Physik-Nobelpreis 2016

Donuts liefern Erkenntnisse

d'Lëtzebuerger Land vom 21.10.2016

Die diesjährigen Gewinner des Physiknobelpreises, David J. Thouless, F. Duncan M. Haldane und J. Michael Kosterlitz, legten in den 1980er Jahren den theoretischen Grundstein für die Erforschung „topologischer Phasen“ und „topologischer Materiezustände“. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte erwies sich die Verwendung von Konzepten aus der Topologie als enorm fruchtbar für das Verständnis der Eigenschaften von Materialien. Das hat in letzter Zeit zu vielversprechenden Ideen für technologische Anwendungen geführt.

Die Topologie ist der Teilbereich der Mathematik, der sich mit der kontinuierlichen Verformung von Objekten beschäftigt. Betrachten wir als Beispiel die Verformung eines Luftballons. Normalerweise ist er kugelförmig, aber mit ein bisschen Vorsicht lässt er sich kontinuierlich um Beispiel in eine längliche Gestalt (einen Zylinder) oder in eine würfelartige Form bringen. In der Mathematik sagt man daher, dass Kugel, Würfel und Zylinder „topologisch“ identisch sind. Es gibt aber Formen, die sich nicht durch gleichmäßige Verformung erreichen lassen, ohne den Ballon zu zerstören: zum Beispiel die eines Donuts. Der entscheidende Unterschied ist, dass der Donut ein Loch hat, während die ursprüngliche Form, die Kugel, keine Löcher hat. Man kann also Objekte topologisch klassifizieren, indem man die Anzahl ihrer Löcher zählt, und diese Anzahl lässt sich nicht durch kontinuierliche Verformungen verändern.

Die diesjährigen Nobelpreisgewinner benutzten solche Konzepte aus der Topologie, um Phasenübergänge zu verstehen. In der Physik bezeichnen Phasen zum einen die Aggregatszustände von Materie. So haben viele Materialien abhängig von der Temperatur eine feste, flüssige, und gasförmige Phase. Zum anderen wird der Begriff der Phase in der Physik aber allgemeiner verwendet, um unterschiedliche Zustände zu beschreiben. So kann beispielsweise ein Stück Eisen magnetisiert oder nicht magnetisiert sein. In all diesen Fällen lassen sich Übergänge zwischen Phasen durch so genannte Ordnungsparameter charakterisieren. Um beispielsweise Phasenübergänge in Wasser zu bestimmen, ist die Dichte ein geeigneter Ordnungsparameter, da sie sich an den Übergängen fest-flüssig und flüssig-gasförmig sprunghaft ändert. Ein Ordnungsparameter für magnetische Phasenübergänge ist der Grad der Magnetisierung: Im nicht magnetisierten Zustand ist er Null und im magnetisierten Fall von Null verschieden.

Bis in die 1980-er Jahre ging man davon aus, dass solche Ordnungsparameter immer lokal sind, dass sie sich also durch räumlich begrenzte Messungen bestimmen lassen. Die Dichte des Wassers oder die Magnetisierung eines Stück Eisens sind solche lokalen Messgrößen. Mit ihrer Entdeckung der topologischen Phasen und Phasenübergänge haben die diesjährigen Preisträger gezeigt, dass diese Erwartung falsch war, und dass es globale, topologische Ordnungsparameter gibt.

Um das zu verstehen, kehren wir zu unserem Beispiel mit dem Luftballon zurück. Wenn wir nur einen kleinen Ausschnitt seiner Oberfläche betrachten, können wir nicht feststellen, ob er kugelförmig oder Donut-förmig ist. Das bedeutet, dass eine lokale Messung nicht ausreicht, um seine topologischen Eigenschaften zu bestimmen. Wir müssen das gesamte Objekt betrachten. Die Topologie eines Objektes ist daher eine globale, keine lokale, Eigenschaft.

Topologische Phasen bezeichnen Zustände von Materie, die sich durch solche globalen, topologischen Ordnungsparameter charakterisieren lassen. In diesem Fall sind die topologischen Größen aber etwas abstrakter, und es geht hier keineswegs um die äußere Form der Objekte. Vielmehr fanden die Preisträger heraus, dass sich elektronische Eigenschaften von gewissen physikalischen Systemen, zum Beispiel ihr elektrischer Widerstand, durch Konzepte aus der Topologie erklären lassen.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen lokalen und topologischen Ordnungsparametern sind die Werte, die diese annehmen können. Eine lokal messbare physikalische Größe wie etwa die Dichte oder die Magnetisierung lässt sich kontinuierlich verändern. Ein topologischer Ordnungsparameter wie die Anzahl der Löcher in einem Objekt hingegen ist immer eine ganze Zahl, weil es kein halbes Loch gaben kann. Eine kontinuierliche Änderung ist somit ausgeschlossen!

