Raths, Aloyse: Années néfastes pour le Grand-Duché 1940-1945

Der Kommissar und der Widerstand

d'Lëtzebuerger Land du 12.02.2009

Als die Nachricht durch die Presse ging, dass Aloyse Raths ein Buch geschrieben habe, das sein Testament darstelle, waren die Erwartungen groß. Aloyse Raths ist eine bedeutende, wenn auch umstrittene Persönlichkeit unseres öffentlichen Lebens. Er verkörperte 40 Jahre lang im offiziellen Auftrag die Resistenz des Luxemburger Volkes. Er war der Erzieher und Lehrmeister des heutigen Großherzogs und er hat als 19-jähriger Schüler an der Gründung einer Widerstandsgruppe teilgenommen, die später zu einer der wichtigsten des Landes wurde. Er müsste einiges zu erzählen haben.

Das Buch wurde nach dem Vorbild der Tatsachen aus der Geschichte des Luxemburger Landes von P.J. Müller geschrieben. Zu jedem Datum steht ein Ereignis. Eine Chronik der Kriegsereignisse, die bereits zweimal im Rappel erschienen ist, und von Paul Dostert nachgebessert und mit pikanten Einzelheiten gewürzt wurde. Paul Dostert ist Direktor des Dokumentations- und Forschungszentrums zur Geschichte des Widerstandes, das sich in der früheren Villa Pauly niedergelassen hat, und gehört als Hofkämmerer ebenfalls zur Suite des Großherzogs. Das 450 Seiten dicke Buch ist in zwei Sprachen verfasst und enthält zahlreiche und wertvolle Bilder, die zum Teil unbekannt sind, leider oft unkommentiert und unerkenntlich in bräunlicher Farbe abgedruckt wurden.

Das Werk stützt sich auf 14 namentlich erwähnte Bücher, die im Anhang als Quellen erwähnt werden: die Tatsachen von P.J. Müller, das Goldene Buch des Widerstands, Schriften von Raths, Dostert, Paul Weber, Paul Cerf, Georges Heisbourg, Emile Haag, Marie Bastian, Charlotte Michaux, Marie-Louise Erasmy. In den Fußnoten werden auch andere Autoren erwähnt. Der Unterzeichnete sogar dreimal, aber dreimal falsch. Nicht berücksichtigt wurden Henri Koch-Kent, Evy Friedrich, Emile Krier, Marcel Engel, Aimé Knepper, Gilbert Trausch, Denis Scuto, Serge Hoffmann, Lucien Blau, Benoît Majerus.

Die Chronik beginnt am Abend des 9. Mai 1940 mit einem Dîner in der französischen Gesandtschaft. Dann klingelt um 2.30 Uhr beim amerikanischen Diplomaten Platt Waller das Telefon, und gegen 5 Uhr beginnt der Einmarsch der deutschen Truppen. „Kurz zuvor haben die Großherzogin und ihre Familie mit der luxemburgischen Regierung das Land verlassen.“ Hier beginnt das Staunen. Will Raths damit sagen, dass die Großherzogin Reißaus genommen habe, ohne überhaupt den Einmarsch der Wehrmacht abzuwarten? Bisher wurde immer angenommen, sie habe im Zollhaus von Rodingen bis 8 Uhr abgewartet und das Land erst verlassen, als die ersten deutschen Soldaten am anderen Straßenende gesichtet wurden.

Am Mittwoch, den 10. Juli 1940, kommt wieder einmal der US-Botschafter zu Ehren: „Der amerikanische Geschäftsträger Platt Waller muss unser Land verlassen.“ Auf Seite 119 wird dann berichtet, dass bei der Springprozession des Jahres 1941 der amerikanische Geschäftsträger den größten Applaus erhielt. Wie war das möglich, wenn er elf Monate vorher das Land verlassen hatte? In Wirklichkeit wurde Waller erst am 10. Juli 1941 ausgewiesen. Die Verschiebung um ein Jahr ist nicht ohne Bedeutung. Wie hätte Waller sonst zwischen Luxem­burg und Lissabon vermitteln können, um die Großherzogin zur Rückkehr zu bewegen? Die USA waren im Jahre 1940 noch neutral und bemühten sich, ebenso wie der Vatikan, um einen Kompromissfrieden zwischen Deutschland und England.

