Der Countdown für das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada läuft. Das wird vor allem für die Sozialisten zum Problem

Die Rechnung kommt später

d'Lëtzebuerger Land du 23.09.2016

Befürworter und Gegner des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Kanada, Ceta, die der Sozialdemokratie nahestehen, durchleben dieser Tage ein Wechselbad der Gefühle. Am Montag stimmte ein SPD-Parteikonvent in Wolfsburg Ceta zu, trotz erheblicher Bedenken und nach einer Großdemo am Freitag in Berlin mit Zehntausenden TTIP-und Ceta-Gegnern. In Österreich sprachen sich 88 Prozent bei einer Online-Befragung der SPÖ-Basis gegen eine vorläufige Inkraftsetzung von Ceta aus. Allerdings war die Umfrage kurzfristig angelegt und mit einer Beteiligung von 7,5 Prozent nicht sehr hoch.

Die skeptische Stimmung an der Parteibasis erschwert es nicht nur den sozialdemokratischen Regierungsvertretern von Deutschland und Österreich, beim informellen Gipfel in Bratislava an diesem Freitag, auf dem diskutiert werden soll, ob Ceta bereits provisorisch umgesetzt wird, eine eindeutige Position zu vertreten. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn (LSAP) steckt in einer ähnlichen Klemme.

Zwar gibt es keinen aktuellen Beschluss seiner Partei zu Ceta-Inhalten, den Asselborn als Richtschnur berücksichtigen müsste. Im März hatte der LSAP-Nationalrat einstimmig beschlossen, eine Position zu den transatlantischen Freihandelsabkommen zu erarbeiten und auf einem Extra-Parteikongress zu beschließen. Zudem hatte die Chamber mit den Stimmen von DP, LSAP, Déi Greng und der CSV Anfang Juni eine Motion verabschiedet: Als rote Linie für eine Ratifizierung und eine provisorische Inkraftsetzung müsse Ceta als gemischtes Abkommen eingestuft und den nationalen Parlamenten zur Abstimmung vorgelegt werden (eine Motion von Déi Lénk mit der Forderung, im EU-Ministerrat gegen Ceta zu stimmen, wurde abgelehnt).

Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf Druck der Mitgliedstaaten im Juli zugestand, Ceta als ein gemischtes Abkommen zu behandeln, obschon ein hausinternes juristisches Gutachten es als „EU-only“-Abkommen einstufte, schien zumindest dieses Hindernis aus dem Weg geräumt.

Doch in trockenen Tüchern ist der Vertragsabschluss damit noch nicht. Denn während die Freihandelskritiker in den Vergangenheit ihre ganze Energie darauf setzten, gegen das Handelsabkommen mit den USA, TTIP, zu mobilisieren, gerät nun Ceta in ihren Fokus. Ceta sei der kleine Bruder von TTIP, ein „trojanisches Pferd“, das ganz ähnliche Regeln für den Handel aufstellen soll und weitreichende, negative Folgen für Umwelt, Verbraucher und Arbeitnehmer haben werde, warnen sie. Zumal auch Ceta ein einseitiges Klagerecht für Investoren vorsehe.

Die im August 2014 mit Ottawa fertig ausgehandelte Vertragsversion beinhaltete in der Tat die Einrichtung von privaten Investoren-Schiedsgerichten nach altem Muster. Doch der Widerstand von Gewerkschaften, Umwelt- und Wohlfahrtsverbänden gegen TTIP war so gewaltig, dass eine Durchsetzung in weite Ferne rückte. Vor allem die Sozialdemokraten in Europa gerieten unter Druck, haben sie doch besonders viele Freihandelskritiker und Gewerkschafter in ihren Reihen, und manche stehen in Regierungsverantwortung. Findige Sozialdemokraten, darunter Jean Asselborn, schlugen daher unter Führung von Sigmar Gabriel der EU-Kommission Anfang 2015 eine Reform des Investoren-Schiedsmechanismus vor, von der sie hofften, dem Widerstand der Kritiker die Spitze nehmen zu können.

Diese Taktik scheint indes nicht aufzugehen. Auch die neue Regelung stößt auf vehemente Kritik, der Europäische und der Deutsche Richterbund meldeten Zweifel an der Rechtsgrundlage und an der Notwendigkeit einer Paralleljustiz an, vor der nur Unternehmen, nicht aber Staaten klagen dürfen. Die Luxemburger Plattform Stopp TIPP trug in einer Stellungnahme an die Regierung dieselben Bedenken vor. In ihrer Motion griffen die Abgeordneten vor allem die Kritik an den Schiedsgerichten und der Mitbestimmung der nationalen Parlamente auf. Eine vorläufige Inkraftsetzung von Ceta solle nur möglich sein, sofern das EU-Parlament ihr zustimmt.

