Bologna-Deklaration im Hochschulwesen

Sozial ist übermorgen

d'Lëtzebuerger Land du 24.05.2007

(Fast) Alles im grünen Bereich. So liest sich Luxemburgs Bologna Scorecard, die Hochschulminister François Biltgen (CSV) und Regierungskommissar Germain Dondelinger amMittwoch stolz der Presse präsentierten. Die Karte zeigt an, wo Luxemburg im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarn bei der Umsetzung der Bologna-Deklaration steht. Sie war eine von mehrerenDiskussionsgrundlagen bei der fünften Folgekonferenz dereuropäischen Hochschulminister am 17. und 18. Mai in London.Das Bewertungssystem ist denkbar simpel: Dunkelgrün bedeutet sehr gut, Hellgrün gut, Gelb, wenn die gefragten Bologna-Kriterien nur teilweise umgesetzt wurden, bei Rot fehlten sie gänzlich. Von zwölf Themenfeldern leuchten zehn auf der Luxemburger Liste grün. 

Das Gesetz zum gestuften Dreier-Zyklus – Bachelor, Master, Doktorat – beispielsweise wurde 2005 verabschiedet, dieBewertung nach dem ECTS-Leistungspunktesystem (European Credit Transfer System), das die europaweite Vergleichbarkeit von Studienabschlüssen gewährleisten soll, ist im Hochschulbereich flächendeckend installiert. Ein international besetztes Expertensystem soll sich um die externe Qualitätssicherungkümmern.Dafür bekamLuxemburg jeweils die Bestnote: dunkelgrün.Nur bei der Einführung des nationalen Qualifikationsrahmens undder so genannten Diploma supplements hapert es laut Liste noch.

Der Qualifikationsrahmen sieht vor, bei der Ausbildung neben der Uni die Schnittpunkte zur Berufsausbildung und zum Lebenslangen Lernen zu berücksichtigen. Dazu werden die Qualifikationen im Hinblick auf Arbeitsbelastung, Lernergebnisse und Kompetenzen definiert – eine Arbeitsgruppe im Hochschulministeriumhatunlängst mit den Vorarbeiten begonnen. Dafür gibt es Orange.

Die Diploma Supplements sind eine Art ergänzende Textnote, diein standardisierter und europaweit lesbarer Form beschreibt, was derAbsolvent am Ende seines erfolgreichen Studiums kann. In Luxemburg wird sie in den nächsten Wochen bei den Masterstudiengängen eingeführt, im Juni 2008 soll es sie auch für die Bachelor-Studiengänge geben. Gelb. Bis zum Stichdatum 2010 wolle man „alle offenen Punkte umgesetzt haben“, sagte FrançoisBiltgen zuversichtlich.

Doch nicht alles, was grün leuchtet, wächst und gedeiht. Die Luxemburger Bilanz wurde, wie die der anderen 45 Bologna-Staaten, von der Bologna Follow-up-Group Stocktaking 2005- 2007 unter anderem auf der Grundlage eines Länderberichts* erstellt. Geschrieben hat den Bericht HochschulkommissarDondelinger – und damit die Regierung. Wer aber stellt sich schon gerne selbst schlechte Noten aus? 

Dass Luxemburg auf den ersten Blick so überzeugend abschneidet, liegt zum Teil an der Fragestellung. Abgefragt wurden hauptsächlich Formalkriterien. Doch die Wirklichkeit sieht oft anders aus, alsGesetze es vorschreiben und Politiker in Absichtserklärungen formulieren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, findet hierzulande eine öffentliche Diskussion über die Folgen eines einheitlichen europäischen Hochschulraums nicht statt. Wer sich jedoch auf dem Uni-Campus (beziehungsweise den dreien) umhört, bekommt dieselben Bedenken mitgeteilt, wie sie auch Hochschulrektoren und Studentenorganisationen im Auslandäußern. Einige Kritikpunkte tauchen in der Umfrage auf, die der akademische Uni-Vizerektor Jean-Paul Lehners vor wenigen Wochen unter den Dozenten startete und deren Ergebnisseim nächsten Monat mit Bologna-Experte David Crosier von derEuropäischen Hochschulvereinigung (EUA) diskutiert werden sollen. 

Gestuftes Studiensystem: Die Mehrheit (62,4 Prozent) der insgesamt 3 180 Studenten an der Uni Luxemburg besuchen mittlerweile Bachelor-Master-Studienprogramme. Die anderen rund 30 Prozent konzentrieren sich auf die alten polytechnischenStudiengänge, deren Auslaufen nur noch eine Frage der Zeit ist. Von einem Umstellungschaos, wie man es beim deutschen Nachbarnbeobachtet, blieb Luxemburg verschont – nicht zuletzt, weil sichdieUni erst im Aufbau befindet (d’Land vom 27. Mai 2005), Studiengänge neu entwickelt wurden beziehungsweisewerden. Zum diesjährigen Wintersemester starten zwei neue Master-Studiengänge: „Entrepreneurship and Innovation“ und„MA Multi-learn-Apprentissage et développement en contextes multilingues et multiculturels“. Damit steigt die Zahl der Master an der Uni Luxemburg auf 22, Bachelor-Studiengänge gibt es ebenfalls 22.

