Die Zeichen stehen günstig für eine Reform des Jugendschutzes, die internationalen Kinderrechtsstandards genügt

Zweiter Anlauf

d'Lëtzebuerger Land vom 24.05.2019

Es sei ein „gesellschaftliches Thema“, darauf bestehe er, unterstrich Charles Margue, Grünen-Abgeordneter und Präsident des Justizausschusses am Montag im Justizpalast. Mit ihm am Tisch hatten sich Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Jugendgerichte, der Rechtsanwaltskammer, des Ombudskomitees für Kinderrechte, der Menschenrechtskommission, des Contrôle externe des lieux privatifs de liberté (CELPL), der Justizminister versammelt. Abgesehen von den direkt Betroffenen, den Minderjährigen und ihren Eltern, waren alle Akteure präsent, um über die umstrittene Reform des Jugendschutzgesetzes zu sprechen. Die Runde bildete den Abschluss eines zweimonatigen Konferenzzyklusses, den der Fachverband für Sozialarbeit, Ances, gemeinsam mit der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Luxemburg organisiert und moderiert hatte – aber zugleich auch einen Auftakt.

War es ein geschicktes Händchen der Organisatoren oder einfach glückliches Timing; mit der Konferenzreihe kam die politische Wende in einem Streit, der fast drei Jahrzehnte andauert oder, wie es Justizminister Félix Braz zusammenfasste, einer „Karikatur“ von Debatte. Ein Schlüsselmoment dürfte der Beitrag der ersten Gastrednerin gewesen sein. Ances und uni.lu hatten die Präsidentin des Kinderrechtskomitees der Vereinten Nationen, Renate Winter, nach Luxemburg eingeladen. Sie traf Kinderrechtler, Abgeordnete, Staatsanwaltschaft sowie den Justizminister. Zeugen der Unterredungen berichteten anschließend vom „Charisma“ und „kinderrechtsbasierten Argumenten“, die die ehemalige Richterin mit Nachdruck vorgetragen habe. Am Abend tat sie dies in den RTL-Nachrichten zur besten Sendezeit und kritisierte den Reformtext vom April 2018 als „noch nicht verwendbar“, insbesondere die Unterbringung von Minderjährigen im Erwachsenengefängnis sei „nicht tragbar“ und „mit internationalen Kinderrechtsverpflichtungen“ unvereinbar. Winter mahnte die klare Trennung von Schutzmaßnahmen und Strafen an. Am nächsten Morgen, ebenfalls auf RTL, kündigte Minister Braz an, sein Entwurf zu überarbeiten und künftig keine Minderjährigen nach Schrassig zu lassen.

Tatsächlich waren es mehrere Faktoren, die zu dem Umschwung beigetragen haben. Gegen den Entwurf des Justizministers, der in über 15 Sitzungen mit einer Arbeitsgruppe aus Richtern, Staatsanwälten, Kinderrechtlern diskutiert wurde, dann aber vom Médiateur, ORK und Menschenrechtskommission kritisiert wurde, hatte der Staatsrat Ende Januar mehr als 20 formelle Einwände erhoben. Besonderer Dorn im Auge neben der Möglichkeit, minderjährige Straftäter in Ausnahmefällen weiterhin in Erwachsenenhaft einsperren zu können: unpräzise und inkohärente Begrifflichkeiten, die der Rechtssicherheit abträglich seien, keine klare Abgrenzung zwischen Straf- und Schutzmaßnahmen sowie fehlende beziehungsweise unzulängliche Verfahrensgarantien für Minderjährige (und deren Eltern), die von der Familie getrennt und in ein Heim eingewiesen respektive ins Gefängnis gesperrt werden. Ins gleiche Horn sollte wenig später die UN-Beauftragte Renate Winter stoßen. Die ungemütliche Aussicht, vom Genfer Kinderrechtskomitee im Falle einer halbherzigen schwachen Reform nächstes Jahr, wenn Luxemburg seinen Länderbericht zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention vorlegen muss, wiederum auf der Weltbühne gerüffelt zu werden, hat wohl ebenfalls Eindruck hinterlassen.