Die Chronik endet am Freitag, den 21. Dezember 1945, als „General Patton, der tapfere Kriegsheld … tragischerweise bei einem Autounfall in Deutschland den Tod fand.“ Durch die Verlängerung der Kriegsereignisse um 7 Monate kann Raths sein Buch mit einem Bild des amerikanischen Soldatenfriedhofs in Hamm abschließen und der Historiker Dostert bekommt noch eine Gelegenheit, seine Story vom Gauleitertod unterzubringen.

Das Zwiegespann Raths-Dostert ergänzt sich nämlich ausgezeichnet. Raths schreibt mit buchhalterischer Strenge Ereignisse auf, die für die Nachgeborenen nicht unbedingt aufschlussreich sind: „Donnerstag, 30. Mai: 12 Mann versammeln sich beim ‚Holländer’, Montereyallee 1, unter Führung eines gewissen Frommes… Samstag, 29. Juni: 40 Mann versammeln sich im ‚Bürgerbräu’. Redner Dennemeyer…“ 

Wer sind diese Mannen? Wer kennt heute noch einen gewissen Frommes und diesen Dennemeyer? Was hat „der Holländer“ mit der Geschichte zu tun? Niemand sagt es uns. Wir müssen selbst herausfinden, dass es sich um die ersten Schritte zur Gründung der Volksdeutschen Bewegung handelt.

Anderes Beispiel: „Dienstag, 29. Februar: 19 Familien werden nach Trebnice umgesiedelt, Mittwoch, 1. März: sieben Familien werden nach Trebnice umgesiedelt. Donnerstag, 2 März: neun Familien werden nach Trebnice umgesiedelt ...“ 

So geht das Seiten und Seiten weiter, ohne dass man erfährt, wo Trebnice liegt und was dort den Umgesiedelten angetan wurde. Wie soll einem bei solchen Litaneien nicht der Geduldfaden reißen? Interessiert das heute noch jemanden? Die­se Frage hat sich der fleißige Commissaire à la Résistance wahrscheinlich nie gestellt. Er begnügte sich, Namen aus dem Goldenen Buch des Wider­standes abzuschreiben. Darf man sich die notwendige Erinnerungsarbeit so leicht machen?

Das Buch enthält Tausende von Namen. Wenn jeder, der seinen Namen oder den Namen eines Verwandten oder Bekannten im Buch findet, auch das Buch kauft, ist der Erfolg gesichert. Es könnte sogar für zukünftige Forscher ein wertvolles Instrumentarium sein, wenn die Autoren sich die Mühe gegeben hätten, dem Werk ein Personenregister hinzuzufügen.

Wenn man die Namen von Tausenden von Widerstandskämpfern aneinanderreiht, läuft man Gefahr, Na­men zu verstümmeln oder zu vergessen. Das wäre an sich nicht verurteilungswürdig, wenn das Vergessen nicht einseitig wäre. Raths kennt und liebt seine Letzebuerger Vollekslegioun über alles. Wenn ein Widerstandskämpfer einem anderen Widerstandskämpfer über den Weg läuft, weiß er gleich, welche Mitgliedkarte er in der Tasche trägt, wenn es sich um die LVL handelt. Auf 220 Seiten kommt 54 mal die LVL vor, andere Widerstandsgruppen führen im Vergleich ein Schattendasein.

