Der Wahlkampf in Esch sei ohne Inhalte, klagen die Parteien

Das andere Esch

d'Lëtzebuerger Land vom 27.04.2000

"Ich sage immer: mit einer Ideologie, da rettet man keine Stadt wie Esch. Da braucht man Fakten." Sagte der Escher Gemeinderat Aly Jaerling (ADR) in der Werbesendung einer Hotelkette und einer Unternehmensberaterfirma am Sonntag und lehnte sich gewichtig in seinem Sessel zurück.

Doch Pfarrer Joseph Flies hatte bis auf Karl den Kahlen und eine Landkarte von 1578 zurückgegriffen, als er seine 1302 Seiten dicke Stadtgeschichte trotzig Das andere Esch nannte. Gegen das vorherrschende Bild vom roten Esch sollte der vom Kirchenrat St. Joseph herausgegebene Wälzer ein anderes Esch, "einen Überblick über die Gesamtgeschichte von Esch (...) bieten, wobei jedoch die religiöse Schau - und das zum Anlaß der 100-Jahrfeier der St.-Joseph-Pfarrkirche - das Leitmotiv bleiben wird."

Dabei beklagen derzeit die Parteien und ihre Presse, dass im Escher Wahlkampf politische Inhalte keine Rolle spielten. So als ob dies anderenorts stärker der Fall wäre oder die zum "Verkehrsgesamtkonzept" aufgemotzte Trottuarspolitik viel mit politischen Inhalten zu tun hätte.

Doch das Gegenteil ist der Fall: am Sonntag wird weit mehr über Politik als über Personen abgestimmt. Und als ob die große Politik nicht durch Trottuarspolitik gestört werden sollte, beruft die austretende Koalition sich nicht einmal auf die Bilanz ihrer bisherigen Tätigkeit. Statt tatsächliche oder angebliche Leistungen hervorzukehren, werfen CSV und LSAP sich höchstens gegenseitig die Verantwortung für gemeinsame Fehlentscheidungen vor. Die LSAP will nicht einmal mehr etwas mit der eigenen, jahrzehntelangen Gemeindeführung zu tun haben: Spitzenkandidatin Lydia Mutsch, die sich letztes Jahr nicht ohne Schrammen in ihrer Sektion durchsetzen konnte, wird nicht müde, hervorzuheben, dass die Partei "eine neue Mannschaft" und "aus ihren Fehlern gelernt" habe.

Dass das lokale Ereignis der Escher Gemeindewahlen landesweit übergroße Beachtung findet, erklärt sich nicht nur durch die Soap Opera, mit der die Jung, Mischo, Maroldt, Schaack, Mutsch und Grober das Publikum seit einem Jahr unterhalten, oder durch den Mangel an nationalpolitischer Aktualität. Diese Beachtung entspricht durchaus der politischen Bedeutung, welche die Wahlen einnehmen: als ein möglicher Wechsel in der politischen Kultur, eine Schlüsseletappe des Prozesses, wie das rote Esch schwarz werden soll - oder doch nicht wird.

Ein Viertel Jahrhundert lang wurde Esch von einer Linkskoalition aus LSAP und KPL regiert, Symbol der von der Schwerindustrie geprägten Arbeiterstadt, des Einflusses des OGB-L-Vorgängers LAV und des Prestiges der kommunistischen Resistenz. Die LSAP war regelmäßig die stärkste Partei, Luxemburg gehörte zu den wenigen EU-Ländern, wo eine kommunistische Partei während des Kalten Kriegs die zweitgrößte Stadt mitregierte. War andernorts der Osten rot, so war es hierzulande der Süden und seine "Minettemetrople" als erste.

Die Tradition ist ein Jahrhundert alt. "Gruß und Heil dir, Stadt der roten / Erde, Stadt der Arbeit du!" sang 1906 ein 100-stimmiger Chor auf dem Stadthausplatz die eigens von Nikolaus Welter gedichtete Festkantate. Straßen wurden im Fortschritts-rausch nach Erfindern wie Thomas Alva Edison, Louis Pasteur und Henri Tudor benannt.

Politisch stand Esch im 20. Jahrhundert immer deutlich links vom Rest des Großherzogtums. Bei der Volksbefragung 1919 stimmten die Escher zu 57 Prozent für die Republik, die Mehrheit des Landes für die Monarchie. 1937 stimmten die Escher zu 72 Prozent gegen das Maulkorbgesetz, der Landesdurchschnitt lag bei 50,7 Prozent. Damit beanspruchte die zweitgrößte Stadt des Landes auch immer, ein soziales und laizistisches Bollwerk gegen den CSV-Staat, ein proletarisches Gegenstück zur bürgerlichen  Hauptstadt  zu sein.

Seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts und den ersten Proporzwahlen 1920 standen alle Bürgermeister links und waren Sozialisten, wie Victor Wilhelm, Hubert Clément, Michel Rasquin, Antoine Krier, Jules Schreiner, Joseph Brebson und François Schaack, oder Kommunist wie Arthur Useldinger.

Doch Mitte der Siebziger kam die Stahlkrise, die Arbeiter der Arbeiterstadt wurden nach und nach wegrationalisiert, und damit nicht nur die Wählerbasis der Linkskoalition, sondern auch eine ganze identitätsstiftende Kultur von linken Parteien, Gewerkschaften und selbst Freizeitvereinen. Auch wenn die Escher Sozialisten als Höhepunkt ihres Wahlkampfs am Montag dieser Woche noch in die Lallinger Sporthalle "op hiren Thé dansant mam Fausti" luden.