Mit der Wiederwahl der blau-rot-grünen Koalition waren die Weichen für den alten und neuen Grünen-Justizminister gestellt, seine Reformpläne beim Jugendschutz voranzubringen. Mit Parteikollege Charles Margue kam ein neuer Präsident der Justizkommission (Vorgängerin Viviane Loschetter war zu den Wahlen nicht mehr angetreten) – und er geht die Sache beherzt an. Kurz nach Amtsantritt gab Margue zu verstehen, dass er das Staatsratsgutachten genau studieren werde. Auf der Konferenz hielt er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg: Er sei „perplex und verwundert“ gewesen, einen Text vorzufinden, der internationalen Kinderrechtsstandards nicht standhalte. Margues Ambition ist, dies zu ändern und den Luxemburger Jugendschutz so zu modernisieren, dass er sich international herzeigen lassen kann, sowie dessen Akteure stärker in die internationale Fachdebatte einzubinden. Der Grüne plädiert für eine verpflichtende Fortbildung für Jugendrichter und -staatsanwälte, (noch) etwas, das der Kinderrechtsbeauftragte seit Jahren fordert, aber bisher nicht durchsetzen konnte.

Der Zeitpunkt für die Konferenzreihe, die ursprünglich im Herbst hatte stattfinden sollen, konnte nicht günstiger liegen: Die geladenen europäischen Jugendstrafrechtsexperten führten den Parlamentsvertretern und jedem, der es hören wollte, vor, wie sehr sich Rechtslage und Rechtsprechung in Europa im Umgang mit in Not und mit dem Gesetz in Konflikt geratenen Kindern und Jugendlichen seit der Unterzeichnung der Kinderrechtskonvention von 1989 weiterentwickelt haben. Die Schweiz, die Niederlande, Deutschland, Frankreich, Irland – sie alle haben ihre Jugendstraf- und Kinderhilfegesetze überarbeitet. Auch in Belgien wurde das Jugendschutzgesetz von 1965 (das als Vorlage für den Luxemburger Jugendschutz von 1992 diente) seitdem mehrfach von Grund auf reformiert.

In Luxemburg blieb die Rechtsbasis für Kinder in Not und ihre Eltern seit 1992 unverändert, obwohl bereits wenige Jahre später ersichtlich war, dass das Gesetz nicht zeitgemäß war und Luxemburg 1994 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert hatte. Ein parlamentarischer Sonderausschuss sollte Anfang 2000 eine Reform vorbereiten, doch dieselben Akteure, die sich heute mit einem konstruktiv-sachlichen Dialog schwertun, konnten sich schon damals auf keinen Konsens verständigen. Der traditionelle Graben zwischen Justiz auf der einen Seite und Sozialsektor/ Kinderrechtler auf der anderen vertiefte sich nur.

Auch die Politik (Familien- und Justizministerium waren fest in der Hand der CSV) nutzte die Zeit nicht. Obwohl so lange über die Reform gerungen wird, fehlt bis heute eine wissenschaftliche Analyse über die Wirkungsweisen des Jugendschutzes und der angegliederten Hilfen. Auch die Brazsche Reformvorlage ist nicht mit Daten untermauert. Etwas, das der Minister versprach, in Zukunft durch ein begleitendes Monitoring zu ändern. Erste Gespräche mit der Uni Luxemburg fanden dazu statt. 2007 startete der einstige Regierungsberater des Familienministeriums und CSV-Abgeordnete Mill Majerus einen neuen Versuch: mit einem Kinderhilfegesetz, das die ambulanten und stationären Hilfen für Familien in Not neu strukturierte, sollte die déjudiciarisation vorangetrieben werden. Weil aber im Text festgehalten wurde, dass bei Gefährdungen des Kindeswohls die Jugendgerichtsbarkeit alleinige Zuständigkeit behält, kam es nie zur gewünschten Trendwende, was sich an den gerichtlich verordneten Heimeinweisungen ablesen lässt: Ihr Anteil ist mit 85 Prozent zuletzt wieder gestiegen.

Ob die Reform die Dominanz gerichtlicher Heimeinweisungen zurückdrängen wird, ist unsicher, solange nicht auch die Zusammenarbeit zwischen Kinderhilfe und Jugendschutz überdacht wird. Das merkt auch der Staatsrat in seinem Gutachten an. Braz äußerte sich auf der Konferenz dazu am Rande, indem er die gute Zusammenarbeit mit dem zuständigen Erziehungsministerium betonte. Die Frage der politischen und gesetzlichen Zuständigkeiten stellt sich spätestens dann erneut, wenn die geschlossene Unisec, die derzeit von der Heimleitung in Dreiborn mitverantwortet wird, dauerhaft jugendliche Intensivtäter und heranwachsende Straftäter aufnehmen soll.