Da von den mehr als 60 Prozent Luxemburger, die im Ausland studieren, ein wesentlicher Anteil an deutschen Unis eingeschrieben ist und sie dort vielfach Studienfächer belegen, die nach dem alten System funktionieren, wird es noch einige Zeit dauern, bis Bachelor- oder Master- Absolventen in Luxemburg zur Regel werden.

Employability: Problematisch ist in diesem Kontext, dass niemand genau sagen kann, wie die neuen Abschlüsse von den Unternehmen angenommen werden. Eine erhöhte Employability, ein großes Schlagwort von Bologna, verlangt aber, dass sowohl Arbeitgeber wie Hochschulabsolventen wissen, was die jeweiligen Abschlüsse überhaupt wert sind. Diese Unklarheit hat dazu geführt, dass Studierende im Ausland reihenweise altbekannte Studiengängewählen. Da weiß man wenigstens, was man hat. Die Verwirrung wird noch größer, weil sich die Bachelor- und Master-Diplome aufteilen: So gibt den allgemeinen Master M1 und den spezialisierten Master M2. Der Bachelor professionnel ist auf den Einstieg in die Arbeitswelt zugeschnitten, der Bachelor académique richtet sich an angehende Forscher. Aufbaukurse soll es Spätentschlossenenermöglichen, nach dem Professionnel noch auf eine wissenschaftliche Laufbahn umzuschwenken. 

Laut Luxemburger Länderbericht  bestehen derartige Angebotebereits, doch uniintern ist zu hören, bislang gebe es diesbezüglich „noch keinerlei Erfahrungen“. Bei manchen stößt die Unterscheidung gar auf völlige Ablehnung. „Die Annahme, das nach drei Jahren die Wissenschaft kommt, ist absolut weltfremd, wissenschaftsfeindlich und töricht“, wetterte Rudolf Steinberg, Präsident der Frankfurter Goethe-Universität im Deutschlandradiogegen die berufsbezogenen Bachelors – und damit gegen ein Herzstück des einheitlichen europäischen Hochschulraums, diestärkere Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt und die Bedürfnisse derWirtschaft. 

Problematisch sieht es auch bei der Anerkennung von Bachelor-Diplomen durch die Luxemburger Verwaltungenaus. Es gibt Fälle, wo dreijährige Bachelor-Abschlüsse von denBeamten nicht als vollwertige Uni- Ausbildung anerkannt wurden, was dem Geist des Bologna-Zweistufen-Systems eigentlich zuwiderläuft. Die Folge für die Betroffenen: zum Teil erhebliche Lohneinbußen. In Luxemburg ist zudem die zentrale Entscheidung,wie der Zugang zum öffentlichen Dienst an die neuen Bedingungenim Hochschulbereich angepasst werden kann, auch nach mehrals zweijährigen Beratungen noch immer nicht gefallen. Bis Juli wollen die politischen Verantwortlichen dem Regierungsrat einen entsprechenden Text vorlegen, verspricht Biltgen. So lange aber stockt auch der universitäre Transformationsprozess, zumBeispiel der Lehrerausbildung.

Mobilität: Ein anderes großes Thema beim Londoner Gipfeltreffenwar die Mobilität. Die anwesende Europäische Studentenorganisation, vormals Esib, jetzt ESU, kritisiertein ihrer aktualisierten Studie Bologna with Student Eyes, Edition2007*, viele Staaten würden die Bologna-Reformen à la carte umsetzen, so, wie es ihnen gerade passt. „The Bologna Process is not a pick-andchoose supermarket, but a comprehensive package“, ärgert sich der Dachverband. Vor allem die soziale Dimension sei „still the most neglected action line at national level“. Bei der Mobilität seien nach wie vor finanzielle Hürden das häufigsteHindernis, woran reisewillige Studenten scheiterten. 

Nicht so in Luxemburg. Die Situation für Luxemburger Studenten sehe „viel besser aus“, so Frédéric Krier von der hiesigen Studentenvereinigung Unel. Das Gesetz zur Luxemburger Uni sieht den Auslandsaufenthalt beim Bachelor zwingend vor, ermöglichtwird er in der Regel durch übertragbare Darlehen und Kredite.Mit einer Einschränkung: Recht auf finanzielle Hilfe hat nur, wer inLuxemburg lebt und studiert, „bei den Mietpreisen nicht selbstverständlich“, betont Krier.

Dass die luxemburgische Mobilitätsbilanz nach anderthalb Jahren dennoch eher bescheiden ausfällt, liegt zum einen daran, dass viele Dozenten ihren Studenten empfehlen, erst ab dem vierten Semester ins Ausland zu gehen. Auch ist es offenbar nicht so einfach, passende Auslandsplätze zu finden. Im Sommer 2007 verlassen 84 Studenten Luxemburg für ein Auslandsstudium, 60 von ihnen innerhalb eines Erasmus-Austauschprogramms. Im Gegenzugkommen lediglich sieben Studenten nach Luxemburg. Vor wenigenTagen hat die Uni-Leitung ein bilaterales Abkommen mit denHochschulen in Nancy und Metz abgeschlossen, das den Austauschvon Studenten erleichternsoll. „Wir wünschen uns eigentlich, dass unsere Studenten über die Großregion hinaus studieren gehen“, sagt Nobert Ewen, Assistenzprofessor der Psychologie.

