Meißner-Johannknecht, Doris: Nix wie weg!

Schluss mit lustig

d'Lëtzebuerger Land vom 15.01.2009

„Ich esse keine Suppe! Nein!“„Aber du musst, Viktualia!“„Nein! Ich esse keine Suppe!“

Den Titel der Echternacher Autorenresidenz für Kinderbuchautoren, Struwwelpippi kommt zur Springprozession macht Doris Meißner-Johannknecht zum Programm. Schon die ersten drei Sätze ihres kurzen Romans verleihen der Hauptfigur Züge des störrischen Suppenkaspar und der bezopften Anarchistin aus der Villa Kunterbunt; ein Hauptteil der Geschichte wird sich in Echternach abspielen, wo die Autorin 2006 einen Monat lang gelebt und Nix wie weg! verfasst hat. 

Nachdem ihre Eltern und ihr Bruder bei einem Unfall ums Leben gekommen sind, wohnt Viktualia dort, wohin ihre schwedische Namensvetterin keinen Fuß gesetzt hätte: in ei­nem Kinderheim. Sie fühlt sich ungeliebt und unverstanden, isst nicht, schneidet weder Haare noch Fingernägel und kleidet sich mit Vorliebe schwarz. Als die Betreuerin nicht aufpasst, lässt Viktualia die Suppe stehen und läuft davon. 

Im „normalen Leben“ ist es für eine Zwölfjährige zwar weder leicht, noch ungefährlich, sich ohne Geld ratzfatz aus dem Staub zu machen, doch in der Logik von Kinderbüchern sind der glückliche Zufall und die unerwartete Ausnahme fast ohne Einschränkung erlaubt. 

Nix wie weg! lebt von den wundersa­men Glücksfällen, die Viktualia immer wieder aus brenzligen und ausweglos scheinenden Situationen be­freien. Aus Mangel an Alternativen lässt sie sich in einem Lieferwagen mit ausländischem Kennzeichen mitnehmen. Glücksfall Nummer eins: Der Fahrer ist kein Kinderschänder und hinreichend verantwortungslos, um das Mädchen mitfahren zu lassen. Er spricht zwar kein Deutsch, überlässt ihr aber bereitwillig Brötchen und Cola, die er an der Tankstelle gekauft hat. Um Mitternacht kommen sie an; der Fahrer verabschiedet sich, und Viktualia, die nicht weiß, wo sie gelandet ist, muss auf einer Parkbank übernachten. 

Glücksfall Nummer zwei: Am nächsten Morgen lernt sie vier Kinder in ihrem Alter kennen, die ihr eine Woche lang abwechselnd dabei helfen, sich zu verstecken, die ihr Essen bringen (das fern vom Kinderheim wunderbar schmeckt) und sie auch sonst mit dem Nötigsten versorgen. Glücksfall Nummer drei: Es gelingt Viktualia, sich eine neue Identität als „Maria“ zuzulegen und am Ende ein Leben in Luxemburg, bei den Eltern eines ihrer neuen Freunde, in Aussicht gestellt zu bekommen. 

Auch sehr lesefaule Kinder werden über Nix wie weg! kaum meckern können: Die Geschichte ist kurz, die Hauptfigur sympathisch und es bleibt bis zum Ende spannend, ob und wie Viktualias/Marias Fluchtversuch gelingen wird. Am Ende jedes Kapitels befinden sich Verständnisfragen und Anregungen für die jungen Leser, sich intensiver mit dem Innenleben der Figuren auseinanderzusetzen. Ein Anhang stellt nicht nur die Autorin vor, sondern auch die Schauplätze des Romans, die vielleicht nicht nur deutschen Kindern unbekannt sein dürften. In dieser Aufmachung eignet sich das Buch hervorragend zur Schullektüre für eine vierte oder fünfte Grundschulklasse. 

Ob es sich genauso gut zur Eigenlektüre eignet, scheint jedoch eher fraglich. Erstens besteht der bedeutendste „interaktive“ Teil des Romans darin, dass sich die Leser das Ende der Geschichte selbst ausdenken müssen. Viktualia wird nach einer Woche entdeckt. Ihre Freunde sind zuversichtlich, dass „ja sowieso schon alles geregelt“ sei, und Viktualia selbst glaubt fest daran, dass sich die Dinge zum Guten wenden werden. Damit setzt die Autorin die Segel für ein Happy End, das nicht eintreffen kann. So aufnahmebereit die Eltern des neuen Freundes auch sein mögen, so würde man Viktualia im „wirklichen Le­ben“ zunächst in einem luxemburgischen Kinderheim unterbringen und dann zurück nach Deutschland verfrachten. Eine Adoption wäre lang­wierig und kompliziert. Zweitens lässt der Roman völlig offen, wie die beiden Identitäten des Mädchens, Viktualia und „Maria“, sich am Ende zusammenführen lassen. 

Vik­tu­alia trennt sich von ihrem richtigen Namen, von ihren langen Haaren und den krallenartigen Fingernägeln; sie wechselt nicht nur die Garderobe, sondern ih­ren ganzen Kleidungsstil. Aus der widerspenstigen, verschlossenen „Struw­welpippi“ wird ein eher angepasster Teenager. Die Autorin macht es sich vermutlich etwas zu leicht, indem sie ihren jungen Leser die schwieri­ge Aufgabe zumutet, zu zeigen, dass Vik­­tu­alia mit diesen Äußerlichkei­ten nicht auch das ablegt, was Pippi Langstrumpf und die Figuren aus dem Struwwelpeter ausmacht: die kindliche Auflehnung gegen die Ordnung der Erwachsenen.

Doris Meißner-Johannknecht: Nix wie weg! Schroedel Verlag, Braunschweig 2008. ISBN 978-3-507-47071-2. Am 21. Januar um 19 Uhr liest Doris Meißner-Johannknecht aus ihrem Buch im Trifolion in Echternach, sowie am 22. Januar um 10 Uhr im Rahmen der Kibum im Literaturhaus in Mersch (für Schulklassen). 

Elisabeth Schmit
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