Raus, Michel; Vodaine: Wer nicht träumt, ist nicht wach

Von der Kunst des schönen Schreibens

d'Lëtzebuerger Land vom 27.04.2000

Der Maler und Graphiker Vodaine und der Schreiber und Kritiker Michel Raus haben sich ein Buch geleistet, das gängige Maßstäbe sprengt: Wer nicht träumt, ist nicht wach ist ein spätmittelalterliches Kunstwerk, ein Dokument sorgsamster Graphik, ein absolut unzeitgemäßes, verrücktes, weil hemmungslos schönes Buch. Vodaine hat an sein Traumbuch keine Maschine herangelassen, eine lächerlich kleine Edition gewählt, von hundert handsignierten und handgefalteten Büchern, und für dieses elitäre Kunsttreiben ausgerechnet einen der bekanntesten (das Wort "populär" würde ein Michel Raus mit der gebührenden Schärfe zurückweisen) Kritiker, Kolumnisten und Schriftsteller dieses von Büchern manchmal vollkommen überforderten Landes gewonnen.

Irgendwie spürt man schon beim Umblättern, wie die beiden älteren Herren sich bei der Konfektion ihres Kodexes amüsiert haben. So war es bestimmt, wenn in den Druckereien des Spätmittelalters der Meister krank war, und die Gesellen sich ausdrücklich amüsierten. Genussvoll haut der Schriftsteller die Aphorismen ins Sudelbuch, während der Maler sie mit sinnlicher Leidenschaft mit orangeroten Totems schmückt, die Lettern munter aufs Pergament drapiert, um sie dann mit physischer Kraft hineinzupressen, so dass sie auf der Rückseite wie zarte Schatten und Reminiszenzen sanft durchschimmern. 

Michel Raus als Aphoristiker, das ist bestimmt eine überraschende Entdeckung, denn wir kannten ihn bisher eher als geschickten Baumeister gewundener deutscher Erzählungen, sowie als durchtriebenen und explosiven "Réimejer" Chronisten. Ob er jetzt mit jedem seiner Geistesblitze einen Lichtenberg ins Schattental verweist, kann uns ja eigentlich egal sein, aber Ketzereien wie "Manche Menschen verwechseln ihre Bedürfnisse mit ihrem Bewusstsein" wollen erst mal gedacht werden. 

Autobiographisch inspiriert scheinen mir solche Sinnsprüche wie "Der Dichter trägt vor, das Publikum trägt nach", und sie  machen dem Kenner einheimischer Hoch-Publizistik mit Sicherheit viel Freude. Die andern Raus'schen Giftereien  behalte ich für mich, werde aber von Zeit zu Zeit eine aufs Internet setzen. Ein Glück, sage ich deshalb, dass es nur hundert Exemplare von diesem Kunstwerk gibt, so dass ich meine absolut unmoralische Freude über dieses Buch (das mir der Osterhase in den Briefkasten gelegt hat) nur mit 99 andern potentiellen Lesern teilen muss.

Hut ab, jedenfalls, vor diesem gelungenen doppelten Bubenstück zwischen Kunst und Literatur, dieser feingeschwungenen Provokation  für sämtliche Verlagskonzerne und Print-Medien-Marktführer, ob im Inland oder im Ausland. 

Wie könnte ich mir meine Dankbarkeit, dank Raus und Vodaine, zu den hundert schönstbebücherten Lesern dieses Landes zu zählen, anders von der Leber schreiben, als mit der Empfehlung an die andern 99, dieses elitäre, vollkommen abgefahrene und wahnsinnig teure Konglomerat sofort zu kaufen, ...und dann sofort zu recyceln, damit meine Urenkel eines Tages bei Sotheby's ganz tierisch absahnen können.

Michel Raus,Vodaine: Wer nicht träumt, ist nicht wach; in Baslieux (Lorraine) gedruckt, nur gute Seiten; signiert und numeriert von 1 bis 100; 3 000 Franken; zu beziehen bei Art et Livres; 4, rue de l'eau; L-1449 Luxemburg; oder durch Überweisen der Summe auf das Sparkassenkonto: 1006/2464-3

Jean-Michel Treinen
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