Die Einkommensteuertabelle wird leicht gedehnt

Mittelstandsbuckel und Reichensteuer

d'Lëtzebuerger Land du 23.09.2016

Ab nächstem Jahr sollen Steuerzahler, die gegen Lohn arbeiten, und das waren vergangenes Jahr 85 Prozent aller Beschäftigten, aber auch Rentner und Selbständige, weniger Lohn- beziehungsweise Einkommensteuer zahlen und sich deshalb eines höheren verfügbaren Einkommens erfreuen. Das trifft sich gut, denn nächstes Jahr finden Gemeindewahlen statt und im Jahr danach sogar Kammerwahlen.

Zur Senkung der Steuerlast dieser Einkommensgruppen soll die Einkommensteuertabelle wieder einmal geändert werden. Gemessen an den Steuerausfällen für die Staatskasse beziehungsweise den Ersparnissen für die Steuerzahler machen die geplanten Änderung der Einkommensteuertabelle einschließlich der dazu gehörenden Steuergutschrift zwei Drittel der ganzen Steuerreform aus.

Hinzu kommt die Abschaffung der Befristeten Haushaltsausgleichsteuer von 0,5 Prozent. Die bis zum Abschuss durch den Staatsrat als „Contribution pour l’avenir des enfants“ verkleidete Steuer sollte von Anfang an nur 2015 und 2016 erhoben werden.

Bei der Änderung der progressiven Steuertabelle war sich die Regierungsmehrheit trotz ihres liberalen Modernisierer-Eifers einig, von vor allem gegen die Steuerprogression gerichteten Rosskuren abzusehen, wie sie noch vor einiger Zeit in den Wahlprogrammen mancher Parteien herumspukten: eine weitere Reduzierung der Zahl der Einkommensstufen, die Abschaffung der Steuerfreibeträge und -gutschriften oder eine „Flat tax“ genannte Rückkehr ins 19. Jahrhundert. Doch DP und LSAP verfolgen, je nach Wählerschaft, auch unterschiedliche Interessen. (Die Grünen bedienen ihre offenbar anderer materiellen Sorgen enthobene Wählerschaft mit einem Steuerabschlag für den Kauf von Elektroautos und Fahrrädern mit Hilfsmotoren.)

Die Demokratische Partei hatte im Wahlkampf den mittleren Angestellten, Beamten und Selbständigen versprochen, den „Mittelstandsbuckel“ abzuschaffen oder wenigstens abzuflachen. Denn er belastet ihrer Meinung nach die jungen, aufstrebenden Mittelschichtenfamilien in der „Rush hour des Lebens“, denen die Partei ihre besondere Aufmerksamkeit schenkt.

Aber als die DP bis in der Regierung war, stellte sie unter Berufung auf die Steuerverwaltung und den Wirtschafts- und Sozialrat fest, dass es den Mittelstandsbuckel vielleicht gar nicht gibt. Oder dass er zumindest unvermeidbar ist, wenn der Eingangssteuersatz nicht gleich bei einem Euro Einkommen beginnt und der Höchststeuersatz nicht 100 Prozent beträgt – und wer will das schon außerhalb Nordkoreas?

Nun soll zuerst die Progression der Steuertabelle gebremst werde, indem der Steuersatz in den fünf ersten Einkommensstufen nur noch um einen Prozentpunkt, statt, wie bisher, um zwei Prozentpounkte steigt. Dies wird aber teilweise dadurch neutralisiert, dass die ersten Einkommensstufen verringert werden und erst danach im Vergleich zu heute wieder vergrößert, so dass die Progression anfänglich schneller und danach langsamer wirkt.

Den gering verdienenden Arbeitern, kleinen Angestellten und Rentnern, die noch immer einen Teil der Wählerschaft der Sozialistischen Arbeiterpartei ausmachen, bringt das aber wenig. Denn wer wenig verdient, zahlt kaum Steuern und geht folglich bei Steuersenkungen leer aus. Deshalb wird die Steuergutschrift für Lohnabhängige vom Eingangssteuersatz bis zu einem Einkommen von 40 000 Euro auf 600 Euro verdoppelt und danach wieder auf das aktuelle Niveau von 300 Euro heruntergefahren. Ist die Steuerschuld in den untersten Einkommenskategorien niedriger als die Steuergutschrift, wird die Gutschrift ausgezahlt.

Die Folge dieser „Negativsteuer“ ist aber je nach Steuerklasse sehr unterschiedlich: Ein den Mindestlohn verdienender Junggeselle zahlt auch in Zukunft noch immer 21,30 Euro Steuern im Monat, während eine den Mindestlohn verdienende Allererziehende 50 Euro herausbekommt, ein Mindestlohnbezieher mit einem erwerbslosen Ehepartner dagegen 175 Euro.

Von dieser selektiven Erhöhung der Steuergutschrift für Lohnabhängige war keine Rede im Wahlprogramm der LSAP, die vielmehr zum Leidwesen ihres Spitzenkandidaten eine „Reichensteuer“ in Form eines Höchststeuersatzes von 45 Prozent ab Einkommensstufen von 200 000 Euro versprochen beziehungsweise angedroht hatte. Die DP und Teile der LSAP hatten aber eine stärkere Besteuerung der höchsten Einkommen mit dem Argument abgelehnt, dass dadurch die Beschäftigung ausländischer Spezialisten die Unternehmen teurer zu stehen käme. Nun sollen Einkommensstufen über 150 000 Euro mit einem Prozentpunkt und über 200 004 Euro mit zwei Prozentpunkten höher besteuert werden. Damit hört die Progression der Steuertabelle wieder auf.

So führt die versprochene Abflachung des Mittelstandsbuckels zu einem gewaltigen Mittelstandsbuckel bei den Steuereinsparungen: Ein Ehepaar mit einem Jahreseinkommen von 50 000 Euro brutto spart nächstes Jahr 861,24 Euro Steuern, ein solches mit einem Jahreseinkommen von 100 000 Euro dagegen 2 715,24 Euro und mit einem Jahreseinkommen von 300 000 Euro sogar 3 056,24 Euro. DP, LSAP und Grüne reproduzieren damit nicht bloß die bestehenden Unterschiede der Bruttolöhne, sondern vergrößern sie noch auf der Ebene der verfügbaren Nettoeinkommen.

Was neben der ökologische Wende des Steuerwesens in der Steuerreform fehlt, ist die Wiedereinführung der 2001 von CSV und DP abgeschaffte Anpassung der Steuertabelle und der Freibeträge an den Preisindex. Die DP hatte, zumindest in der Opposition, wie keine andere Partei diese Verhinderung „kalter Steuererhöhungen“ verlangt, damit die Einkommen nicht inflationsbedingt in höhere Einkommensstufen steigen und die Freibeträge durch die Inflation entwertet werden. Aber in der Regierung ist es einer Partei nützlicher, die sporadische Anpassung der Steuertabelle an die Inflation als großzügige Reform darzustellen und entsprechenden Dank von den Wählern zu erwarten.

Romain Hilgert
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