Europawahl

Der unberechenbare Souverän

d'Lëtzebuerger Land du 31.05.2019

Der Name der Partei tut nichts zur Sache. Der Ort war die deutsche Hauptstadt, die Zeit am vergangenen Sonntag, kurz nachdem Hochrechnungen die Gewinner und Verlierer der Europawahl aufgezeigt hatte. Der Politiker trat ans Mikrofon einer Wahlparty und sagte: „Der Wähler ist einfach zu dumm dazu, beurteilen zu können, was für eine großartige Politik man für ihn macht. Er versteht ja nicht einmal, wie Politik funktioniert. In Berlin wie in Brüssel.“ Anders könne er sich das Wahlergebnis nicht erklären, fügte er hinzu. Das Publikum war sprachlos. Und ging. Es war das Ergebnis der Wahl in einem Augenblick zusammengefasst. Unverständnis, Entfremdung, Hilflosigkeit auf beiden Seiten.

Das Ergebnis: Die Grünen haben die Wahl haushoch gewonnen, SPD und CDU sind abgeschmiert, die AfD konnte nicht in dem Ausmaße zulegen, wie sie selbst sich erhofft und erträumt hatte, FDP und Linke dümpeln hart am Rande der Nichtbeachtung und „Die Partei“ des Satirikers Martin Sonneborns konnte ihren Stimmenanteil mehr als verdoppeln.

Die Erklärung: Das Klima sei an allem schuld, befanden Sozial- und Christdemokraten. Urplötzlich wäre das Thema auf der politischen Agenda aufgetaucht, meinte etwa Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), da habe man nicht schnell genug Antworten parat gehabt. Dies ist nicht nur der unbeholfene Versuch des Schönredens, sondern auch der Anlauf, den Wahlgewinner wieder auf eine Öko-Wetter-Partei mit nur einem Thema zu reduzieren. Wobei Laschet richtig erkennt, dass die Grünen zum wichtigsten Konkurrenten der Konservativen geworden sind. Sie rekrutieren ihre Wählerinnen und Wähler im gleichen Milieu der Besserverdienenden, materiell Abgesicherten und Modernisierungsgewinner. Doch diesen bieten die Grünen ein völlig anderes politisches Modell, das aus einem völlig anderen Lebensgefühl herausresultiert: Die Grünen haben als einzige große Partei in Deutschland einen strikten pro-europäischen, zukunftsorientierten, inkludierenden Wahlkampf geführt. Das führte zu dem Ergebnis, nicht das Klima.

Hinzu kam, dass CDU und SPD mehr als einmal aus Überheblichkeit heraus patzten. Bei den Konservativen war es die Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die vergangene Woche unbeholfen auf ein Video des You-Tube-Protagonisten Rezo reagierte. Erst versuchte sie es wegzumoderieren und verächtlich zu machen, dann sprach sie sich dafür aus, „Regeln gegen Meinungsmache“ im Internet zu erlassen – wenn es die CDU betrifft. Bei den Sozialdemokraten haute Kevin Kühnert Ideen zur Enteignung raus und forderte einen demokratischen Sozialismus. Ja, Politik braucht durchaus ihre Visionen einer zukünftigen, gerechten Welt, die sich aber an den Bedürfnissen und Erfordernissen der heutigen Menschen orientieren müssen. Und: Eine Vision wird daran gemessen, ob sie realisierbar ist, welche Mittel und Ressourcen es dazu braucht. Hier kann der Wähler durchaus abschätzen, dass eine enteignete Wohnung keinen Quadratmeter mehr an Wohnfläche bringt und Unkenntnis von Internet-Medien aus der Jetztzeit katapultiert.

Die Reaktionen: SPD-Chefin Andrea Nahles tritt die Flucht nach vorne an. Schon kommende Woche möchte sie über den Fraktionsvorsitz im Bundestag abstimmen lassen, den sie – noch – innehat. Sie hofft, so ihre politischen Widersacher überrumpeln zu können. Doch eigentlich liefert sie damit nur die Blaupause des heutigen politischen Menschen der sich zunächst um seine persönliche Macht kümmert, denn um das Gemeinwohl. Die CDU begibt sich auf die altbekannte Position des Verharrens und Aussitzens. Die FDP wird erkennen, dass sich wohl nur mit schicken Schwarzweiß-Fotos ihres Vorsitzenden eine Wahl gewinnen lässt, nicht aber mit Farbaufnahmen der geschassten Generalsekretärin. Die AfD bereitet sich nun mit Verve auf die Landtagswahlen im Herbst des Jahres vor. Und die Grünen werden liefern müssen. Sie sind nun gefordert, den politischen Versprechen Taten folgen zu lassen und Politik zu machen. Die Linke hat den Status der Protestpartei an die AfD abgegeben.

Bleibt die Würdigung, ob eine Europawahl überhaupt ernst zu nehmen ist, wie es viele Redakteurinnen und Redakteure gerne beschreiben. Doch auch dies ist nichts anderes als eine Missachtung des Wählers als Souverän.

Martin Theobald
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