Bildungskongress in Bregenz

Abschied vom Gleichschritt

d'Lëtzebuerger Land vom 09.10.2008

„Die Stimmung ist wirklich beeindruckend“, sagt Claude Sevenig anerkennend. Die Mitarbeiterin des Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (Script) im Unterrichtsministerium ist eine von sieben Luxemburgern, die am vergangenen Wochenende in Bregenz zu einem Bildungskongress der anderen Art kamen. 1 400 Lehrer, Schulleiter, Architekten und Ministeriale aus Deutschland, Luxemburg, Österreich und der Schweiz waren ins schöne Dreiländereck am Bodensee gereist, um vier Tage lang Vorträge zu hören und Workshops zu besuchen. Sie kamen von überall her, doch eine Idee eint sie alle: Sie wollen Bewegung in die von Frontalunterricht und Leistungsdruck geprägte eintönige Bildungslandschaft bringen. 

„Nicht jammern, sondern zeigen, wie Schule gelingen kann“, bringt Reinhard Kahl das Kongressziel auf den Punkt. Über tausend Bildungserneuerer, die sich über ideologische Differenzen hinweg zu einem Netzwerk zusammenschließen – das hat es noch nicht gegeben. Entfacht hat das reformpädagogische  Feuer vor allem der Journalist Kahl. Es war sein Dokumentarfilm Treibhäuser der Zukunft, der den Anstoß für die Gründung des Netzwerks Archivs der Zukunft lieferte. Statt immer gleiche nörglerische Analysen darüber zu schreiben, was in der deutschen Bildungspolitik alles schief läuft, wollte der Hamburger eine andere, ermutigende Wirklichkeit filmisch einfangen: Lehrer, die Schulen umgekrempelt oder neu gegründet haben, in denen Lernen Spaß macht – und zum Erfolg führt. 

Was Kahl bei seinen Recherchen fand und in seinem Film liebevoll porträtiert hat, zählen Bildungsexpertem inzwischen zur Crème de la crème der deutschen Schulerneuerer: Die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, in der Jugendliche in Jahrgangsgruppen lernen, erzielte mit mehrwöchiger Projektarbeit bei nur einem Drittel des üblichen Fachunterrichts und mit viel Theaterspiel herausragende Pisa-Ergebnisse. Möglich sei das, „weil wir nicht bei alles und jedem um Erlaubnis gefragt haben“, lacht Enja Riegel, und weil es eine Schulleitung gebe, „die hinter der Idee und den Lehrern steht und ihnen den Rücken freihält“. 19 Jahre lang leitete Riegel die Gesamtschule gegen Zweifel und Widerstände von außen; in Bregenz macht die pensionierte Pädagogin anderen Mut, einen ähnlichen Neuanfang zu wagen. 

Auch die Bodenseeschule St. Martin in Friedrichshafen hat umgestellt. Ihr über Jahre entwickeltes Konzept sorgt unter Lehrern noch immer für Erstaunen, widerspricht es doch gängigen Überzeugungen und Unterrichtsmethoden. In der katholischen Haupt- und Grundschule begrüßen Lehrer ihre Schüler mit Handschlag – und lassen sie in konzentrierter Stille ein sorgsam ausgewähltes Thema bearbeiten. Der Fächerunterricht ist größtenteils abgeschafft, der Lehrer greift nur ein, wenn der Schüler eine Frage hat oder nicht mehr weiter weiß. Von Null-Bock und unmotivierten Schülern keine Spur, alle sind mit Leib und Seele dabei. Das Erfolgsgeheimnis? Schulleiter Alfred Hinz winkt ab: Das könne jede Schule machen, solange sie nur den Schulgong ausschalte und den „elenden 45-Minuten-Takt“ abschaffe.   

Es ist dieses Ärmel-hoch-Krempeln, dieser Wille zur Veränderung, der Kahl und sein Team so beeindruckt und den sie nach Kräften fördern, ja, feiern wollen. Dafür dürfen es ruhig ein paar salbungsvolle Worte mehr sein. Die Region der Bodenseeschule, von den Veranstaltern als Ausgangspunkt für das diesjährige zweite Treffen der Netzwerker gewählt, nennt Kahl nicht ohne Grund eine „erogene Bildungszone“: Rund um Bregenz befinden sich mehrere spannende Reformschulen, zu denen die Kongressteilnehmer in Bussen oder Schiffen gefahren wurden, um sich vor Ort ein Bild von der „anderen Schule“ zu machen. 

Dazu gehört beispielsweise auch die Primaria, eine kleine, aber feine private Grundschule im schweizerischen St. Gallen, die ganz ohne Noten und strenge Lernpläne auskommt. Statt Fachwissen wie bittere Medizin verabreicht zu bekommen, können die Schüler nach einer 45-minütigen angeleiteten Einführung eigene Schwerpunkte wählen. „Wir liefern die Themen und das Handwerkszeug, aber die Kinder bestimmen selbst, welche Aspekte sie vertiefen wollen“, betont Lernbegleiter Jens Oberbeck. Da dient die Geschichte des Ikarus als Impuls, um später Mini-Heißluftballons zu basteln oder in Flugexperimenten unter freien Himmel die Bedeutung von Thermik zu erforschen. Statt abstrakte Theorien zu pauken, lernen die Schüler am konkreten Beispiel. An die Stelle von Entmündigung und Belehrung treten Lernlust und kindlicher Forschergeist – den es immer schon gegeben hat, wie der Kölner Erziehungswissenschaftler Gerd Schäfer betont: „Ein Kind will vom frühesten Alter an lernen. Aber statt ihm Zeit und vorsichtige Anreize zu geben, belehren wir es.“ 

