Der Justizminister will den Strafvollzug und die Resozialisierung verbessern. Vorreiter in Europa wird Luxemburg durch seine Strafvollzugsreform nicht

Überfällige Modernisierung

d'Lëtzebuerger Land du 14.10.2016

Im Frühjahr 2015 wolle er die Strafvollzugsreform vorlegen, hatte Justizminister Felix Braz am 24. Dezember 2014 angekündigt. Aber erst anderthalb Jahre später liegt sein 106-seitiger Entwurf wirklich vor. Erklärtes Hauptziel: die Chancen auf eine Resozialisierung nach einer Gefängnisstrafe zu erhöhen, den Strafvollzug zu modernisieren.

Die parlamentarischen Beratungen zur Reform haben noch nicht begonnen, bis die offiziellen Stellungnahmen von Justiz, Menschenrechtskommis-sion, Bewährungshilfe und Staatsrat vorliegen, wird es dauern (gegen den Entwurf von Braz’ Vorgänger hatte der Staatsrat 31 oppositions formelles erhoben). Doch schon jetzt scheint klar: Mit dieser Reform wird sich Luxemburg nicht an die Spitze der europäischen Strafvollzugsreformer setzen.

Und trotzdem wäre die Reform ein großer Fortschritt, gemessen daran, wofür der hiesige Strafvollzug seit vielen Jahren stand und teils noch steht. Alle Jahre wieder bemängeln Experten, ausländische wie das Antifolterkomitee des Europarates in Straßburg oder inländische wie der dem Ombudsman beigeordneten Service du contrôle externe des lieux privatifs de liberté (CELPL), mehr oder minder massive Verstöße gegen Menschenrechte in den hiesigen Haftanstalten. Einiges hat sich gebessert, aber vor allem die Strafvollzugsanstalt in Schrassig gibt regelmäßig Anlass zur Kritik. Dort sitzen weiterhin U-Häftlinge, bei denen die Unschuldsvermutung gilt, Seite an Seite mit verurteilten Straftätern. Mit dem Bau der Untersuchungs-Haftanstalt in Uerchterhaff bei Sassenheim, die 2022 in Betrieb genommen werden soll, soll dieser Missstand behoben werden.

Den Neubau hat die Regierung zum Anlass genommen, den Strafvollzug und die Aufgabenaufteilung neu zu ordnen: Künftig sollen Verdächtige, bei denen Flucht- oder Verdunklungsgefahr besteht, nach Uerchterhaff kommen. Verurteilte Straftäter müssten in Schrassig hinter Gitter und könnten, wenn sie die Bedingungen erfüllen, in den halboffenen Vollzug nach Givenich wechseln.Von dem Neubau erhofft sich der Justizminister wichtige Entlastungseffekte: Seit Jahren ist Schrassig, ursprünglich für maximal 590 Insassen konzipiert, mit mehr als 600 Personen voll respektive überbelegt. Im September kam es zu einer Meuterei, bei der Feuer gelegt wurde. In Zukunft soll es möglich sein, gefährliche Gewalttäter und notorische Unruhestifter besser zu trennen.

Mit der Reform würden sich zentrale Zuständigkeiten ändern: War der Strafvollzug bisher der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt, soll nun eine eigenständige Verwaltung gegründet werden, die für das zu schaffende Ausbildungsinstitut sowie den drei Haftanstalten zuständig wäre und dem Justizministerium unterstünde. Die Entscheidungskompetenz über bedingte Entlassung, Hafturlaub soll bei der Staatsanwaltschaft bleiben. Allerdings erhalten Gefangene durch die Schaffung einer neuen Gerichtsbarkeit, die Strafvollzugskammer, eine von der Staatsanwaltschaft unabhängige Einspruchsmöglichkeit.

Braz’ Vorgänger, der damalige CSV-Justizminister François Biltgen, hatte einen Schritt weitergehen, die bislang zuständige Exécution des peines auflösen und eine komplett neue Behörde schaffen wollen. Dagegen wehrte sich die Generalstaatsanwaltschaft vehement – mit Erfolg, wie sich nun zeigt. Ob der Hybrid auf Zustimmung beim Kontrolldienst CELPL und der Menschenrechtskommission stoßen wird, ist indes fraglich: Sie hatten die fehlende Trennung zwischen Strafverfolgungsbehörde und Strafvollzug in der Vergangenheit beanstandet.

