Vom Leben

Am eigenen Leben vorbei leben

d'Lëtzebuerger Land vom 29.04.2010

„Wenn Du nicht am eigenen Leben vorbei leben willst, musst Du das bisherige Leben ändern, denn dieses geht voll am eigenen vorbei.“ So lautet eine Drohung, die unser Dasein überschattet, indem sie uns unter Ausführungsdruck stellt. Irgendwas stimmt nicht mit dem Leben, das man führt. Es ist sich selbst entfremdet, deckt sich nicht mit dem eigenen, das als das eigentliche angesehen wird.

Gegen diese Drohung gibt es eine trotzige Antwort: „Ich ging an meinem Leben vorbei, und es gefiel mir.“ Der Satz stammt von Lazarus Trost, und findet sich bei Elazar Benyoëtz, Die Eselin Bileams und Kohelets Hund. Der mir unbekannte Lazarus Trost ergreift hier eine Position, die insofern interessant ist, als der kategorische Imperativ vieler Menschen, das eigene Leben zu leben, auf die leichte Schulter genommen wird. So heißt es dann: Da es keinen Gott gibt, ist es wichtig, dass Du Dein eigenes Leben findest und führst, nämlich das, welches ganz allein zu Dir gehört. Sonst fehlt der Sinn Deines Lebens. Es ist nur kurz, und es wäre doch eine totale Lebenskatastrophe, wenn es Dir nicht gelänge, dieses zu dir gehörende kurze Leben zu leben, wenn Du an ihm quasi vorbei gingest. Hier steckt zunächst der Gedanke, dass das eigene Leben so wichtig ist, dass es zu sich kommt, dass man endlich nur an sich denkt und die anderen beiseite lässt. Dass jemand sich mit dem ihm zugedachten Leben zufrieden gibt, reicht nicht, sondern tiefer und erfüllter muss er leben. Dass jemand sein Leben sinnvoll im Dienst für andere leben kann, kommt in dieser Sicht kaum vor. „Das Eigene leben“ lautet eine Umschreibung für das eigene Leben. Man will die Opferrolle endlich aufgeben und sein Leben selbst bestimmen. Nicht passiv übernehmen, was andere oder der Zufall für uns ausgewählt haben, sondern aktiv den eigenen Lebensweg gehen.

Als ich in Google das Thema eingab, las ich folgende Liste der Ergebnisse: 1 bis 10 von ungefähr 50 600 000 für „das eigene Leben in die Hand nehmen“. Das Interesse am eigenen Leben in der eigenen Hand ist also groß. Nur zum Vergleich: Ergebnisse 1 bis 10 von ungefähr 6 850 000 für „das glückliche Leben“.

Was ist eigentlich dieses eigene Leben, an dem man vorbei zu leben meint und fürchtet? Die Frage nach dem wirklichen eigenen Leben, die sogenannte Selbstverwirklichung, berührt Gedanken an eine Art Dauerglück und Gaugin-Dasein in der Südsee, das nur durch Erfüllung gekennzeichnet ist. Es werden in einem solchen Leben alle Augenblicke solche der reinen Beglückung ohne negative Einsprengsel.

Doch gewissermaßen zielen diese Sehnsüchte auf etwas Unerfüllbares, weil ein solches Ziel weder zu umreißen noch darzustellen, geschweige denn erreichbar ist. Dahinter steht, wie schon angedeutet, eine Vorstellung von Ich-Verwirklichung, die sich oft an Genies und Ausnahmemenschen orientiert, welche neidvoll aber falsch begutachtet werden. Dabei wird oft verdrängt, dass auch diese Menschen, ja gerade diese, nur in eher schwachen Momenten das Gefühl haben, ihr Endziel erreicht zu haben. Sonst fürchten auch sie an diesem ominösen Leben vorbei zu leben. Ein Geistesprodukt, das in Köpfen, aber nicht in der Realität wohnt, vermag es, dieses Gespenst zu wecken. Da das glückliche Leben nicht real ist, lässt man sich auch manches abhandeln, wenn nur ansatzweise eine solche Existenz heraus fällt, wenn nur möglichst viele schöne Momente dieses Leben ausmachen. Das Brett liegt jedenfalls sehr hoch, und dass irgendein Leben auch nur daran reicht, ist höchst unwahrscheinlich. So kann jeder sein Leben also jeden Augenblick daran messen und wird immer sein Ungenügen finden.

Jacques Wirion
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