir nicht eben noch aufgezeigt, hier bin ich! Und ich! Und ich! Und mich bitte nicht vergessen! Schaut her, meine Muskeln, mein Palmenstrand, mein Geistreichtum.

Recht auf Vergessen, jetzt auf einmal. Okay, als treusorgende Hausfrau und Mutter könnt ihr uns im kollektiven Gedächtnis aufheben, als tapfersten Jäger im Busch, als strahlenden Ballettprinz oder charismatische Politikerin. Sehnen wir uns doch nicht alle danach, ein Mini-Spürchen zu hinterlassen, wenigstens, bitte, einen verwehten Fußabdruck im Sand. So ganz spurlos wollen wir nicht verschwinden, wenn wir auch noch so buddhistisch vom Wind verweht werden wollen. Ein Denkmälchen wär zum Beispiel ganz nett, der Name auf einem Straßenschild. Wenigstens in einem Sackgässchen.

Aber bitte nicht das Klassenfoto von 1960, oder diverse Kommentare zu diversen politischen Entwicklungen, politisch waren wir schließlich auch nicht immer so ausgereift, der Mensch entwickelt sich ja schließlich.

Wir werden uns schon zu wehren wissen, Guggel, schreien die oder wir Wutbürger_innen, die, lang ist’s her, 99 Prozent waren. Da gibt es Mittel und Wege, ganz sicher.

Mal nachschlagen bei Google.

Michèle Thoma
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