Das Wetter

Frühlingsdepression

d'Lëtzebuerger Land vom 31.05.2013

Die meteorologischen Fakten: Vergangenes Wochenende war es vielerorts kälter als an Weihnachten, und die Anzahl der Sonnenstunden seit Dezember liegt deutlich unter dem Durchschnitt. Dass die Herbstdepression also nahtlos in Winter- und Frühlingsdepression übergangen ist, ist keine Überraschung.

Der Dauerregen bricht die Moral der hartnäckigsten Frohnaturen. Auch wer bisher Durchhalteparolen wie: „Es ist gut für den Garten“, oder: „Es ist gut für die Pollenallergiker“, oder etwa: „Da spart man sich die Autowäsche“ aufsagte, würde mittlerweile gutgelaunt die Salatsetzlinge gießen, mit Begeisterung ein paar Antihistaminika schlucken, energisch die Karosserie schrubben. Und obendrauf ohne zu zögern seine Seele dem Teufel verkaufen wenn es dafür im Austausch ein paar Sonnenstunden geben würde.

Für die Konjunktur ist das Wetter auch nicht gut. Abgesehen davon, dass der lange Winter die Baustellen blockiert hat, der nass-kalte Frühling den Ertrag der Ernten in Frage stellt und Flaute im Einzelhandel herrscht, weil die Verbraucher einfach keine neue Sommergarderobe brauchen: Wie soll man bei den aktuellen Temperaturen und dem Dauerregen „die Ärmel hochkrempeln“, um „mit anzufassen“, ohne sich dem Risiko einer kräftigen Erkältung auszusetzen.

Möglicherweise ist diese Analyse der aktuell angespannten Wetterlage aber zu oberflächlich. Denn die Wettermisere könnte durchaus der Schlüssel zur Auflösung der europäischen Schulden- und Wirtschaftskrise werden. Wenn das schlechte Wetter nur lang genug anhält, werden die Nordeuropäer bald anfangen, das Auswandern in sonnigere Gefilde ganz ernsthaft in Betracht zu ziehen. Wandern die Nordeuropäer nach Süden aus, könnten sie dazu beitragen, die Immobilienkrisen in den Randgebieten der Währungsunion, etwa Spanien und Zypern, zu beenden, die lokalen Konsumraten steigern, durch häufige Besuche in der Heimat der regionalen europäischen Luftfahrt zu mehr Umsatz verhelfen...

Wer aus familiären oder beruflichen Gründen das Auswandern ausschließt, kann dennoch – mit sehr viel Fantasie – versuchen, der Situation etwas Gutes abzugewinnen. Vielleicht trägt das schlechte Wetter ja zur Völkerverständigung bei. Etwa indem die Westeuropäer mehr Mitgefühl für Klimaflüchtlinge in anderen Teilen der Welt entwickeln. Oder auch für die Insulaner und ihre Eigenheiten im westlichen Randgebiet der EU. Wer als Kontinentaleuropäer die britische Europapolitik wieder mal völlig unverständlich findet, sollte versuchen, sich in ihre Lage hineinzuversetzen und sich vorzustellen, wie es sich auf die kollektive Denkart auswirkt, wenn das Volk seit Anbeginn der Zeiten einem Dauernieselregen ausgesetzt ist.

Dabei kann man einiges im Umgang mit widrigen Witterungsbedingungen von den Briten lernen. Zum Beispiel die Kunst des lässig-gepflegten Small-talks über das Wetter. Oder das blitzschnelle Reagieren auf Wetterumschwünge: Beim ersten Sonnenstrahl binnen Minuten von der Winter- in die Strandmode zu wechseln und die Wurst auf dem rauchenden Grill zu haben, will gelernt sein. Für den Fall, dass das Wetter trotzdem wieder umschlägt, haben die Briten allerlei praktische Lösungen parat. Zum Beispiel ultra-resistente Saltwater-Sandalen aus Leder. Die sind zwar eigentlich auch für den Strandurlaub gedacht, eignen sich aber besser als Flip Flops für den Alltag in urbanen Sumpfgebieten. Das Wasser läuft einfach vorne herein und hinten wieder hinaus.

Michèle Sinner
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