Der Streit der letzten Jahre in der LSAP-Sektion um die Nachfolge des sich an seinen Sitz klammernden Bürgermeisters veranschaulichte, wie hin- und hergerissen die Partei zwischen Alten und Jungen, zwischen roter Tradition und liberaleren Mittelschichten ist.

Die neoliberale Offensive der Achtzigerjahre drängte die politischen Werte der Linksparteien auch in Esch zurück. Das für ihre Gegner siegreiche Ende des Kalten Kriegs führte zur Spaltung der Kommunistischen Partei. Schließlich war die Linkskoalition auch abgenutzt, der schwindende finanzielle Spielraum vergrößerte den Widerspruch zwischen hochtrabenden Idealen und politischem Alltagsgeschäft. 1981 begann der Abstieg der KPL, als sie von fünf auf drei, dann zwei und schließlich einen Sitz fiel; die LSAP ging seit 1993 von acht auf sieben und dann auf sechs Sitze zurück.

Mit nur noch acht von 19 Sitzen für LSAP und KPL reichte es 1993 nicht mehr für eine Linkskoalition. Es hätte schon der Unterstützung des einzigen grünen Gemeinderats bedurft, aber diesen Affront wollte die LSAP ihrem christlichsozialen Koalitionspartner in der Regierung nicht antun. Als Teil einer großen Koalition zog die CSV in den Schöffenrat. Das rote Esch wurde zur Hälfte schwarz. Gemessen an den sozioprofessionellen Veränderungen im Land, war dies vielleicht auch nur eine Form der Normalisierung.

Im Oktober letzten Jahres schien der Weg vom roten Esch zum schwarzen Esch, von der Linkskoalition über eine große Koalition zu einem CSV-Bürgermeister, unmittelbar vor dem Abschluss. Die Sozialisten erlitten die offene Demütigung: Erstmals erhielt die CSV mehr Stimmen als die LSAP - auch wenn es deren nur 720 von fast 180 000 waren und sie dem Protest der Wobréckener angekreidet wurden. Die Sitzzahl der Sozialisten fiel erstmals auf das Niveau der CSV. Da war es kein Trost, dass die mit der großen Koalition unzufriedenen Wähler auch die CSV Stimmen kosteten. Die LSAP war die noch größere Verliererin.

Der austretende Bürgermeister und sozialistische Spitzenkandidat Fran-çois Schaack erhielt weniger Stimmen als der christlichsoziale Erstgewählte Ady Jung. Damit stellte sich nicht mehr bloß die Frage einer weiteren Schöffenratsbeteiligung der CSV in der Stadtgeschichte. Diesmal konnte Ady Jung verlangen, was Fran-çois Colling nicht gegönnt war: die CSV konnte erstmals einen legitimen Anspruch auf das Bürgermeisteramt erheben. Das ehemalige Bollwerk der LSAP gegen den CSV-Staat drohte, zu einem Augenblick zu fallen, als die LSAP auch noch die Regierungsmacht verlor.

Doch was nicht sein durfte, konnte nicht sein. Jungs blinder Ehrgeiz wurde ihm zum Verhängnis. Mit derselben Hartnäckigkeit, mit der seine persönliche Popularität aufbaute, indem er sich für keine Hundesportversammlung zu schade war, strebte er auch nach dem Bürgermeisteramt, bar jeden taktischen Geschicks gegenüber dem potenziellen Koalitionspartner und seinen eigenen Parteikollegen.

Mit den monatlich 5 000 Franken Abfindung und dem Parteiaustritt des ewig zu kurz gekommen CSV-Rats Josy Mischo bot er der zutiefst gekränkten LSAP die willkommene Gelegenheit, um nicht über ihren Schatten springen zu müssen. Und fand auch noch die Unterstützung der nationalen CSV-Größen: des Innenministers, der angesichts für die CSV desaströser Umfrageergebnisse im November Neuwahlen hinauszögerte, der Parteipräsidentin und des Staatsministers, die kein Wort der Kritik für den Ämterhandel in der Escher CSV oder die erpresserischen Ein- und Austritte Josy Mischos fanden, des Luxemburger Worts, das Jung als Opfer einer Rufmordkampagne darstellte.

So müssen die Wähler am Sonntag eine Sonderschicht einlegen, um zu entscheiden, ob zum ersten Mal in fast einem Jahrhundert das rote Esch unübersehbar schwarz wird - oder ob die LSAP noch einmal die Macht und das Symbol retten kann. Wie sich das rote Esch bereits verändert hat, zeigen schon die Spitzenkandidaten: Nach dem Patrizid an François Schaack wird das rote Esch nun von einer jungen Frau angeführt, wo die in Esch dominierende Arbeiterbewegung noch bis vor kurzem von dem ganzen machistischen Kult der Bergleute und Stahlarbeiter geprägt war. Und der CSV-Spitzenkandidat in der Arbeiterstadt ist kein LCGB-naher "Herzjesumarxist", sondern ein rechter Mittelständler, der mehr polarisiert als integriert - und im Oktober dennoch die meisten Stimmen erhielt.

Während DP und ADR auf der Rechten, Déi Lénk und Grüne auf der Linken hoffen, Stimmen vergrätzter CSV- und LSAP-Wähler zu bekommen und so vielleicht Zünglein an der Waage einer Dreierkoalition zu werden, lauern die beiden großen Parteien bloß darauf, wer von ihnen härter für die gescheiterten Koalitionsverhandlungen ge-straft werden wird. Kommt eine der beiden mit einem blauen Auge davon, darf sie eine Dreierkoalition unter Ausschluss der anderen versuchen. Denn weder die Escher Bevölkerung noch die jeweilige Parteibasis fände es geschmackvoll, wenn Adi Jung und die LSAP am nächsten Montag wieder Verhandlungen über eine große Koalition begännen.

Romain Hilgert
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