Deutschland und die Flüchtlingsfrage

Zum Horst gemacht

d'Lëtzebuerger Land du 06.07.2018

Horst Seehofer hat viele Stufen auf seiner politischen Karriereleiter absolviert, er war Gesundheits- und Landwirtschaftsminister im Bund, bayerischer Ministerpräsident, trat im Alter von zwanzig Jahren in die Junge Union ein, zwei Jahre später dann in die CSU. Seehofer ist Berufspolitiker, auch wenn er ausgebildeter Beamter ist, oder, wie er sich selbst bezeichnet, „Erfahrungsjurist“.

In der Selbstwahrnehmung ist Horst Seehofer ein weiser Staatsmann, ein Mahner, ein Lenker, ein Macher mit Visionen und Weitblick, einer, der den Finger in die Wunde legt. In der Fremdwahrnehmung ist er eine gescheiterte Existenz, der auf der politischen Bühne der große Durchbruch versagt blieb, und einer, der den richtigen Zeitpunkt zum Abgang verpasste. Der war im vergangenen Herbst, als die CSU bei der Bundestagswahl in Bayern nur noch auf etwas über 38 Prozent kam. Schlimme Vorboten für die Landtagswahl im Oktober. Horst Seehofer hat vor allem aber ein Problem: Sein Chef ist eine Frau. Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und die macht alles falsch, wenn man Seehofer Glauben schenken mag.

In den vergangenen Tagen gab Seehofer ein Lehrstück an missratener Politik, mangelhafter Kommunikation und überzogener Hybris. Er verengte die politische Agenda auf ein einziges Thema und knüpfte das Wohl und Wehe Deutschlands – und auch Europas – daran. Verkennend, dass das Land weitaus drängendere Schwierigkeiten hat. In der Digitalisierung, mit der Rente, in der Pflege. Auf diese Themen aber hat Seehofer – wie auch die CSU – keine Antwort, also macht er dort Rabatz, wo sich populistisch punkten lässt – und wo er glaubt, anderen Parteien das thematisch das Wasser abgraben zu können. Seehofer denkt dabei überraschend kurz: Durch Grenzkontrollen ist die Flüchtlingskrise nicht gelöst, sondern es geht darum, wie die Geflüchteten im Land zu integrieren sind, und wie Einwanderung fortan gehandhabt wird. Ein entsprechendes Gesetz hat die CSU stets blockiert.

Die Regierungskrise in Berlin ist lange noch nicht ausgestanden. Das Vertrauen zwischen dem liberalen und dem rechten Lager in der Union ist nachhaltig zerstört und mit dem derzeitigen Führungspersonal kaum zu kitten. Beschädigt wurde vor allen Dingen aber die politische Kultur, die von einem alten, überheblichen Mann – mit seinen beiden Sekundanten Markus Söder und Alexander Dobrindt – als „Sau durchs Dorf“ getrieben wurde, indem sich die Männer von Ultimatum zu Rücktrittsdrohung hangelten. Die politische Kaste hat in den Tagen das Tischtuch zwischen sich und der Bevölkerung als dem eigentlichen Souverän im Land zerschnitten. Die Wählerinnen und Wähler werden bei den kommenden Wahlen entweder der politischen Beteiligung entsagen oder sich in vermeintliche Protestwahlen ergehen. Die Frage ist dabei, wie schwer die politische Krise werden muss, bis Berufspolitiker verstehen, dass in und nach dem derzeitigen Modernisierungsschub die politischen Stile und Mittel der vergangenen Dekaden nicht mehr funktionieren?

Und wie immer gibt es nach einem Konflikt Gewinner und Verlierer. Verlierer ist die SPD. Denn nun liegt der Ball in ihrem Feld. Bislang war die SPD nur Zuschauer in diesem verbissenen Kampf zwischen Merkel und Seehofer. Nun muss sie sich zu dem zwischen CDU und CSU ausgehandelten Kompromiss positionieren – und vor allen Dingen entscheiden. Egal, wie das Votum ausfallen wird, es wird zum Nachteil der Sozialdemokraten ausgelegt werden. Im Laufe der Streitigkeiten hatte SPD-Chefin Andrea Nahles einen Fünf-Punkte-Plan veröffentlicht, der eindeutig den Kurs der Kanzlerin stützte, aber so recht niemanden interessierte. Die SPD blieb in der Defensive und genau das kann ihr nun neue, heftige interne Diskussionen und Debatten einbringen, über den Kurs der Partei und ihre Rolle in der Großen Koalition. Die SPD wurde in eine Regierung gedrängt, der sie eigentlich nicht angehören möchte. Sie ist zwar der gewichtigere Partner denn die CSU, doch mit seinen ständigen Ultimaten und Drohungen hat Seehofer die Machtverhältnisse gehörig auf den Kopf gestellt. Scheitert die Regierung nun wegen der Hybris eines bayerischen Politikers, dann gilt für die SPD ein weiteres Sprichwort: „mitgefangen, mitgehangen“.

Gewinnerin ist die rechtspopulistische AfD. Sie verbuchte die Streitigkeiten zwischen CDU und CSU an sich einerseits und das Thema der Auseinandersetzung andererseits als „Erfolg ihrer Jagd“ auf die etablierten Parteien, wie Alice Weidel, Co-Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, sagte. Zudem konnte die AfD am vergangenen Wochenende nahezu still und heimlich ihren Parteitag in Augsburg veranstalten und dabei weitreichende Beschlüsse fassen. So wird sie sich nun ebenfalls eine parteinahe Stiftung zulegen, was sie bei anderen Partei stets bekämpft und kritisiert hatte, „um Waffengleichheit mit den Altparteien herzustellen“, erklärte Beatrix von Storch. Bei der Wahl zu den Richtern des Schiedsgerichts zeigte sich unverhohlen, wie offen rechtsextremistische Positionen und Parolen von den Parteimitgliedern – und den wenigen anwesenden Damen – beklatscht und gefeiert werden. Parteitagsbeschluss dazu: Personalentscheidungen sollen künftig unter Ausschluss der Öffentlichkeit entschieden werden. Die Medien berichteten darüber unter „Ferner politisierten“, da alle Kameras und Mikrofone auf den Zwist zwischen Seehofer und Merkel gerichtet waren. Die AfD demonstrierte gelassene Einigkeit. Also: Wieder einmal alles richtig gemacht, um dem Anspruch einer neuen politischen Kraft gerecht zu werden.

Martin Theobald
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