Die Einseitigkeit findet man jedes Mal dann, wenn es sich um politische Persönlichkeiten handelt. Bei der Gründung der Resistenzgruppe LFB „im Hause Heyardt“ auf Seite 85 wird Hubert Glesener als „ihr oberster Chef“ genannt. Die LFB hatte weder untere, noch obere Chefs. Diese Pfadfindermentalität war diesen Widerstandskämpfern fremd. Die LFB wurde von drei Personen gegründet und geleitet, dem Liberalen Heyardt, dem Kommunisten Fonck und dem Christlichsozialen Glesener. Mit welchem Recht sprengt Raths diesen einmaligen Bund der Gleichberechtigten? Auf Seite 317 erfährt man, dass Glesener nach der Verhaftung des zweiten LPL-Chefs zum dritten LPL-Chef bestimmt worden sei. „Bekanntlich war Glesener bereits Chef der in seinem Elternhaus gegründeten ‚Letzebuerger Fräiheetsbewegung’ (LFB)…“ Bekanntlich? Oben hieß es noch, die LFB sei im Hause Heyardt gegründet worden.

Zum 9. September 1940 wird die Verhaftung der Hochwürden Origer und Esch vom Luxemburger Wort gewürdigt und im Sommer 1942 ihres Märtyrertods gedacht. Vom Kommunistenführer Zénon Bernard, der zur gleichen Zeit verhaftet und einige Monate früher als Esch und Origer umgebracht wurde, fehlt jede Spur. Eine ganze Seite wird dem späteren Gesandten Heisbourg zugestanden, der es fertig gebracht hatte, die Gestapo zu überzeugen, ihn in Frankreich studieren zu lassen. Dabei wird er zu einem „Georges Heusbourg“ ernannt. Der Selbstmord des Rechtspolitikers Philippe wird ausführlich kommentiert. Der Tod des sozialistischen Abgeordneten Weyrich und des liberalen Schriftstellers Frantz Clément ist Raths kein Wort wert. Die Priester-Verbannungen nach Pétain-Frankreich werden – ein Jahr zu früh, am 14. Juli 1940 – angekündigt, hätte der Autor nicht wenigstens ein Wort über den Leidensweg der Spanienkämpfer und der italienischen Antifaschisten verlieren können? Hans Adam findet vor Raths Gnade und wird posthum vom Makel des Deutschen befreit.

Der Widerstand der Luxemburger Kirche beginnt nach Raths am Freitag, den 26. Juli 1940: „In einer offiziellen Mitteilung des Bischofs von Luxemburg wird der Geistlichkeit des Landes mitgeteilt, dass auch weiterhin in den Gottesdiensten für den Frieden, die Heimat und die Großherzogin gebetet werden soll.“ Das war mutig, aber der Gauleiter war noch nicht im Land, und das Schicksal der Heimat war noch nicht entschieden. Am 16. August 1940 war ein ganz anderer Ton aus dem Bischofspalast zu hören: „Hochwürdiger Herr Dechant! Der Bischof von Luxem­burg lässt Sie bitten, noch vor Sonntag auf dem ihnen geeignet scheinenden Weg, an den Klerus ihres Dekanats nachstehenden Befehl der deutschen Polizei zu übermitteln: In der Kirche, sowohl in als nach dem Gottesdienst in Text und Melodie (auch Solo-Orgelspiel) sollen alle Lieder mit patriotischem Einschlag wie: Hémecht, Feierwôn, Wilhelmus u.d.gl. ausfallen. Im Sinne dieses Befehles wolle man das Domine salvam fac mit Oration sistieren. Das Gebet Unter deinem Schutze und Schirm mit den Invokationen soll ohne die vorgeschriebenen Einleitungsworte gebetet werden.“ Wenn man das eine sagt, darf man das andere verschweigen?

Freitag, 19. Juli 1940: „Die Luxemburger Abgeordnetenkammer votiert den Inhalt eines Schreibens, welches das Unabhängigkeitsstreben des Lan­des bestätigt und den Wunsch äußert, einer Kammerdelegation zu erlauben, mit der Großherzogin und der Regierung in Lissabon in Kontakt zu treten.“ Der Brief spricht nicht von Unabhängigkeit sondern von der „seitens der Reichsregierung gegebene[n] Zusicherung, dass die territoriale Integrität des Großherzogtums gewahrt werden wird.“ Das eigentliche Anliegen ist die Rückkehr der Großherzogin ins besetzte Luxemburg. „Die inzwischen gemachten offiziellen Feststellungen haben den schlüssigen Beweis gebracht, dass die Großherzogin niemals die Absicht hatte, das Land zu verlassen.“

