Bac International

Mein Bac, dein Bac

d'Lëtzebuerger Land vom 18.09.2008

Es ist einer der letzten Schultage vor den Sommerferien. Deutschlehrerin Netty Maas teilt die Klassenarbeiten aus. Für jede Schülerin und jeden Schüler findet sie ein Lob, aber sie gibt auch Anregungen, was besser gemacht werden könnte. „Du musst versuchen, weniger anspruchsvoll zu schreiben“, sagt sie einer Schülerin und fügt erklärend hinzu: Die Jugendliche habe tolle Ideen, sie müsse aber „ihr Deutsch noch festigen“, versucht sie den Schreibeifer in sicherere Bahnen zu lenken. 

Die Jungen und Mädchen der 3e CI des Limpertsberger Lycée technique du Centre (LTC) sind hoch motiviert. Sie wissen: Das ist ihre Chance. Mit einem Notendurchschnitt von 45 Punkten nach der 10e technique und nach erfolgreichem Abschluss eines Französischtests wurden sie zugelassen zu einer der ersten Vorbereitungsklassen für den Bac international (BI). Seit Februar dieses Jahres ist das LTC offizielle BI-Schule und gehört damit zu den über 2 000 Schulen in 125 Ländern weltweit, die den international anerkannten Abschluss anbieten dürfen. Das LTC ist Luxemburgs erste öffentliche BI-Schule, zuvor gab es das Angebot nur an den Privatschulen „International School“ auf dem Geesseknäppchen sowie (seit 2005) an der Waldorfschule. Auch das Athe­näum ist neuerdings BI-Schule, allerdings mit englischsprachigem Bac. 

„Wir haben lange nach einer Alternative gesucht“, sagt Netty Maas. Die stellvertretende Direktorin des LTC koordiniert das BI-Projekt. Unter ihren Kollegen gilt die 54-Jährige als engagierte Lehrerin, die sich seit Jahren für Jugendliche einsetzt, die es aufgrund ihrer Herkunft im hiesigen Schulsystem schwer haben. Während von den Schülern, die den Enseignement classique besuchen, 82,2 Prozent Luxemburger sind, sind es nur 6,2 Prozent Portugiesen – bei einem Bevölkerungsanteil von 20,9 Prozent. Sie und andere primo arrivants, deren Eltern sich die Gebühren einer Europaschule nicht leisten können, haben oft große Mühe, sich im dreisprachigen Luxemburger Regelschulsystem zurechtzufinden. Und selbst wenn ihre Kinder rasche Fortschritte im Französischen machen und gute Leistungen erzielen, scheitern viele an den hohen Deutschanforderungen.

An sie richtet sich das alternative Abitur. Viele Angebote für Nicht-Luxemburger wurden von den Lehrern des LTC entwickelt, zum Beispiel die Allet-Klassen (Allemand langue étrangère), in denen Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wird, oder die Tests, auf deren Grundlage ausländische Neuankömmlinge ab 12 Jahren verschiedenen Klassen und Schulstufen im Land zugeteilt werden. Trotzdem war lange Zeit für viele Schüler nach der 9e unfreiwillig Schluss. Wer mit geringen Deutschkenntnissen eine höhere Schullaufbahn einschlagen wollte, musste die Schule wechseln. Meistens hieß das Belgien oder Frankreich. „Wir schlagen die Schlagsahne, bis sie steif ist, die anderen machen dann Torten daraus“, beschreibt Maas die unbefriedigende Situation. Um die Abwanderung junger Talente zu verhindern, suchte sie vor etlichen Jahren schon mit ihren Kollegen nach Alternativen. „So stießen wir auf den Bac international“, erinnert sich Maas. 

In der sozialistischen Ministerin Mady Delvaux-Stehres und der Leiterin des Service de la scolarisation des enfants étrangers, Christiane Tonnar, fanden die Pioniere Unterstützung. Sorgen bereiteten eher die Kollegen – und die Öffentlichkeit. Eine Abiturklasse an einem technischen Lyzeum, würde das nicht Neid wecken? Was würden die Lehrer der klassischen Gymnasien dazu sagen? Tatsächlich warnten skeptische Stimmen sogleich, das neue Abitur brächte das herkömmliche Premierexamen in Gefahr, weil Schüler massenhaft versuchen würden, den Weg des leichteren BIs einzuschlagen. Nicht wenige der Kritiker kamen aus dem Athenäum – das heute selbst mit dem englischen BI wirbt. 