Die undurchsichtige Praxis um Disziplinarstrafen, Haftverschärfungen und Sicherheitsmaßnahmen führt ebenfalls regelmäßig zu Beschwerden, durch die Insassen, aber auch seitens der Kontrolleure. Der Gesetzgeber soll auf die Kritiken insofern eingehen, als Strafen für Verstöße gegen die Haftordnung, besondere Haftbedingungen wie die Isolations- und Einzelhaft, oder Sicherheitsmaßnahmen wie der Körperdurchsuchung nun präziser geregelt werden. Das hatte der Straßburger Europarat in seinen 1973 erlassenen und 2006 erneut überarbeiteten Empfehlungen zum Freiheitsentzug gefordert.

Trotzdem fehlt ein Strafkatalog, aus dem präzise abzuleiten ist, auf welches Fehlverhalten welche Strafe steht. In Belgien hätten Leiter von Strafvollzugsanstalten keine guten Erfahrungen mit „übergenauen Auflistungen“ gemacht, sagt Vincent Theis, Leiter der Haftanstalt Schrassig und wichtiger Inputgeber der Reform. Ein „gewisse Flexibilität“ sei nötig, um auf Einzelfälle eingehen zu können. Serge Legil und Lynn Bertrand vom Kontrolldienst CELPL überzeugt das nicht: „Das Strafrecht nennt präzise Tatbestände und diesbezügliche Strafmaße. Warum sollte das nicht bei Disziplinarstrafen möglich sein?“ Die Kontrolleure wollen bald ihr Gutachten vorlegen.

Einer Regelung dürften sie mit Sicherheit widersprechen: In dem Artikel, der Bedingungen für die Einzelhaft regelt, heißt es, Schwangere und Minderjährige seien von der Einzelhaft ausgenommen, es sei denn, es sei in ihrem Interesse. Offenbar mag auch ein grüner Justizminister nicht mit der viel kritisierten Praxis, Minderjährige in Erwachsenenhaft einzusperren, brechen. Internationale Kinderrechtler, Menschenrechtskommission, Ombudsman, Antifolterkomitee und Kontrolldienst fordern dies seit vielen Jahren, aber die Jugendrichter ficht das nicht an.

Mit neuen Leitlinien und verbrieften Rechten, wie verbesserte Besuchsregelungen, freie Arztwahl, steigen die Voraussetzungen an das Vollzugspersonal. Künftig müssen Anwärter für den Vollzugsdienst wenigstens eine 3e vorweisen. Die Vollzugsbeamten sollen Weiterbildungen zu Menschenrechte erhalten, aber auch zum Umgang mit verschiedenen Problemgruppen. Den herkömmlichen Wärter, der lediglich die Zellentür auf- und abschließt und die Gefangenen zum Hofgang führt, soll durch den Vollzugsbeamten, der zusätzlich zur Sicherheit eine aktive Rolle in der Resozialisierung der Gefangenen übernimmt, ersetzt werden. Dahinter steht ein Strafvollzugsverständnis, das die gesellschaftliche Wiedereingliederung in den Mittelpunkt stellt, neben der Strafe und dem Schutz der Gesellschaft vor gefährlichen Straftätern, und versucht, Schäden durch die Haft so gering wie möglich zu halten.

Denn auch der/die schlimmste Täter/in hat irgendwann die Strafe abgesessen und es kommt der Tag, dass er/sie die Haft verlässt. Um Insassen auf ihr Leben nach der Haft vorzubereiten, sollen sie „freiwillig“ am Vollzugsplan mitwirken. Der Plan legt Betätigungen, Ausbildungsmaßnahmen, therapeutische und Freizeitmaßnahmen für den jeweiligen Insassen fest. Das kann eine Therapie für gewalttätige Straf- und Sexualtäter sein, eine Schul- oder Weiterausbildung, die Beteiligung an Werkstätten, eine Entgiftungskur oder eine Kombination von diesen Maßnahmen. Im Prinzip machen Psychologen und Erzieher des psychosozialen Diensts diese Bestandsaufnahme und Pläne heute schon (Frauen können wegen ihrer geringen Zahl, aus Sicherheitsgründen oder wegen Rollenklischees das Gros der Angebote nicht nutzen). Allerdings waren die Verfahren in Schrassig und in Givenich lange nicht aufeinander abgestimmt, sodass mitunter wertvolle Zeit verlorenging. Die Vernetzung der Unterstützungssysteme von psychosozialem Dienst, Suchthilfe, Bewährungshilfe, psychiatrischer Versorgung bei Persönlichkeitsstörungen und anderen psychischen Erkrankungen, sowie mit Wiedereingliederungsinitiativen außerhalb der Gefängnismauern ist die Achillesferse des Luxemburger Strafvollzugs, die Haft traditionell unter Sicherheitsaspekten organisiert hat und weniger aus dem Blickwinkel der Resozialisierung.

