Unruhen in der Türkei

Das halbvolle Glas

d'Lëtzebuerger Land vom 21.06.2013

Sie stehen mitten auf dem Taksim-Platz in Istanbul. Oder in der Hauptstadt Ankara auf der Straße, genau an jener Stelle, an der ein Polizist einen Demonstranten aus nächster Nähe erschossen hat. Sie tun nichts Besonderes. Sie stehen einfach. Sie rufen keine Parolen. Sie leisten keinen Widerstand, wenn die Staatsmacht ihre Taschen durchsuchen will. Außer stehen zu bleiben. Die Polizei, der Staat, der mächtige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan fühlen sich trotzdem provoziert. Die „Steher“, so wie sie mittlerweile in der Türkei genannt werden, werden festgenommen – ganz offiziell, wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt, in dem sie den „Tatbestand des Stehens“ erfüllt haben.

Die mittlerweile drei Wochen andauernden Proteste in der Türkei wurden zunächst vergangene Woche mit brachialer Gewalt gebrochen. Doch nun entwickeln die meist jungen Demonstranten ganz neue und weiterhin gewaltfreie Widerstandsmethoden. Sie ähneln dem passiven Widerstand in vielen Demonstrationen im Westen.

Die Menschen in der Türkei, zumindest diejenigen, die seit Wochen auf den Straßen ausharren, um gegen den autoritären Führungsstil des Ministerpräsidenten Erdogan zu protestieren, strahlen ein starkes Demokratiebewusstsein aus. Ganz nach europäischem Geschmack.

Europa, die Europäische Union, die mit der türkischen Regierung Beitrittsverhandlungen führt, schaut seit dem Beginn der Verhandlungen im Jahr 2005 lediglich auf die Leistung der Regierung in Ankara. Die EU-Bürokraten, sowie viele europäische Politiker urteilen den Fortschritt des Landes in Richtung Demokratie nach durchgesetzten gesetzlichen Reformen. Diese aber stocken seit einigen Jahren.

Auch während des jüngsten Aufstands in türkischen Städten haben sich viele Europäer hauptsächlich auf die wütende, sture und gewalttätige Reaktion Erdogans und seiner Sicherheitskräften konzentriert. Sogleich wurden Stimmen laut, die EU müsse der Regierung in Ankara deutlich sagen, dass die Gespräche auch abgebrochen werden können. Andere sahen in den Ereignissen am Bosporus eine Bestätigung ihrer Ablehnung gegen einen türkischen Beitritt in die EU, wie der Generalsekretär der deutschen CSU, Alexander Dobrindt. Er behauptete, in den vergangenen Tagen sei erneut deutlich geworden, dass die Türkei nicht in die Europäische Union gehöre.

Doch Dobrindt & Co. schauen vor allem auf die leere Hälfte des Glases. Die volle Hälfte, das sind die jungen Menschen, die weiterhin unnachgiebig Widerstand leisten gegen einen Staat, der elf Jahre geduldig Demokratie spielte, aber sie offensichtlich nie verinnerlicht hat. Nun wird er durch die Protestbewegung vorgeführt. Die Türken kämpfen für ihre Demokratie. Die jungen Demonstranten haben auch die Medien und die Opposition des Landes aufgeweckt aus ihrem Dornröschenschlaf. Selbst in der Erdogan-Partei AKP gibt es mittlerweile leise Widerworte gegen den Patriarchen Erdogan.

Die reflexartige Reaktion aus der EU, die die Weiterführung der Beitrittsverhandlungen in Frage stellt, kommt hingegen dem Autokraten Erdogan entgegen. Er und sein enger Berater- und Ministerkreis sind ohnehin seit Jahren nicht mehr begeistert vom Projekt EU. Sie träumen eher von einer Wiederbelebung des alten Osmanischen Reiches und wollen lieber mit Europa konkurrieren. Ohne den Druck aus der EU ließe sich die plötzlich aufflammende Demokratiebewegung auch viel effektiver bekämpfen. Deshalb nimmt die türkische Regierung einen Beschluss des Europäischen Parlaments, der den unverhältnismäßig harten Polizeieinsatz gegen die Protestbewegung verurteilt, und andere kritische Worte aus der EU zum Anlass, mehrere geplante Gesprächsrunden zwischen der EU und der Türkei platzen zu lassen.

Es gibt aber auch andere Europäer, die die volle Hälfte des Glases sehen. Allen voran Stefan Füle, der Erweiterungskommissar der EU. Der erfahrene tschechische Diplomat hat sich nicht mit Presseberichten über den Aufstand am Bosporus zufrieden gegeben. Er reiste nach Istanbul, marschierte schnurstracks zum Taksim-Platz in den Gezi-Park, dem Herz des Aufstandes, und sprach dort mit Aktivisten vor Ort. Später erzählte er von den „jungen Menschen, denen man in jeder beliebigen europäischen Stadt begegnen könnte“, und dass sie „vom Frieden und Freiheit redeten, verlangten, dass man ihre Stimme hört“ (siehe Fotoreportage Seite 19).

Auch Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, betonte die positive Seite der Ereignisse der vergangenen Wochen beim EU-Kandidaten Türkei. „Die Proteste auf dem Taksim-Platz sind keine Bedrohung gegen den türkischen Staat“, erklärte Schulz, „sondern ein der Ausdruck einer lebendigen Zivilgesellschaft, ein Ruf für Dialog und Pluralismus.“

Diese lebendige Zivilgesellschaft ist ein unmittelbares Produkt und ein einmaliger Erfolg des EU-Beitrittsprozesses. Weder kann sie ohne diesen Prozess weiter existieren, noch kann der Prozess ohne sie fortschreiten.

Deshalb kritisierte Martin Schulz einerseits Ankara mit klaren Worten für den harten Polizeieinsatz. Andererseits befürwortete er, den Dialog mit der Türkei fortzusetzen. „Indem wir ambivalente Signale gesendet haben und den EU-Beitrittsprozess in Frage stellten, haben wir viele Menschen in der Türkei frustiert“, sagte Schulz und fügte hinzu: „Ohne die Fragen zu fundamentalen Rechten und Rechtstaatlichkeit im Land zu scheuen, müssen wir den Beitrittsprozess am Leben halten.“

Mit diesen Worten traf Martin Schulz nicht nur das Gefühl der türkischen Demonstranten, sondern auch vieler gemäßigten AKP-Anhänger.

Cem Sey
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