Die Mobilitätsanforderung bringt aber nicht nur Positives mit sich: Die Klage der Europäische Studentenvereinigung, Auslandsaufenthalte wirkten sich teilweise nachteilig auf den weiteren Studienverlauf aus, weil die spätere Eingliederung derRückkehrer Probleme bereite und die verknappte Zeit zu einer verschulteren Ausbildung führe, trifft offenbar auch auf Luxemburg zu. Noch wurden Auslandserfahrungen nicht systematisch ausgewertet, damit will die Uni laut Jean-Paul Lehners demnächst beginnen. Dozenten bestätigen aber Schwierigkeiten, zurückkehrende Studenten optimal aufzunehmen: Weil nicht jeder Kursus sowohl im Sommer- als auch im Wintersemester angeboten wird, drohen Wartezeiten. „Wir versuchen, solche Situationen so flexibel wie möglich zu lösen“, so Psychologie-Fachbereichsleiter Nobert Ewen. Auch hier zahlt sich die überschaubareGröße der Uni aus. Noch – denn mit wachsenden Studentenzahlendürfte es schwieriger werden, die entsprechende Betreuung zu garantieren.

Ewens Kollege Michel Pauly, Directeur d’études im FachEuropäische Kultur, Schwerpunkt Geschichte, warnt angesichts des engeren Zeitkorsetts vor einer Verschulung der Lehrinhalte: „Die Gefahr besteht ganz eindeutig.“ 

Soziale Dimension: Mit derMobilität eng zusammen hängt die soziale Dimension. Auslandsaufenthalte kosten Geld, und das ist nicht gleich verteilt. Insbesondere Studenten aus ärmeren osteuropäischen Ländern sind hier benachteiligt. Mobilitäthat aber noch eine andere Dimension: vor dem und innerhalbdes Studiums. Die Zulassung vom Bachelor zum Master-Studiengang etwa ist nicht überall gleich geregelt. Studentenorganisationen warnen daher vor neuen sozialenSchranken. In Luxemburg existieren bislang quantitative Quotenund Studiengebühren; bei seiner Bilanz-Pressekonferenz dachte Uni-Rektor Rolf Tarrach laut darüber nach, zusätzliche Beschränkungeneinzuführen, um potenzielle Studienabbrecher abzuschrecken – wasdie Unel prompt kritisierte. Ein ähnlicher Trend lässt sich im Ausland beobachten: In Frankreichs Conseil national de l’enseignement supérieur et de la recherche kursierenPläne, den Zugang zum Master deutlich zu beschränken. „Das stehtin offensichtlichem Widerspruch zum proklamierten Ziel der Chancengleichheit“, warnt Unel-Mitglied Frédéric Krier. Und Im Gegensatz dazu, dass wegen sinkender Geburtenzahlen der Bedarf an Hochqualifizierten weiter steigt – was Thema der von Luxemburg mitorganisierten sechsten Folgekonferenz der Bologna-Staaten am 29. April im belgischen Löwen sein wird.

Gerade den Studierenden wird im Zuge von Bologna und Exzellenz-Initiativen nach US-amerikanischem Vorbild immer mehr auferlegt: Studiengebühren, Numerus Clausus, Zulassungsexamen, Quoten – das klingt so gar nicht nach Chancengleichheit und möglichst breitem Zugang zu den Hochschulen. Jüngsten Berichte zufolge setzen deutsche Universitäten den unerwarteten Geldregen durch Studiengebühren statt für verbesserte Lehrangebote offenbarfür Heizungskosten und den Bau von Lehrsälen ein – konträr zum Gesetz. Damit hat die von Studentenorganisationen als Abkehr von der Chancengleichheit bekämpfte und von Politiker als Mittelzur Verbesserung der Studienqualität verteidigte Campus-Mautihre Daseinsberechtigung verspielt – wenn sie denn je eine hatte.

Luxemburgs Hochschul- und Arbeitsminister Biltgen versprach, aufdie soziale Dimension angesprochen, diese künftig verstärkt berücksichtigen zu wollen. Konkreter wurde der CSV-Politiker jedoch nicht. Eine ernsthafte Debatte über die sozialenFolgen der Hochschulreformen wird zusätzlich dadurch erschwert,dass bislang kaum brauchbares – und europaweit vergleichbares– Zahlenmaterial über die sozioökonomischen Bedingungenvon Europas Studierenden existiert. Immerhin soll sich das in den nächsten Jahren ändern. Dass acht Jahre nach Unterzeichnung der Bologna-Erklärung die Daten immer noch nicht vorliegen, beweist allerdings vor allem eines: Dass die soziale Perspektive, wie bei vielen europäischen Reformen, auch in diesem Bereich hinterhinkt.

Ines Kurschat
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