So eine exakte „Quantisierung“ ist in der Physik recht selten. Der elektrische Widerstand eines Drahtes zum Beispiel hängt normalerweise kontinuierlich von dessen Länge, Durchmesser und dem Material ab. In so genannten „Quanten-Hall-Systemen“ hingegen, für deren experimentelle Entdeckung es bereits 1985 einen Nobelpreis gab, ist der Widerstand, wie einer der diesjährigen Preisträger zeigte, durch einen topologischen Ordnungsparameter bestimmt und hat damit einen exakten Wert, der unabhängig von der Länge und anderen Materialparametern ist. Diese exakte Quantisierung führt dazu, dass mittlerweile die physikalische Einheit für Widerstand, das Ohm, über den Quanten-Hall-Effekt definiert ist. Topologische Phasen sind in zahlreichen weiteren physikalischen Systemen verantwortlich für eine exakte Quantisierung von Messgrößen.

Obwohl die Entdeckungen der Preisträger schon 30 Jahre zurückliegen, ist ihre Forschung gerade heute wieder hochaktuell. In den letzten zehn Jahren hat das Feld der topologischen Phasen, getrieben durch zahlreiche theoretische und experimentelle Entdeckungen, ein enormes Wachstum erfahren. Die Arbeiten von Thouless, Haldane und Kosterlitz ermöglichten es, die Eigenschaften von Materialen in unterschiedlichen Zuständen besser zu verstehen. Während immer noch starkes Interesse an den grundlegenden Eigenschaften topologischer Systeme besteht, rücken in den letzten Jahren verstärkt potentielle Anwendungen in greifbare Nähe:

Durch die zunehmende Miniaturisierung wird die Wärmeabgabe elektronischer Schaltkreise immer problematischer. Aktuelle Computerchips produzieren auf der Fläche eines Daumennagels so viel Wärme wie eine 100-Watt-Glühbirne! Gewisse topologische Materialien, die im Jahr 2007 entdeckt wurden, hingegen erlauben einen sehr geringen elektrischen Widerstand und damit eine geringere Wärmeentwicklung. So genannte „topologische Isolatoren“ könnten sich daher als Bausteine einer neuen Generation energiesparender Elektronik erweisen.

Eine weitere Anwendung besteht bei so genannten Quantencomputern. Diese können bestimmte Aufgaben sehr viel schneller erledigen als normale Computer, was zum Beispiel für die Simulation von neuartigen Materialien enorme Vorteile bieten würde. Quantencomputer stecken noch in den Kinderschuhen, aber bereits jetzt zeichnet sich ab, dass eine extrem gute Isolation von der Umgebung und sehr niedrige Temperaturen nötig sind, damit sie ihre quantenmechanischen Eigenschaften nicht verlieren. Auf topologischen Phasen basierende Quantencomputer sind robuster und könnten sich dadurch als vorteilhaft erweisen. Längst hat die Forschung an Quantencomputern den Elfenbeinturm der universitären Forschung verlassen, und Firmen wie Microsoft, Google, Intel und IBM gehören inzwischen zu den wichtigsten privaten Sponsoren dieser Forschung.

Nicht zuletzt sind die Entdeckungen der Preisträger auch von großer Wichtigkeit für die Forschung in der Physik an der Universität Luxemburg. Seit einigen Jahren bereits werden dort topologische Strukturen in Flüssigkristallen und magnetischen Systemen untersucht. Seit der Schaffung einer neuen, vom Fonds National de la Recherche geförderten Professur im Jahre 2015 ist die Erforschung topologischer Phasen auch hier einer der Forschungsschwerpunkte. Dabei stehen topologische Isolatoren und topologische Supraleiter als neue Materialklassen im Vordergrund. Neben den fundamentalen Eigenschaften dieser Materialien wird insbesondere auch erforscht, wie sie sich für elektronische Bauelemente und Sensoren einsetzen lassen.

Thomas Schmidt ist Physiker und Professor an der Universität Luxemburg.
Thomas Schmidt
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