Lügenbarone

Über Mut und Übermut

d'Lëtzebuerger Land vom 12.05.2011

Heute loben wir die kaltblütigen Lügenbarone. „Luxembourg lies on secret meeting“, schreibt die Internetzeitung Wall Street Journal und fragt: „Is lying considered an appropriate mode of communication for euro-zone leaders?“ Die stupende Antwort auf diese rhetorische Frage finden wir auf einem EU Observer-Video vom April 2011. Während einer Pressekonferenz doziert Herr Jean-Claude Juncker wörtlich: „When it becomes serious, you have to lie.“ Er fügt mit zynischer Grandezza hinzu: „I am a christian democrat, I am a catholic.“ Was um alles in der Welt sollen wir arme Würstchen von der Stimmviehweide mit diesem Bekenntnis anfangen?

Fragen wir doch einfach die großherzogliche Lügenzentrale um Rat. Der SIP., vormals Service Information et Presse, heute Service Intoxication et Propagande, hat ja mit spektakulärer Empörung dementiert, dass es ein Geheimtreffen wichtiger europäischer Finanzminister auf Schloss Senningen gegeben hat. Nun weiß die Öffentlichkeit seit dem letzten Wochenende sehr wohl, dass der oberste Euro-Lügenbaron Juncker seinesgleichen zum Rendezvous gebeten hat. Nur: Es geht uns Bürger nichts an. Wir sollen außen vor bleiben. Wir haben kein Recht auf Information und schon gar nicht auf Wahrheit. „Wenn es ernst wird, muss man lügen“, belehrt uns Herr Juncker. Das ist von einer entwaffnenden Ehrlichkeit.

Die Lügenverbreitungseinrichtung SIP hat nun mit einer wunderbar verlogenen Pressemitteilung nachge-hakt. Wir möchten gar nicht auf den Genuss verzichten, der verehrten Leserschaft die wichtigsten Passagen dieses aufrüttelnden Rechtfertigungsschreibens munter vorzulügen:

„1. Herrn Junckers Kernsatz ‚Wenn es ernst wird, muss man lügen‘ ist nicht etwa als launische Floskel zu verstehen, sondern als programmatischer Ansatz, der allgemein für europäische und nationale Politik gilt. In anderen Worten: Die Lüge ist das Fundament der Politik. Somit weiß der Wähler mit beachtlicher Sicherheit, was er von seinen Repräsentanten zu erwarten hat. Das philosophische Prinzip ‚Wenn es ernst wird, muss man lügen‘ macht alle künftigen Wahlkämpfe überflüssig. Wenn ohnehin gelogen wird, muss man keine Unsummen ausgeben, um beim Stimmvieh den Anschein von Wahrheitsliebe zu erwecken.

2. Gelogen wird in allen Bereichen der Politik. Wir kennen ja bereits die großen, kontinentübergreifenden Lügen, wenn es etwa um das Anzetteln irrwitziger Kriege geht. Die grandiose Lüge von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen sollte uns als Schulbeispiel dienen. Das Stimmvieh sollte sich allerdings nicht leichtfertig von diesen überdimensionierten Musterlügen ablenken lassen. Gelogen wird tagtäglich auch im Kleinen. Über die wahren Hintergründe der Schulreform wird ebenso gelogen wie über die wirtschaftlichen Perspektiven des Großherzogtums. Nach Junckers Definition ist sein eigener Staatsschatzmeister sozusagen ein Goldschmied der Lügenkunst. Herr Frieden, getreu Junckers Gebrauchsanweisung, lügt seit Jahr und Tag, dass sich die Balken biegen. Über diese mit pragmatischer Strenge vorgetragenen Lügenkaskaden sollte sich das Stimmvieh freuen. Denn nichts ist unerträglicher als die Wahrheit. Wer Politiker wird, um die Wahrheit zu verkünden, sollte gleich zu Hause bleiben und sich seine Machtgelüste abschminken. Die Wahrheit ist immer kontraproduktiv. Die Lüge ist immer spannend und kompetitiv.

3. Herrn Junckers durchtriebener Zusatz ‚I am a christian democrat, I am a catholic‘ soll nicht nur bedeuten, dass Christdemokraten und Katholiken grundsätzlich besser lügen, weil sie stets im Tarnanzug der Unfehlbarkeit auftreten. Dieser Satz hat auch eine transzendente Logik. Um das Leben zu bewältigen, brauchen wir ganz einfach die große Lebenslüge. Die Wahrheit wäre: Das Leben endet zwangsläufig mit dem Tod. Wer will diese Wahrheit hören? Kein Mensch. Also rettet uns die schöne Lüge: Das Leben hat einen Sinn. Von allen Lebenslügen ist Religion die praktischste und ökonomischste. Sie verursacht keinen Stress im Kopf des Stimmviehs, weil sie Verstand und Vernunft erst gar nicht beansprucht. Man lügt sich irgendeinen Gott herbei, mit einer geradezu rührenden Neigung zum Selbstbetrug, und schon ist man lebenslänglich gefangen in romantischen Lügengespinsten. Das gläubige Stimmvieh ist für Lügen immer höchst empfänglich. ‚Wenn es ernst wird, muss man lügen.‘ Da immer alles ziemlich ernst ist, muss man jeder Zeit mit gediegener Systematik lügen.

4. Herr Juncker in Luxemburg, Herr Sarkozy in Frankreich, Frau Merkel in Deutschland, Herr Orban in Ungarn, Herr Berlusconi in Italien sind sozusagen die christdemokratischen und katholischen Sockelheiligen der europäischen Lügnerzunft. Wir sollten sie nach Kräften verehren und bewundern, auch wenn uns manchmal vehement nach mickrigen Wahrheiten dürstet. Lieber ganze, handwerklich gut gemachte Lügen als halbe Wahrheiten.

5. Dass Herr Juncker nach seiner wahrhaft vernichtenden Selbstbezichtigung von allen politischen Ämtern zurücktreten wird, ist eine Lüge.“

Guy Rewenig
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