Wie wenig sich der Staat und die Politik in der Vergangenheit für einen funktionierenden, zeitgemäßen Strafvollzug eingesetzt haben, lässt sich daran ablesen, dass grundlegende Statistiken und Analysen seit Jahrzehnten fehlen. Daten zur Rückfallhäufigkeit, über Verurteilungen und Länge von Haftstrafen, zur Qualität, Untersuchungen zur Gefangenenpopulation, zur Drogenpolitik, zu wechselseitigen Wirkungsweisen von Strafgerichtsbarkeit, Strafvollzug und Bewährungshilfe sucht man vergeblich, dabei sollten sie bereits mit der 1997-er Reform kommen. Künftig soll die Strafvollzugsbehörde die Daten sammeln. Wenn das denn klappt. Viele Straftäter sind nicht zum ersten Mal im Gefängnis, Gefängnisleitung und Bewährungshilfe sind über die kriminelle, psychomedizinische Vorgeschichte der Insassen im Bilde, nicht aber Sozialarbeiter und Psychologen. Dabei ist eine gründliche Kenntnis des Gefangenen unerlässlich, um passende Unterstützungsangebote anzubieten. Der Austausch von persönlichen Daten soll deshalb künftig vereinfacht werden, um die Zusammenarbeit verbessern und die Hilfskette enger zu knüpfen. Nicht nachvollziehbar ist, der Kontrolldienst CELPL hatte dies angeregt, warum der Vollzugsplan erst ab regulären Haftantritt erstellt werdem soll, und nicht schon in der U-Haft. Strafvollzugsexperten wie der deutsche Soziologe Bernd Maelicke betonen, so früh wie möglich mit der Resozialisierung zu beginnen, damit sich keine gefährlichen Leerstellen ergeben; schließlich hat die Haft ihre ganz eigene Subkultur, die sich in der Regel negativ auf Verhaltensweisen auswirkt. Auch wenn Vincent Theis darauf hinweist: „Wir können das Pferd zur Tränke führen, trinken muss es selber.“

Die Nachbetreuung ist ebenso wichtig: Mindestens die Hälfte der Gefangenen, das zeigen Studien aus dem Ausland, wird nach der Freiheitsstrafe wieder rückfällig, das Gros in den ersten zwei Jahren. Entweder bekamen sie nicht die nötigen Therapie- und Ausbildungsangebote, sie fallen in alte Verhaltensmuster, Beziehungen zerbrechen, oder sie scheitern daran, eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu finden. Die Bewährungshilfe allein kann die Unterstützung nicht leisten, erst recht nicht, wenn ihr Personal und Ressourcen fehlen. Sie ist angewiesen auf Anschlussdienste wie die Offices sociaux, die Suchthilfe, die Psychiatrie, die Wohnungshilfe...

Von ihnen ist im Entwurf nur am Rande die Rede, Organisationen, die für die Wiedereingliederung von Straffälligen arbeiten, waren nicht in die Beratungen einbezogen. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Resozialisierung nach wie vor von der Haftanstalt und der Justiz aus gedacht wird und zu wenig von der Sozialhilfe. Dabei sind ambulante Lösungen meistens kostengünstiger als stationäre: Die Ausgaben für die neue Strafvollzugsbehörde und das Personal in Uerchterhaff sollen sich auf rund 14,4 Millionen Euro belaufen, für die neue Gerichtsbarkeit und die Beschwerdeprozedur auf rund 139 000 Euro. Bleibt die Frage, ob angesichts der vielen Gesetzentwürfe, die sich beim Parlament stauen, die politische Rechnung des Justizministers aufgeht, seinen Entwurf noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden.

Ines Kurschat
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