Den Freihandelskritikern geht das nicht weit genug, sie fühlen sich von der DP-LSAP-Grüne-Regierung verschaukelt und nicht ernst genommen. Das erklärt, warum ein Rundtischgespräch zum Thema in RTL-Kloertext vom Sonntag komplett aus dem Ruder lief.Eigentlich war Außenminister Jean Asselborn mit einer frohen Botschaft gekommen – dachte er wohl: Weil die Parteibasis in Berlin so viel Druck gemacht hatte, sah sich deren Chef Sigmar Gabriel genötigt, weitere Nachbesserungen zu versprechen. Dafür reiste er sogar nach Kanada. Durch, so heißt es jetzt, rechtsverbindliche Zusatzerklärungen sollen noch strittige Fragen zu Ceta geklärt werden. Der Vertrag selbst soll nicht mehr angerührt werden. Doch so sehr sich Asselborn auch bemühte: Zu den Kritikern drang er nicht durch. Lediglich der Vertreter der Industrie, Fedil-Generalsekretär René Winkin, konnte dem Vertrag Gutes abgewinnen. Laurent Mosar von der CSV sah ebenfalls wichtige Verbesserungen.

Allerdings wurde über den Inhalt von Ceta kaum diskutiert. Der Schlagabtausch zu bester Sendezeit verdient den Namen Debatte nicht: Blanche Weber, Sprecherin von Stopp TTIP Luxemburg und Asselborn fielen einander ständig ins Wort. Zu gegensätzlich waren ihre Positionen, zu erhitzt die Gemüter. Wer zuvor nie von Ceta oder TTIP gehört hatte, dürfte danach nicht schlauer geworden sein. Eine Stunde Talkshow mit fünf Gästen eignet sich ohnehin kaum, die Pros und Contras eines 1 600-Seiten-Vertragstextes zu analysieren. Zumal die Moderation es versäumte, die wesentlichen Streitpunkte herauszuarbeiten und strukturierend einzugreifen.

Anlass, um kritisch nachzuhaken, gab es genug: Das Right to regulate, das Recht von Regierungen, Gesetze zu erlassen, betont Asselborn zu Recht, sei in Ceta bewahrt. Dreimal wird es im Text erwähnt, auch zentral, in der Präambel. Bloß: Reicht das? Schließlich kommt es auf die konkrete Ausgestaltung im Vertrag an – und sie birgt viele Stolperstellen. Nicht umsonst lassen Mitgliedsländer in teils sehr aufwändigen Rechtsgutachten akribisch prüfen, inwiefern ihre Handlungsspielräume, etwa durch die neue Regelung zum Investorenschutz und eventuell drohender Schadensersatzklagen in Millionenhöhe, beeinträchtigt sein könnten. Die Anwendung von Ceta wird in einem gemischten Ausschuss entschieden werden, der die Regelungen des Vertrags interpretieren, abändern und neue Auslegungen vornehmen können soll. Diese Festlegungen und Fortschreibungen sollen für die Ceta-Schiedsgerichte verbindlich sein. Die Mitglieder des Gremiums wiederum sollen auf europäischer Seite Funktionsträger der EU sein und nicht etwa gewählte Vertreter der Mitgliedstaaten. Deutsche Rechtsexperten melden erhebliche Zweifel an, ob die Bildung solcher Gremien am Bundestag vorbei mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Auch Asselborns Aussage, das Vorsorgeprinzip sei im Vertrag enthalten, ist nicht falsch. Der Text sieht an vielen Stellen die Möglichkeit von Risikobewertungen beim Abbau von Handelshemmnissen zugunsten von Umweltschutz, Arbeitnehmerschutz, Gesundheit vor. Trotzdem sehen Experten das europäische Vorsorgeprinzip in Frage gestellt, weil künftig wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen werden muss, bevor ein Produkt mit Verweis etwa auf Gesundheitsgefahren vom Markt genommen werden kann. Der Import von Hormonfleisch und gentechnisch veränderten Organismen (GVO) in Produkten ist ausgeschlossen. Die Kanadier konnten der EU aber das Zugeständnis abringen, einen Dialog über die Einführung von effizienten wissenschaftlich basierten Zulassungsverfahren für GVO zu beginnen.

Dass die Kritiker nicht so falsch liegen, dass es zumindest juristisch hoch komplexe Grundsatz- und Detailfragen gibt sowie viele Unsicherheiten bei der Interpretation und Umsetzung, zeigen nicht zuletzt unabhängige, teils widersprüchliche Rechtsgutachten. Und die jüngsten politischen Entwicklungen: SPD-Mann Sigmar Gabriel konnte das Mitglieder-Votum nur deshalb für sich entscheiden, weil er seinen Genossen Nachbesserungen zusicherte und die nächsten Bundestagswahlen vor der Tür stehen. Ein Nein zu Ceta hätte den Spitzenkandidaten geschwächt und nichts fürchtet die SPD derzeit mehr, die von einem Umfrageloch ins nächste fällt.

