Manderscheid, Roger: summa summarum

Abgesang mit Abstrichen

d'Lëtzebuerger Land vom 04.05.2000

Gerade einem Manderscheid hätte man eigentlich zutrauen müssen, nie auf die verzweifelte Idee zu kommen, einen Gedichtband Summa Summarum zu nennen. Und jetzt liegt der mit atemberaubend schönen Kalligraphien und Grafiken verzierte Band vor, und heißt: summa summarum, was man eigentlich nur mit einem "Tu quoque" kommentieren kann. Roger Manderscheid, Gründer- und Vaterfigur, vielleicht manchmal ungewollt und  wider Willen, einer neuen, aufstrebenden Luxemburger Literatur, hat paradoxerweise seine größten Erfolge mit Romanen gefeiert.

Schacko Klak und seine Folgen hatten fast schon identitätsstiftende Wirkung, hinter jedem Band Manderscheids marschieren demutsvoll die Epigonen, Kritiker, die bedingungslosen Manderscheid-Fans, zu denen sich auch der Unterzeichnete zählt. Und deshalb ist summa summarum eher der Gegenpol dazu, ein fast schon lichtenbergsches Sudel- und Kritzelbuch,  ein "Sammelband" fast zusammenhangloser Lyrik des letzten Jahrhunderts, in der Manderscheid die Zusammenhänge selbst kreiert, sich als ruheloser Wanderer zwischen Prosa und Lyrik, Text und Grafik, Dada und Brecht, zwischen Heimatdichtung und Protest zu erkennen gibt. summa summarum ist eigentlich eine editorische Mogelpackung, denn keiner ist weiter davon entfernt, irgend eine Summe zu ziehen, als dieser Poet, der die Welt mit den Augen eines Kindes sieht; keiner analysiert so wenig, doziert so wenig, hält sich so wenig an irgend eine stilistische Regel oder Schule wie Roger Manderscheid. 

Liest man seine kritische Chronik eines halben Jahrhunderts Luxemburg kritisch-rationalistisch, kommt man immer öfter zu dem Schluss, dass Lyrik prinzipiell unluxemburgisch, unkritisch und von berückender Naivität sein muss. 

"Hinter Buchsbaumhecken bekreuzigten sich die Verliebten, bevor sie sich aufeinanderlegten, um mit sanften Bewegungen von der Bildfläche zu verschwinden" (Titel: Das ist Luxemburg). Das ist natürlich nicht Luxemburg, und eigentlich sollte das Prosa sein.

Hinter Buchsbaumhecken bekreuzigen sich

die verliebten

bevor sie sich aufeinanderlegten,

um mit sanften bewegungen

von der bildfläche

zu

verschwinden

Ist das jetzt Lyrik oder ganz einfach bessere Grafik? Mir dämmert so langsam, dass, wer den Lyriker Manderscheid verstehen will, nicht umhin kommt, sein beeindruckendes Oeuvre von Zeichnungen, Schriftbildern, Kalligrafien und Text-Inszenierungen zu würdigen. Denn kaum ein Luxemburger Schriftsteller hat sich so intensiv mit Schreibübungen, mit Kursivschrift beschäftigt, wie Roger Manderscheid. 

Und wenn seine Lyrik, in den schlechtesten Passagen (so wie in seiner Prévert-Paraphrase Gedicht auf John Lennon) ein Déjà-Vu aufkommen lässt, hätte eine verständnisvolle Edition gerade Manderscheids sensationellen Kalligrafien mehr Raum gelassen. Vielleicht hätte man Spielereien wie letzte gedüchte weglassen können oder sie als Kalligrafie publizieren, denn mit Dämlichkeiten wie der folgenden hat man einem  Autoren von diesem Format  keinen Gefallen getan:

1. ich

i c h

ICH

I C H

Ich?

Und dann tauchen, unverhofft, nach einer metikulös vollgekritzelten Seite, Zeilen wie diese auf:

dunkel wars

im hohlweg

wie in der hölle

grüne blitze

zuckten

und hängende schnüre

wollten dich fesseln

Plötzlich ist man irgendwo in der Nähe von Itzig, sieben, acht Jahre alt, und hat ganz wahnsinnig Angst. Die kleinen lyrisch-epischen Obsessionen, Bruchstücke, Kindheitserinnerungen ... irgendwie habe ich das Gefühl, dass da einer sich schon schwer in Richtung Nationalbibliothek Buchstabe "M" verabschiedet hat und dankbar der Nachwelt sein Nähkästchen vermacht, damit die Leute den Stoff sehen, aus dem die großen Romane des letzten Jahrhunderts gemacht wurden. 

Und gerade die senile Freude des glanzvollen Abgangs, der abschließenden "Summa" wollen wir einem wie Manderscheid nicht gönnen. Jemand, der jahrelang sein Blut so durch die Strassen dieser Stadt gpumpt hat, so "da" war, jemand der Dinge wie "wortwörtlich archibald" und und und  schreiben kann, so einem nehmen wir diese "Lebe wohl, du schnöde Welt"-Maskerade einfach nicht ab. Ein Glück dass dieses Buch ein paar Seiten hat, die nicht so lächerlich sind wie es selbst. 

Die Éditions Phi sollten sich es aber auf jeden Fall überlegen, wie sie den guten Ruf des wichtigsten Luxemburger Autoren des vergangenen Jahrhunderts, mit weiteren "Famous Last Words" ruinieren wollen. So richtig ist es ihnen dieses Mal noch nicht gelungen.

Roger Manderscheid: summa summarum, gedichte; Éditions Phi; 125 Seiten, ISBN 3-88865-191-3

Jean-Michel Treinen
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