Eine Option, die Félix Braz bereits bei den Beratungen im Ministerium ins Spiel brachte, ist eine dritte geschlossene Anstalt für diese Tätergruppen. Entsprechend wichtig war es dem Minister, auf der Konferenz hier einen Konsens festzuhalten. Seine Idee sei heute akzeptiert, meinte er. Ob das stimmt, ob der Konsens hält und wie viele Brücken dauerhaft gebaut wurden, ist indes nicht sicher. Das wird sich zeigen, wenn die Änderungen zum Entwurf vorliegen – und die Akteure erneut Gelegenheit bekommen, Stellung zu beziehen und Farbe zu bekennen. Er habe „keinen in seinen Ambitionen gebremst“, so der Minister an die Anwesenden. Es ist unklar, ob wirklich jeder die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen will, aus einem wegen Verstöße gegen Kinderrechte international getadeltem Schüler den Klassenbesten in Sachen Kinderrechte zu machen. Aufmerksamen Beobachtern ist nicht entgangen, dass neben Meinungsdivergenzen Vorwürfe, ja Ressentiments zwischen den Akteuren fortbestehen. Die Justiz sei „kinderfreundlich“, betonte der beigeordnete Staatsanwalt im Bezirk Luxemburg, David Lentz, und führte dafür folgende Zahlen ins Feld: Von 1 100 neu gemeldeten Jugendschutz-Fällen landeten rund 40 vorm Jugendgericht. Und dort würde Missetätern meistens nur „der Kopf gewaschen“. Die Staatsanwaltschaft werde von den Medien „diabolisiert“. Ähnlich sieht das die Jugendrichterin Béatrice Kieffer, der zufolge Gerichte immer probierten, Kinder so weit möglich in ihren Familien zu belassen.

Aber niemand hat je behauptet, dass es in Rechtsprechung und Rechtspraxis keinerlei Entwicklung gibt; der Kinderanwalt wurde eingeführt, die ambulanten Hilfen wurden ausgebaut. Was das Jugendschutzgesetz angeht, sind Fortschritte in der Praxis dort jedoch nicht rechtlich verankert. Dass 2018 nach offiziellen Angaben ein Jugendlicher, für eine Nacht, im Erwachsenenvollzug untergebacht war, ist Ergebnis einer Selbstverpflichtung seit Februar 2018. Sie kam, nachdem die öffentliche Empörung über die im Entwurf offen gehaltene Hintertür ins Erwachsenengefängnis hochkochte. Justizvertreter betonen, notorische Schulschwänzer und Ausbüchser würden nicht in Schrassig eingesperrt. Im Gutachten zum ersten Entwurf fordern sie die Unterbringung dieser Gruppe in die geschlossene Unisec – zu deren Schutz; und für renitente Störer ein Time-out hinter Gittern. Obschon Studien nahelegen, dass der kurze Schock seinen Zweck verfehlt und kaum zur Läuterung führt. Dasselbe Justiz-Gutachten erwähnt die UN-Kinderrechtskonvention übrigens mit keinem Wort und nur indirekt (beim Recht auf Anhörung), nennt aber mehrere Gründe, warum Verfahrensgarantien wie geregelte Fristen schwer zu praktizieren oder sogar unnötig seien.

Die von der Staatsanwaltschaft angeführten Fälle, die vorm Jugendgericht landen, sagen zudem nichts darüber aus, wie kindgerecht oder kinderfreundlich sonst angeordnete Erziehungs- und Strafmaßnahmen sind und wie die Addressaten sie empfinden. Als in Deutschland nach langer Kontroverse 2013 der Warnschussarrest im Jugendstrafrecht eingeführt wurde, wurden Jugendliche dazu befragt. In Luxemburg fehlen solche Studien, von den Interviews der Kontrolleure des CELPL abgesehen. Eine verzerrte Wahrnehmung der Arbeit der Justiz zu korrigieren, haben die Behörden selbst in der Hand: Würden systematisch verlässliche Statistiken über Dauer, Grund und Häufigkeit von verhängten Erziehungs- und Strafmaßnahmen, sowie Analysen zu Täterprofil und Rückfälligkeiten (anonymisiert) publiziert, könnte sich die Öffentlichkeit ein besseres und verlässlicheres Bild von den Herausforderungen für Jugendstaatsanwaltschaft und -gerichte machen.

Ines Kurschat
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