Donnerstag, 1. August: „Auf Initiative von Parlamentspräsident Emil Reuter und Regierungskommissionspräsident Wehrer wird beschlossen, ein Schreiben an Hitler zu richten, in dem der Wunsch des Luxemburger Volkes nach Unabhängigkeit ausgedrückt.“ Was schrieben Reuter und Wehrer wirklich an Hitler? „An den Führer. Exzellenz, Im Hinblick auf die Neugestaltung der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Westeuropa, beehren sich die unterzeichneten Vertreter aller Kreise des luxemburger Volkes, dem einmütigen Wunsch der gesamten Bevölkerung des Großherzogtums auf Beibehaltung seines staatlichen Eigenlebens im Rahmen der neuen europäischen Ordnung hiermit zum Ausdruck zu bringen.“ Aus einem verzweifelten, illusionären Anbiederungsversuch wird ein Widerstandsakt konstruiert.

Zum Schluss bleibt uns nur noch Zeit, auf die eingangs erwähnte Gauleiterstory eingehen. Gustav Simon wurde am 11. Dezember 1945 von den Amerikanern in der Nähe von Paderborn unter einem Falschnamen mit Brille und Falschbart entdeckt. „Im Auftrag von Justizminister Bodson (andere behaupten: im Auftrag der ‚Union’) soll Jemp Michels in einem Auto der Arbed nach Paderborn gefahren sein, um dort den Gauleiter abzuholen; Michels sei begleitet gewesen von Frau Captain Muller und 3 Unteroffizieren der Armee. Auf dem Rückweg nach Luxemburg soll Simon gesagt haben, wenn er vor Gericht aussage, würden manche prominente Luxemburger dumme Gesichter machen. Daraufhin soll der Gauleiter von den Unteroffizieren misshandelt worden sein.“ Bei einer „Erfrischungspause im unteren Grünewald“ soll Simon dann umgebracht worden und im „Val“ (?) begraben worden sein. „Er sei aber dort wieder ausgegraben worden, um in einem Hochofen in Düdelingen oder Schifflingen verbrannt zu werden.“ Diesen Enthüllungen fügt Kommissar Raths folgende abschließende Bewertung hinzu: „In der Angelegenheit Gauleitertod besteht tatsächlich noch großer Aufklärungsbedarf.“ Wir belassen es bei dieser selbstkritischen Feststellung. Alles kann in diesem Buch nicht falsch sein.

Hier wurde ein Buch gedruckt, das durch die vielen Fehler und die Einseitigkeit wertlos ist. Schade für die Widerstandskämpfer, die darin erwähnt werden, und auch für jene, die vergessen wurden. Schade auch für die vielen Bäume, die geopfert werden mussten. Und Schade für den Autor, der es verdient hätte im hohen Alter in Ruhe gelassen zu werden.

Für uns stellt sich die Frage, wie es möglich ist, dass ein Ordnungsmensch wie Raths soviel Unordnung in seinen Notizen hat, dass er zwischen Wahrem und Unwahrem, zwischen Wichtigem und Unwichtigem nicht mehr zu unterscheiden vermag. Ist diese Mischung von Konformismus und Dilettantismus für Luxemburg beispielhaft? Und zu welchem Zweck haben wir einen Centre de Documentation et de Recherche sur la Résistance, wenn er weder Forschung noch Dokumentationsarbeit leistet und seinen Gründer so kläglich im Stich lässt?

Aloyse Raths: Années néfastes pour le Grand-Duché 1940-1945 – Unheilvolle Jahre für Luxemburg; LPPD / Éditions du Rappel; Druck: Imprimerie centrale, Januar 2009. Das Buch kann zum Preis von 35 Euro in der Villa Pauly gekauft werden oder durch Überweisung von 40 Euro auf das Postscheckkonto der LPPD : IBAN LU70 1111 0014 5702 0000.  

Henri Wehenkel
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