Fußball-Weltmeisterschaft 2018

Ein globales Event

d'Lëtzebuerger Land vom 29.06.2018

Die entscheidende Szene im Spiel zwischen Serbien und der Schweiz ereignet sich erst kurz vor Abpfiff: Mario Gavranovic schickt Xherdan Shaqiri mit einem Pass in die Tiefe. Der schnelle Mittelfeldspieler schüttelt seinen Gegenspieler ab und schiebt den Ball am Torhüter vorbei ins Netz. Die Schweiz gewinnt das Spiel 2:1.

Beim Public Viewing in einem beliebten Zürcher Ausgehviertel folgt einer dieser situativ ausgelösten, unkontrollierten Ausbrüche kollektiver Emotionen, die ich in dieser Form nur vom Fußball kenne. Während Bierbecher durch die Luft fliegen, zelebriert Shaqiri – wie zuvor sein Mitspieler Granit Xhaka nach dessen Treffer zum Ausgleich – sein Tor, indem er die Hände zum Symbol des Doppeladlers, des albanischen Wappentiers, formt. Beide Spieler haben kosovarische Eltern. Während die provokative Geste von Xhaka vom Publikum noch weitgehend amüsiert zur Kenntnis genommen wird, geht die von Shaqiri im Siegesjubel unter. Zu groß ist die kollektive Freude über den errungenen Sieg, der mit hoher Wahrscheinlichkeit der Qualifikation der „Nati“ für das Achtelfinale gleichkommt.

Auch ist der Anteil serbischer Anhänger bei diesem Public Viewing nur gering. Woran sich wiederum zeigt, wie jeweils eine spezifische Klientel zu einem bestimmten Public Viewing zusammenfindet: Fans des serbischen Teams, die anders auf die Gesten reagieren als die Schweizer Anhänger, sind nämlich durchaus an weiteren öffentlichen Übertragungen im Viertel anzutreffen. Unweit des Ortes, an dem ich das Spiel verfolge, wird am späteren Abend eine kosovarische Flagge verbrannt. Meine persönliche Erfahrung an diesem Abend ermöglicht mir nur bedingt allgemeine Schlüsse zum Phänomen Public Viewing zu ziehen.

Was man allerdings an jeder öffentlichen Fußballübertragung, die mittlerweile zum festen Bestandteil der großen Turniere gehört, beobachten kann, ist die Inszenierung von Fußballspielen als Event. Jedes Public Viewing stellt einen Moment der Vergemeinschaftung dar, in dem durch die Performanz der Masse gesellschaftlicher Zusammenhalt in einem spezifischen Kontext hergestellt wird. Jenseits ihrer gesellschaftlichen Funktion ist diese Form der Vergemeinschaftung in hohem Maße kommerzialisiert. Große Unternehmen verteilen zu Werbezwecken Fanutensilien gratis an den für die Freizeitindustrie neuralgischen Punkten der Stadt. Nicht nur die Weltmeisterschaft ist durch und durch kommerzialisiert, das gesamte Konzept der Nation wird vermarktet.

Die Besucher ihrerseits entsprechen in ihrem Verhalten dieser kommerzialisierten Eventkultur durchaus und unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht vom harten Kern der Anhänger professioneller Fußballvereine, die Woche für Woche in den Stadien des Landes anzutreffen sind. Während Letztere als kollektive Körperschaften auftreten, ist beim Public Viewing eine Tendenz zur individuellen Selbstinszenierung mit Rückgriff auf kollektiv verwendete Symbole zu beobachten. Die Ultras hingegen, wie engagierte und systemkritische Fans von Fußballvereinen sich selber bezeichnen, setzen sich im Rahmen des Ligabetriebs gegen die fortschreitende Kommerzialisierung des Fußballs zur Wehr. Dennoch entziehen sich auch nicht alle Ultras dem Event Weltmeisterschaft. So zeigen die Anhänger des FC Zürich in ihrem Fanlokal eine Vielzahl der Spiele, oftmals im Verbund mit kritischen Dokumentarfilmen und weiteren Informationsveranstaltungen.

Allgemein ist zu beobachten, dass an einem Public Viewing zunehmend mehr als nur Fußballübertragungen angeboten werden. Am oben erwähnten Ort etwa treten in den Halbzeitpausen Musiker unterschiedlicher Herkunft auf und bieten Folklore aus den unterschiedlichen Ländern dar. In einem anderen Bar- und Klubbetrieb wurden eigens für die WM von einheimischen Künstlern große Plakate angefertigt, die Motive der einzelnen Teams widergeben. Auch ein nicht profitorientiertes Lokal gibt es, das alle WM-Spiele zeigt – nebenan aber auch eine Info-Ecke aufgebaut hat, in der auf Postern über Korruption in der Fifa, politische Verfolgung in Russland oder Homophobie im Fußball informiert wird. Fußball wirkt also nicht zwingend als reine Verdummung der Massen, als Opium des Volkes. Er bietet auch eine Bühne für kritische Auseinandersetzungen.

Dabei reicht der Einfluss der WM weit über den Fußball und die Freizeitindustrie hinaus. So wurde in einem Zürcher Theater eine Veranstaltung über russische Kunst und Kultur organisiert. Diverse Kulturinstitutionen orientieren ihr Programm während des Turniers auf die eine oder andere Art am Fußball oder am Gastgeberland. Die Fußball-WM ist dadurch über ihre geografische Dimension hinaus zu einem globalen Ereignis geworden, das nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Fußball, so scheint mir, ist kein Spiegel der Gesellschaft – vielmehr ist das Spiel mit all seinen Begleiterscheinungen zu einem festen Bestandteil der Gesellschaft geworden.

Charles Wey
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