Es wäre daher spannend gewesen, von Asselborn erklärt zu bekommen, wie rechtsverbindlich solche Zusatzerklärungen sind und wie die Chancen stehen, dass die anderen EU-Mitgliedstaaten diesen zustimmen würden. Denn andere Länder haben andere Interessen. Dazu kam es im RTL-Kloertext nicht. Ebenso blieb unklar, welche Position gegenüber den Zusatzprotokollen die Regierung einnimmt.

Marc Angel, LSAP-Abgeordneter und Präsident des Ausschusses für Auswärtige und EU-Angelegenheiten, betont im Land-Gespräch, der Minister sei „jederzeit bereit“, Informationen zu liefern. Doch in der Ausschusssitzung am Donnerstag konnte Asselborn nicht präzisieren, welchen Themen für die Zusatzerklärungen vorrangig diskutiert würden, nach ihrer Rechtskraft fragte niemand. Vom Parlament gibt es bis dato kein eigenes Gutachten zu Ceta. Man scheint sich damit zu begnügen, mit der Motion für kurze Zeit Medienaufmerksamkeit bekommen zu haben. Aber die darin geforderte Unabhängigkeit der Richter bleibt vage: Wie hoch müsste ein Richter-Salär ausfallen, was ein Verhaltenskodex beinhalten? Er könne sich „persönlich“ mit den Forderungen seiner deutschen Parteikollegen anfreunden, so Marc Angel, vor allem müssten die nationalen Parlamente über den Investorenschutzmechanismus abstimmen. Angel will sich noch nicht festlegen, ob er Ceta zustimmt, findet aber, der Vertrag enthalte „viele Verbesserungen“.

Doch die SPD-Position hat sich inzwischen weiter entwickelt, oder sollte man sagen: weiter verwässert? Hieß es bislang, der Ceta-Vertrag dürfe auf gar keinen Fall, auch nicht provisorisch, in Kraft treten, so lange nicht wichtige Rechtsfragen geklärt sei, verlangt der verabschiedete Leitantrag vom 19. September, sich „dafür einzusetzen“, dass „in einem ausführlichen Anhörungsprozess mit den nationalen Parlamenten und der Zivilgesellschaft die kontrovers diskutierten Fragen erörtert und Lösungsansätze entwickelt werden und das Abkommen bis zum Abschluss dieses Prozesses noch nicht vorläufig anzuwenden“. Die Bundesregierung solle sich zudem im EU-Ministerrat darum bemühen, eine rechtsverbindliche Erklärung mit Kanada auszuhandeln, in der verschiedene Begriffe aus Ceta genauer bestimmt werden – und zwar „möglichst vor Beschlussfassung im EU-Ministerrat“.

Das reicht den Freihandelsgegnern nicht: Der linke Flügel der LSAP und die Plattform Stopp TTIP mobilisieren unbeirrt gegen Ceta und gegen eine provisorische Inkraftsetzung. Für den 10. Oktober ist eine Demonstration geplant. Die Parteileitung beriet am Donnerstagabend über eine Resolution zu TTIP, zu Ceta gibt es laut LSAP-Generalsekretär Yves Cruchten bisher keinen konsensfähigen Text. Nächste Woche will die Parteilinke über ihr weiteres Vorgehen in Sachen Ceta beraten. „Ich setze darauf, dass es einen Kongress geben wird, der über Ceta diskutiert und rote Linien einhält respektive festlegt“, sagt LSAP-Mitglied Nico Wennmacher. Die Zeit drängt: Am 18. Oktober will die EU den Ceta-Vertragstext definitiv unterschreiben, am 29. Oktober soll es dazu eine feierliche Zeremonie geben. Danach wird er dem EU-Parlament vorgelegt. Der endgültige Stresstest, die Verabschiedung der Kapitel, die in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen, durch die nationalen Parlamente stünde nach dem bisherigen Zeitplan im nächsten Jahr an.

Wer seine Kenntnisse im internationalen Handelsrecht testen will: Hier steht der Vertrag: http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2014/september/tradoc_152806.pdf; die Expertenanhörung des Handelsausschusses im Bundestag vom 7.9.: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw36-pa-wirtschaft/436262; ausländische Rechtsgutachten zu strittigen Fragen wie dem verbleibenden Handlungsspielraum von Gemeinden, dem Vorsorgeprinzip, der Kompetenzfrage, der vorläufigen Anwendung: https://stm.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/160524_Nettesheim-CETA-Gutachten.pdf, http://www.abl-ev.de/fileadmin/Dokumente/AbL_ev/Welthandel/2015_Rechtsgutachten_TTIP_CETA_Regulierungszusammenarbeit.pdf, https://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/C-D/ceta-gutachten-einstufung-als-gemischtes-abkommen,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf, https://www.foodwatch.org/fileadmin/Themen/TTIP_Freihandel/Dokumente/2016-08-22_Gutachten_Weiss_Abschluss_und_vorl_Anwendung_CETA_Final.pdf
Ines Kurschat
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