Die kleine Zeitzeugin

Höhlen-Wunderkinder

d'Lëtzebuerger Land du 13.07.2018

Früher nannte man so was Wunder. Wobei die wundersame Rettung in Thailand ja vor allem dem wunderbaren internationalen Zusammenspiel von Menschen mit unterschiedlichsten Kompetenzen zu verdanken ist. All den Menschenmöglichkeiten, die kompetent und weise eingesetzt wurden. Hochgerüstete Menschenwürmer winden sich durch unterweltliche Finsternis. Es gibt ein Menschenopfer, archaische Bilder werden wach.

In den versteinerten Schoß von Mutter Erde dringt die Kamera. Lichtbilder, auf denen blasse, schmächtige Gestalten zu sehen sind, dringen ans Licht der Welt. Bilder, die in unserem kollektiven Gedächtnisalbum haften bleiben werden, ein Weilchen jedenfalls. Kinder im Dunkeln. Holt sie raus!, heult das Muttertier in so ziemlich jedem Menschen auf. Mit Sensationsgier hat das wenig zu tun. Hühnchen wollen sie essen, steht in den Zeitungen. Nach tagelangem „Hoffen und Bangen“, wie das in den Medien heißt, werden sie der steinernen Umklammerung entrissen. Schutzengel operieren, geleiten durch Spalten und Schründe. Bilder aus dem Unterweltraum, Geburtsbilder, große, archaische Metaphern tauchen auf.

Dann ein Aufatmen im World Wide Web, eine Freude, die elementar und selbstverständlich ist. Mitten im Fußballwahn der WM mit seinem Starkult kursieren Fotos und Namen von Bürschchen des Fußballtrüppchens aus Thailand, Burschen, wie es sie überall gibt, Jungs, boys, auf den Fotos lachen sie oder schauen nachdenklich,

selbstbewusst, schelmisch; wir lernen die bombastischen Thai-Namen kennen und erfahren die Spitznamen. Es gibt Dankbarkeit. Den Helden gegenüber, ja, Helden, was sonst? Dankbarkeit aber auch dafür, dass etwas sehr Kostbares, Prekäres wieder belebt wird. Der Glaube an oder eher das Wissen um das Gute im Menschen. Auch wenn es, klar, eine Show ist, die Welt glotzt. Aber diese Typen, die jeden Moment erbärmlich krepieren könnten, sind keine Exhibitionisten. Vermutlich nicht mal Desperados. Sie gehören übrigens jenem Geschlecht an, das in letzter Zeit vorwiegend als gleichermaßen bedrohliches wie bedrohtes Auslaufprojekt dargestellt wurde.

Ja, die Welt schaut zu. Das sagt man auch, wenn es um Syrien geht. Oder das Mittelmeer. Die Welt schaut zu. Oder weg. Was auf das gleiche hinaus läuft. Jetzt, bei dem Hype um die Thai-Buben wird es wieder gesagt. Und es werden Kinder mit Kindern verglichen, Kinder in Gefahr mit Kindern in Gefahr. Aufgetauchte mit Untergegangenen. Und die, die Freude empfinden, sollen sich schleunigst schämen, dass sie den Fernseher nicht mehr einschalten, wenn ganz am Ende der Nachrichten noch die Mittelmeertoten dran kommen.

Auch diese Bilder sind archaisch, große Oper, dramatisch die gespenstisch herum irrenden Schiffe mit ihrer menschlichen Fracht und Ohnmacht. Die Odysseen zwischen Skylla und Charybdis bieten unendlichen Stoff für Heldinnensagen. Der Stoff, aus dem das legendäre Europa gewebt, getextet ist. Auch hier gibt es Gute, als Gutmenschen geschmäht. Die zwar nicht ihr Leben riskieren, aber Reputation, Geld, und jetzt auch Freiheit.

Ja, warum klicken wir uns nicht jeden Tag durch die Liste toter Babys im Mare Nostrum, die es natürlich nicht gibt? Warum posten wir nicht Nachrufe an im brennenden Blau verschollene Jugendliche? Warum bringen „die Medien“ „es“ nicht mehr. Den Kindstod im Meer, überhaupt das Sterben im Meer. Als die Flucht noch spannend und neu war und noch nicht eine chronische Tragödie, hockten Journalist_innen in Kähnen und Gummibooten, embedded inmitten von Flüchtlingen. Ja, es ist wahr, wen interessieren noch diese Geschichten? Und wer legt sich noch mit un- rechten Regierungen an?

Ja, wir sind abgestumpft, das große Epos ist zur Alltagsgeschichte geworden, die keiner mehr hören will. Sie bietet kein schnelles Happy End. Das Boot ist voll, das ist das Leitwolfmotiv. Wer zu viel ist, geht über Bord. Die, die die Folgen tödlicher Politik zu lindern suchen, werden zu Verursacher_innen umgedeutet. Empathie ist einem Realismus genannten Überdruss gewichen.

Es gibt kein Happy End wie jetzt in Thailand bei der Geschichte von den 12 Freunden. Hollywood wartet schon, aber wer braucht es noch? Hollywood war gerade. Es hat uns lächelnd entlassen.

Michèle Thoma
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