„Die Anforderungen sind sehr hoch.“ Da gibt es für Maas keinen Zweifel. Für das BI-Lehrprogramm, das die Genfer International Baccalaureat Organisation entwickelt hat, müssen die Schüler aus sechs Fachbereichen je drei Fächer von insgesamt 240 Stunden auf fortgeschrittenem Niveau und 150 Stunden auf Standardniveau wählen. Fünf Stunden Französisch und Englisch sind Pflicht; dazu kommen in unterschiedlicher Gewichtung Human- und Naturwissenschaften, Mathematik, Informatik und last, but not least Kunst. „Es ist ein ganzheitlicher Ansatz“, so Netty Maas, die sich wie ihre Kollegen mit Fortbildungen auf den BI-Stundenplan vorbereitet hat. Doch bevor das zweijährige Programm beginnen kann, werden die Schüler in Übergangsklassen auf die neuen Anforderungen wie autonomes Lernen vorbreitet.

Im November 2005 gab der Regierungsrat grünes Licht; sechs Monate später, nach einer langen Debatte, stimmte das Parlament dann zu. Eine kleine Revolution für ein Land, das seine Dreisprachigkeit komme, was wolle, hochhält und in dem jede Abweichung als Verrat an der eigenen Identität gesehen wird. Aus dem Blick gerät dabei, dass sich Luxemburgs Bevölkerung durch die starke Zuwanderung vor allem aus Portugal und den Kap-Verden in den vergangenen Jahrzehnten extrem gewandelt hat – ergo auch die Schulbevölkerung heterogener geworden ist.

Nikolina* ist eine typische Vertreterin dieser Schülergeneration. Die 18-Jährige kam mit ihren Eltern im Jahr 2003 aus Bosnien nach Diekirch. Wie die meisten primo arrivants besuchte sie dort zunächst eine classe d’accueil. Nach einem Umzug in die Hauptstadt und aufgrund exzellenter Leistungen in der 8e polyvalente und der 9e théorique empfahl sie sich für die BI-Vorbereitungsklasse. Größere Schwierigkeiten bereitet ihr eigentlich nur Deutsch; in Bosnien war Englisch ihre erste Fremdsprache, was ihr nun bei den Vorbereitungen auf das internationale Abi entgegenkommt. 

Dass Nikolina es so weit geschafft hat, verdankt sie ihren Lehrern – und ihrem Willen. Die Eltern unterstützen ihren Weg so gut sie können; wegen der komplexen Sprachsituation ist das aber nur bedingt möglich. Zuspruch und Hilfe bekommt Nikolina außerdem von ihren Mitschülern: „Wir halten zusammen“, beschreibt die Bosnierin das Wir-Gefühl der BI-Anwärter. Sollte sie das Abitur schaffen, möchte Nikolina Rechtswissenschaften studieren. 

Auch ihr Klassenkamerad Daniel* hat Großes vor. Der 18-jährige Portugiese lebte mit seiner allein erziehenden Mutter und seinen zwei Geschwistern zunächst in Metz, bevor die Familie für die Arbeit nach Luxemburg umzog. Für Daniel war das eine Umstellung. Mit dem neuen Fach Deutsch rutschte das sicher geglaubte Abitur in weite Ferne. Die Leistungen nahmen ab, Daniel blieb sitzen – um sich dann aber aufzurappeln. Jetzt lernt er fleißig, um eines Tages doch den begehrten Abschluss zu erhalten und studieren zu können. Vielleicht Chemie.

