Reisdorff, Nico: Erziehung zum Wahnsinn

Atemlos

d'Lëtzebuerger Land vom 14.07.2001

Nico Reisdorff. Geboren am 16. Oktober 1958. Verurteilt am 8. Mai 1989 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Wegen Bankraub und -einbrüchen. Wegen Beihilfe zum Mord. Wegen Mordes.

Die Kindheit. Das Blei. Der Vater. Der Trinker. Die Schläge. Das Blut. In den Laken. Am Boden. Auf dem Tisch. Im Gesicht der Mutter. An den Händen. Im Glas. An der Tapete. Das Blut. Die Schreie. Die Drohungen. Die Flucht. Das Heim. Die Heime. Der Hieb. Die Hiebe. Die Prügelstrafe. Die Entwürdigung. Die Erniedrigung. Die Erziehung. Der Wahnsinn. Der Groll. Der Hass. Die Auflehnung. Der Leerlauf. Der Banküberfall. Das Untertauchen. Die Verhaftung. Die Entlassung. Das Untertauchen. Der Banküberfall.  Die Flucht. Die Hetzjagd. Das Unterholz. Die Banküberfälle. Das Untertauchen. Die Hinrichtung. Die Verhaftung. Der Transport. Die Mauern. Die Engsicht. Der Einschluss. Die Zelle. Die Einzelhaft. Drei Jahre. Die Zelle. Vier große Schritte. Oder sechs kleine Schritte. Das Verschweigen. Das Schweigen. Die Verstummung. Das Verharren. In der Innenrede. Das Abschütteln. Die Schrift. Das Schreiben. Die Widerrede. Die Biografie.

Erziehung zum Wahnsinn ist eine atemlos erzählte, aufwühlende Achterbahnfahrt zum Abgrund hin. Als Nico Reisdorff zum ersten Mal verhaltensauffällig wird, meint der vernehmende Beamte sorgenvoll: "Nico, ich habe da so ein Gefühl, dass wir mit dir noch viel Arbeit bekommen werden." Und der so Angesprochene fügt Jahre später noch mit halbgarer Ironie hinzu: "Der gute Mann sollte tatsächlich recht behalten. Einige Jahre später sollte ich einer der schlimmsten Verbrecher Luxemburgs werden."

Da klingt verhaltener Stolz mit, eine Art Berufsehre und -pathos, auch wenn er schreibt: "Heute muss man zu allem entschlossen, gut bewaffnet und ein kaltblütiger Profi sein." Oder wenn es heißt: "Wir waren uns also einig. Noch nie zuvor hatte man einen Filialleiter zu Hause überfallen, um so die Bank auszurauben. Es war dies etwas ganz Neues in der luxemburgischen Kriminalgeschichte (...) Nur ein wirklich zu allem entschlossener Gangster brachte solch ein Kunststück fertig."

Aber ebenso unüberhörbar ist die zornige Klage über die Verstrickungen, die ihn seinem eigenen Selbstverständnis nach sozial handlungsunfähig zurücklassen. "Anstatt zu verzeihen, wurde ich verprügelt. Ich tat nur das, was ich als Kind gelernt hatte. Ganz langsam setzte sich der Hass bei mir durch. (...) Ich wusste, ich war ein anderer Mensch geworden. Die Heime hatten die Basis zum Verbrecher gelegt, das Grundgefängnis die Weiterbildung zum gefühlsarmen, gefühlskalten Menschen, und dann dieses Loch mit dem belgischen System, das waren die fehlenden Prozente zum hundertprozentigen denkenden und handelnden Mörder. Die Antworten auf meine Fragen sollte ich mir später selbst geben. Ich würde mit meinen Freunden weitere Banken überfallen, das ganze Land in Atem halten und sogar Menschen ermorden. Feinde, Denunzianten, egal ob weiblich oder männlich, und sogar Freunde von mir. Ja, ich hatte mich verändert."

Etwa zwanzig Banküberfälle und sechs Morde gehen zu Lasten der "Waldbëlleger", wie Nico Reisdorffs Gruppe nach ihrer Verhaftung im Volksmund genannt wurde. Nach dem ersten Doppelmord schleppt sich der Autor ins Badezimmer, schaut minutenlang in den Spiegel. "So sieht also ein Mörder aus", presst er angeekelt hervor. Und er fährt fort: "Wer waren wir, dass wir handeln durften wie Gott? Und wie teuflisch aber musste erst das System gewesen sein, das aus uns die gemeinsten Mörder machte, die das Land je hervorgebracht hatte?"

Die "Waldbëlleger" waren Heimkinder. Und Prügelknaben. Wer in den Achtzigerjahren das zweifelhafte "Vergnügen" hatte, den Verhandlungen der Assisen-, später dann der Kriminalkammer beizuwohnen, musste mit Bestürzung den beunruhigend hohen Anteil von Heimkindern bei Gewaltverbrechen feststellen. Und mochte erschrecken über den dumpfen Hass, die innere Distanz der Täter zu ihrer Tat, die fast immer die Regel waren. Charakteristisch für den Hassenden aber ist seine Bereitschaft zur tätlichen, mitunter tödlichen Gewalt. 

So werden auch die Menschen, die in Erziehung zum Wahnsinn auftreten, weniger als Charaktere gezeichnet denn als Akteure vorgeführt. Hin- und hergerissen zwischen der Todessehnsucht eines Rainer Werner Fassbinder ("Besser ausbrennen als wegdämmern") und einer fast schon Schillerschen Vergötzung des heroischen "Freudig wie ein Held zum Siegen", sind sie alle Handelnde, nicht Reflektierende. Und von einigen wenigen sozialkritischen Rundumschlägen abgesehen, definieren sich N. Reisdorff und seine Mitbeteiligten  im wesentlichen durch den Rechtsbruch oder, in der anarchistischen Terminologie: durch die "direkte Aktion".

Bei Nico Reisdorff klingt das so: "Im Grundgefängnis hatten Jacques und ich unsere Zukunft vorausgeplant. Um als Knacki zu überleben, gab es nur noch den Kampf gegen diese Gesellschaft. Wie ich zu meiner größten Freude feststellen konnte, hatte Jacques den Kampf schon eröffnet. Es war sogar schon Blut geflossen. Unser eigenes Leid sollte die Gesellschaft jetzt zu spüren bekommen."

Zurück blieben bei diesem Amoklauf sechs Tote, dreizehn Verletzte, und eine Menge ungezähltes Leid bei den Opfern beiderseits des gesellschaftlichen Grabens. An den literarischen Qualitäten der Autobiografie von Nico Reisdorff dürfen Zweifel  geäußert werden. Aber dass das Buch geschrieben wurde, ist gut so und auch wichtig.

Gut für Nico Reisdorff, dass er sich seinen Hass und seine Verletzungen von der Seele schreiben durfte. Wichtig ist das Buch für all die "bien-pensants", Biedermänner und Ordnungsplebejer, die in ihrer Ignoranz mit einfachen Lösungen - Kleinbürgers feuchte Träume von der harten Hand - hausieren gehen. Damit sie verstehen lernen: Jede Gesellschaft hat die Kriminelle, die sie verdient. Nichts anderes muss Anatole France gemeint haben mit jenem herrlich-hämischen Satz über die vorbildlich-demokratische Gerechtigkeit einer Gesellschaft, die es Millionären und Bettlern gleichermaßen untersagt, Brot zu stehlen und unter der Brücke zu schlafen. Und zu rauben, und zu morden, versteht sich?

 

Nico Reisdorff: Erziehung zum Wahnsinn, Éditions Revue 2001, 454 S., 950 Franken

 

 

 

Jhos Levy
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