Ech an de Jules zu Kalanaxo

Semantik pur

d'Lëtzebuerger Land du 03.04.2003

Es sind Ferien, "Ech an de Jules" tauchen unter. Nach und nach lernen sie, ohne zu atmen unter Wasser zu bleiben. Das Abenteuer fängt damit an, daß Jules seine lila Badehose im Wasser verliert, und plötzlich ein komisches Wesen sich dieses Kleidungsstückes bemächtigt. Wir befinden uns auf Kalanaxo, genauer gesagt in den Geschichten von Nicole Paulus um Kalanaxo, der Haupstadt der Tintenfische. Deren Staat besteht hauptsächlich aus einem Orchester, dessen Dirigent manchmal am Dilettantismus der musizierenden Fanfare verzweifelt. 

Es spielen die Kalamaren, wovon wir Kaladullo, den Coolen, erwähnen möchten. Sein Instrument ist eine Muschel, in der aber auch Nautillus, ein spiraliges Minitierchen lebt. Nautillus ist ewig beleidigt, "d'Musiker hu keng Manéieren, froen nimools, ob de Nautillus en Instrument wëll sinn." Deshalb flieht das Tierchen und begibt sich auf die Reise in Richtung Korallenriff. Unterwegs begegnet es einer Jakobsmuschel, beide ergänzen sich anatomisch gesehen recht gut, und entwickeln eine Geheimsprache. Auch Kaladullo geht auf eine Zickzackreise, er durchlebt Abenteuer in den Meeren. Kehrt er später zurück, wird er ein Held sein, der viel zu erzählen hat. 

Umgekehrt landet ein anderer Cooler auf Kalanaxo, Squid, ein ehemaliger Aquariumsfisch. Ohne viel Fisamatenten erobert er sich ein Liebstes und ersetzt den verletzten Topagenten Kalaschnikoff. Tinte ist die psychologische Sprache der Kalamaren. Mit ihr drücken sie sämtliche Emotionen aus. Das Buch weist demnach eine gehörige Portion an Psychanalyse auf, mit Symbolen wie Fieber (Transzendenz), Sexualität im offenen Erleben von Lust und Befriedigung, auch als Zustand von allgemeinem Genießen wie Essen, Trinken, Schwimmen, Reden und Erzählen. Nicole Paulus' Ech an de Jules zu Kalanaxo stellt aber vor allem ein kleines Abenteuerfeuerwerk dar, und kann als wahrer Leseschmarren für Kinder und deren Vorleser, die Eltern, betrachtet werden. 

Die Autorin entwickelt die jeweiligen Bildgeschichten nicht chronolgisch, sondern stuft sie schichtweise wie im Schiebeverfahren in einzelne Schubladen des Unterbewußtseins. Nicole Paulus drückt ihren Lesern nicht die Ohren zu, so wie dies die Kalamarenmütter mit Hilfe von Sanddollaren bei ihren Kindern tun, um sie vor Kalaschnikoffs Gruselgeschichten zu schützen (obwohl die Kalamarenurmütter früher selber Geschichten über die Kropemänner zu erzählen wußten). Da wird vorsichtig Sinnlichkeit in überschäumenden Konfigurationen umschrieben. Grandiose Abenteuerszenarien werden ausgebreitet mit einer deftigen  aber treffsicheren Kindersprache versetzt. 

Wir surfen von einer Kurve zur Nächsten, eingebettet in eine gehobene, niveauvolle luxemburgische Sprache, reich an Symbolik und gleichzeitig arg real. Wir wirbeln durch intelligente Gedankenassoziationen hindurch, blitzschnell, denn Kinder sind nicht langsam im Kopf. Auch Märchenfiguren kommen vor: Karetta, die 600-jährige Schildkröte, desweiteren ein Herrgott, der Wal, er ist die Barmherzigkeit in Person. Der Killerhai spielt den Gangster, klar, Mann! Ganz kurz erscheint ein kleines Mädchen, Anais. Sie rettet den normalerweise starken Kalaschnikoff, der eigentlich gerade von Afroditi in der Restaurantküche schlecht behandelt werden sollte. 

Nicole Paulus präsentiert uns eine luxemburgische Prosa in den allerbesten Verfeinerungen, obwohl schwer mit Inhalt beladen. Auch absurde Gedankengänge werden dargestellt, ein ganzer Teppich an Seelenstrukturen breitet die Autorin vor uns aus, und wir fallen in eine tiefe literarische Trance, hätten nie gedacht, dass so etwas möglich wäre! 

Zu den Bildern: R. Bradley Owen gestaltet die zwölf Öl-Aquarelle in perfekter Harmonie mit den archaischen Mustern des Textinhaltes. Der Philosoph und Maler beeindruckt durch das Wesen seiner Farbgestaltung, die Darstellung der Fische, Jules, Schildkröte, Kalamarenorchester, Walroß, Pinguine usw. zeugen von einer starken Einfühlung in die seelische Landschaft des Textes. Musikalisch werden die Abenteuer von über 30 zwei- bis vierzeiligen einfachen Weisen umrahmt, welche aus der Feder von Albena Petrovic Vratchanska nach einer griechischen Melodie in einfacher Notenform geschrieben sind. 

Nicole Paulus: Ech an de Jules zu Kalanaxo, Titelbild und Zeichnungen von R. Bradley Owen; Kollektion Philou  der éditions Phi, 2002. ISBN: 3-88865-214-6.

Carmen Heyar
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