Die hohe Motivation und Disziplin der Klasse fällt Außenstehenden als erstes auf, wenn sie in die Klasse kommen. Die Jungen und Mädchen verstehen sich selbst zwar nicht als Elite, doch sie wissen ganz genau, dass das BI-Programm ihnen Türen öffnet, die im herkömmlichen deutschlastigen Schulsystem höchstwahrscheinlich geschlossen geblieben wären. Die wenigsten sind vom Glück verwöhnt. Ihre Mütter und Väter kamen nach Luxemburg, in der Hoffnung, hier eine Arbeit zu finden, andere flohen vor politischer Verfolgung. Als in der Vorgängerklasse ein Mädchen nach den Ferien nicht mehr auftauchte, appellierten Mitschüler und Lehrer gemeinsam in einem Brief an den Außenminister, sie die Schule beenden zu lassen. Vergeblich – die junge Frau wurde abgeschoben. Auch Nikolinas Aufenthaltsstatus ist nicht sicher. Derzeit schiebt das Außenministerium vorrangig Asylbewerber ohne Aufenthaltsgenehmigung ab, die nach 2004 ins Land gekommen sind. Nikolina und ihre Eltern kamen jedoch im Jahr 2003.

Flüchtlingskinder sucht man in der Waldorfschule vergebens; ihre Eltern könnten sich die Schulgebühren kaum leisten. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den BI-Schülern der öffentlichen und der Privatschule: Nicht wenige Waldorfschüler haben einen erfolglosen Parcours in der öffentlichen Schule hinter sich. Für sie ist den Bac international die letzte Möglichkeit, doch noch das Abitur in Luxemburg zu machen. Seit 2002 bietet die Waldorfschule den Bac international an, und zwar wie das LTC auf Französisch. Soeben wurde wieder ein erfolgreicher Jahrgang verabschiedet. „Der BI ist für uns perfekt, denn er schließt sich nahezu nahtlos an die Waldorfpädagogik an“, lobt BI-Koordinator und Waldorf-Lehrer Martin Schmit den alternativen Abschluss. In Waldorfschulen ist freies Lernen und Kreativität Programm. Früh üben sich die Mädchen und Jungen in Musik, Theater und Tanz, aber auch im freien Reden – was ihnen beim BI zugute kommt, denn dort müssen die Schüler Vorträge halten. Für die Privatschule ist der BI ein Riesenzugewinn, denn zuvor mussten Waldorfschüler zur Prüfung nach Deutschland.

Trotz intensiver Vorbereitung fieberten alle gespannt, als zum ersten Mal die Abiturbögen an die Genfer Zentrale geschickt wurden. Dort prüft eine unabhängige Expertenjury die Arbeiten. Würden die Luxemburger den Vergleich mit ihren französischen Kollegen bestehen, auch wenn sie Französisch nicht als Erstsprache haben? Inzwischen sind die Resultate da: Alle haben die Prüfung bestanden.Ben* war eh überzeugt, dass er es schaffen würde. „Das internationale Abi ist einfacher“, tönt der 22-Jährige selbstsicher. Heute. Nach wiederholtem Sitzenbleiben und als er drohte, auf der Kunstsektion seiner vorherigen Schule erneut durchzufallen, wechselte Ben an die Waldorfschule auf dem Limpertsberg, wo es endlich mit dem Abi klappen sollte. „Beim BI geht es in erster Linie darum, zu lernen, wie man sein Lernweg selbstständig organisiert“, betont Lehrer Schmit. Statt bloßes Wissen zu pauken, stehen Lernstrategien im Mittelpunkt. Wie sich diese am besten vermitteln und wie sich das Angebot der Wahlfächer erweitern ließe, würde Schmit am liebsten mit seinen Kollegen von der Regelschule absprechen: „Wir haben nicht immer die nötige kritische Masse, um ein Wahlfach anbieten zu können.“ Schmit plädiert für mehr Synergien zwischen den Luxemburger BI-Schulen. Eine prima Idee, die bisher aber kaum umgesetzt wird. Das Beamtenrecht lässt enge inhaltliche Kooperationen zwischen öffentlichen und privaten Schulen kaum zu. Aber vielleicht gilt dort, was lange Zeit für den Bac für Einwandererkinder zutraf: Was nicht ist, kann ja noch werden.

* Namen der Redaktion bekannt

Ines Kurschat
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