Verschiedenheit als Reichtum und individuelles Lernen als Garant für bessere Bildungschancen für alle – das ist der Konsens, der sich wie ein roter Faden durch die Bregenzer Vorträge, Workshops und Schulvisiten zog. Ob Moderator Reinhard Kahl, Schulgründerin Ulrike Kegler von der Potsdamer Montessori-Schule oder Hartmut von Hentig, Übervater der deutschen Reformpädagogik und Gründer der Bielefelder Laborschule, alle schwören sie auf den in­di­vi­dualisierten Unterricht. Die wissenschaftlichen Argumente für eine Schule, die Kindern ihren Lern-Rhythmus lässt, lieferte ihnen Kinderarzt Remo Largo. Was Mütter und Väter täglich erleben und im Grunde jeder weiß, hat er in einer Langzeitstudie akribisch nachgewiesen: Kein Kind gleicht dem anderen. Selbst wenn sie gleichaltrig sind, wachsen sie unterschiedlich schnell, lernen mal früher, mal später sprechen. Die einen sind Meister, wenn es darum geht, bunte Holzklötze zu stapeln, die anderen begeistern sich für Strichmännchen. Bis zu fünf Jahre kann der Entwicklungsunterschied bei gesunden Gleichaltrigen betragen.Wie aber mit der enormen Heterogenität umgehen? Das ist die zentrale Frage, der sich Schulen heutzutage stellen müssen. Auch ohne Mehrsprachigkeit oder 40 Prozent Einwandererkinder. Viele ignorieren die Herausforderung hartnäckig und setzen ihren Schülern unbeirrt einen Einheitsbrei vor, ordnen sie pseudo-homogenen Leistungsgruppen zu, obwohl dies pädagogisch kontraproduktiv ist und für die Persönlichkeitsentwicklung sogar schädlich sein kann. Lernen im Gleichschritt bedeutet für ein Kind, das sich langsamer oder schneller entwickelt als seine Klassenkameraden, permanent unter- oder überfordert zu sein. Und das oft über Jahre. „Das ist der Albtraum. Das zerstört das Selbstwertgefühl völlig“, warnt Remo Largo unter tosendem Beifall. 

Zumindest in diesem Punkt dürften deutsche Schulerneuerer und die Luxemburger Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres übereinstimmen, denn auch sie hat den individualisierten Unterricht zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Schulreformen erkoren. Wohl deshalb fühlten sich die mitgereisten luxemburgischen Ministerialbeamten durch den Kongress bestärkt. Robi Brachmond, Mitarbeiter der Grundschulbateilung, war schon beim ersten Netzwerk-Treffen 2007 in Hamburg dabei – und angetan von der guten Energie. Die Aufbruchstimmung dort hat ihm fast noch besser gefallen; so etwas wünscht er sich auch für Luxemburg.Und ein bisschen gibt es sie ja auch hier: Initiativen, wie die neue Labor-Grundschule Eis Schoul, die Escher Ganztagsschule Jean-Jaurès oder das Neie Lycée, die ohne klassische Noten auskommen und sich wachsen­der Beliebtheit erfreuen, bezeugen, dass trotz aller Widrigkeiten allmählich Bewegung in die luxemburgische Schullandschaft kommt. Anders als im Ausland, wo knappe Ressourcen und auf Regeln pochende Behörden Schul­experimente oftmals ausbremsen oder behindern, werden die wenigen päda­gogischen Querdenker unterstützt. Die Modellschulen hat die sozialistische Ministerin mit angeschoben und das Parlament hat sie per Sondergesetz abgesegnet; die rigide Rechtslage setzt dem Gründergeist enge Grenzen. Da braucht es Mut und Durchsetzungskraft, um Neues auszuprobieren. Etwas einfacher könn­ten es werden, ist die geplante Grundschulreform erst einmal verabschiedet. Sie erlaubt Gemeinden und Schulen, stärker eigene inhaltliche Schwerpunkte zu setzen. 

Auch beim Vernetzen gibt es Starthilfe von oben. Im vom Script ins Leben gerufenen Netzwerk der Écoles en mouvement tauschen Pionier-Grundschulen Erfahrungen mit Teamarbeit, kompe­tenzorientierten Unterricht in Lernzyklen, Elternbeteiligung und alternativen Bewertungsmethoden aus. Ein Selbstversuch mit Aufforderungscharakter. Zudem wird das Ministerium demnächst einen Dokumentarfilm über Best practices vorstellen, in dem Grundschullehrer, Eltern und Schüler zu Wort kommen sollen und ihre Projekte erklären. Die Idee dazu haben sich die Macher von Reinhard Kahl abgeschaut. „Wir wollen zum Nachahmen anregen“, hofft Claude Sevenig vom Script. Und zeigen, wie erfolgreiches Lernen auch in Luxemburg gelingen kann.

Ines Kurschat
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